2023 neigt sich dem Ende zu, Ukraine– und Nahostkrieg erschüttern die Welt und Deutschland. Und doch jährte sich erst vor wenigen Wochen ein einschneidendes Ereignis der deutschen Geschichte zum 100. Male: der Hitler-Putsch am 8./9. November 1923. Der Putsch hat die Weimarer Republik in ihren Grundfesten erschüttert und den Weg vorgezeichnet, den Deutschland gerade einmal ein Jahrzehnt später gehen sollte.
Der Hitler-Putsch als Höhepunkt
1923 war ein richtungsweisendes Jahr, was die Vielzahl an historischen Publikationen belegt, die zu dem Thema veröffentlicht wurden. Darunter fällt auch Außer Kontrolle – Deutschland 1923 des bekannten Historikers Peter Longerich, das bereits im November 2022 im österreichischen Molden Verlag erschienen ist.
Ähnlich wie Peter Süß in seinem Buch legt auch Longerich den Fokus auf den Hitler-Putsch, auf den eine Reihe von Ereignissen und Entscheidungen hingeführt hat. Gerade die Radikalisierung der politischen Rechten hat nach seiner Lesart die Entwicklungen dieses schicksalhaften Jahrs beeinflusst.
Vom Vorraum zur Krise
Urkatastrophe – oder, wie er es in seinem ersten von acht Kapiteln nennt: der Vorraum der Krise – war die Ruhrbesetzung, womit er in die allgemeine historische Lesart der Ereignisse jenes Jahres einstimmt. Über den passiven und teils auch aktiven Widerstand im Zuge der Ruhrkrise, die Radikalisierung und das Aufflammen von Krisenherden in Bayern, Sachsen und Thüringen, die bis zur späteren Jahresmitte weiter Fahrt aufnehmende Hyperinflation führt Longerich uns durch die Geschehnisse des Jahres 1923.
Er fokussiert sich dabei besonders auf die politisch Verantwortlichen, vor allem die Regierung Cuno, der er ein vernichtendes Zeugnis ausstellt, aber auch der Regierung Stresemann, die so viele Probleme von ihrer Vorgängerin geerbt hat, darauf aber (trotz zwischenzeitlichem Bruch) unter den Gegebenheiten zumindest einigermaßen wirksame Lösungen findet.
Aufmerksamkeit, bitte
Longerich zieht hierfür eine Reihe von Quellen heran: Zeitzeugenberichte, Archivmaterial, literarische Zeugnisse oder einfach Fotografien, derer es sehr viele in dieses anschauliche Buch geschafft haben und was Außer Kontrolle auch von anderen Büchern über 1923 bereits auf den ersten Blick unterscheidet. Das heißt allerdings nicht, dass dieses Buch weniger Anspruch hätte als andere, ganz im Gegenteil. Die vielen Abbildungen erscheinen wohl kuratiert und veranschaulichen die im Detail geschilderten Ereignisse nur noch mehr.
Das nämlich fällt auf: Die historische Analyse ist – bei einem der bekanntesten und renommiertesten Historiker der Bundesrepublik wenig überraschend – überaus fundiert und zeigt die vielen Zusammenhänge der Ereignisse sehr deutlich. Was wir hier vor uns liegen haben, ist ein überaus informiertes und informierendes Buch über die Ereignisse des Jahres 1923, auf die an dieser Stelle gar nicht zu sehr eingegangen werden soll. Umgekehrt führt das aber auch zu einer sehr hohen Komplexität und erfordert ein überaus ausgeprägtes Maß an Aufmerksamkeit bei der Lektüre von Außer Kontrolle.
Ein gekonnter Vergleich
Peter Longerich verzichtet in seiner Aufarbeitung des Jahres 1923 vielfach auf die Schicksale von Individuen, die manche Entwicklung vielleicht greifbarer machen und stellt eher die Frage nach systemischen Zusammenhängen und einer komplexen Katastrophe, die sich seit dem Ende des Ersten Weltkriegs nach und nach aufgebaut hat. In seinem vierteiligen und überaus differenzierten Fazit stellt er schließlich die Konsequenzen dar, die 1923 für die junge deutsche Demokratie hatte.
Sehr hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Vergleich, den er mit Österreich anstellt, das nämlich in vielen Punkten mit ähnlichen Problemen und Konfliktlinien konfrontiert war – nur ohne die Ruhrbesetzung. Allein diese vergleichende Betrachtung zeigt die Mechanismen, die spezifisch in der Weimarer Republik auf das Leben der Menschen und die politischen Entwicklungen einwirkten, deutlich auf.
Lehren für heute
Nicht nur deshalb ist Außer Kontrolle ein überaus lesenswertes Buch. Viele der Variablen von damals spiegeln sich im heutigen politischen Alltag wider: eine zunehmende Radikalisierung bzw. Polarisierung durch AfD und den neuen Verein von Sahra Wagenknecht, finanzielle Turbulenzen durch (derzeit abklingende) Inflation, Investitionsstau und kürzlich einen für verfassungswidrig erklärten Nachtragshaushalt, der die Ohnmacht der Ampelregierung offenbart.
Fehlt noch ein extern induzierter Schock in das System, ähnlich der Ruhrbesetzung. Die Kriege in der Ukraine und Nahost hätten das Potential, das System weiter zu belasten und einen Kollaps herbeizuführen. Die im kommenden Jahr bevorstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, vor allem aber Sachsen und Thüringen könnten außerdem hausgemachte Fliehkräfte freisetzen, die gepaart mit all den anderen genannten Entwicklungen ungewollte Kettenreaktionen hervorrufen.
Peter Longerichs Außer Kontrolle legt anhand des Jahres 1923 sehr ausführlich und anschaulich dar, welche Sprengkraft in solch multiplen Krisen steckt. Es sei daher als abschreckendes und wohlinformiertes Beispiel aus und über die tragische Geschichte des Jahres 1923 jedem und jeder ans Herz gelegt.
HMS
Peter Longerich: Außer Kontrolle – Deutschland 1923; November 2022; 320 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-222-15102-6; Molden Verlag; 33,00 €
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