Menschen, die durch Flugzeuge laufen

Nach einem eher schwachen Tatort aus Frankfurt am Main am gestrigen Sonntagabend lässt sich wohl mit Fug und Recht sagen, dass der eigentliche Krimi im Ersten heute Abend gezeigt wird: Stephan Lambys neue Dokumentation „Ernstfall – Regieren am Limit“ läuft um 20:15 Uhr und steigt mit dem Start der damals sich selbst so bezeichnenden Fortschrittskoalition und einem Robert Habeck ein, der etwas von „wilder Entschlossenheit, den Aufbruch zu inszenieren“ sagt. Nun – wild und nicht arm an Inszenierungen ging es in den letzten 21 Monaten durchaus zu…

Guten Morgen – es ist Krieg

…nun muss der streitbar-streitenden Ampelkoalition aus SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen zugute gehalten werden, dass eines nicht (?) absehbar gewesen ist: Die Eskalation in der Ukraine, den hinterhältigen Angriffskrieg Wladimir Putins. Oder? In einem Interview mit Lamby, der auch in dieser Langzeitdokumentation gewohnt nah an den Protagonist*innen ist, lässt Robert Habeck (sehr präsent in Ernstfall) erkennen, dass sowohl die Amerikaner wie auch die Briten entschieden gewarnt haben – die Geheimdienste anderer Länder weniger. „Also wir?“, fragt Lamby – „Ja“, antwortet der grüne Wirtschaftsminister.

Ich erinnere mich noch gut, wie wir hier bei the little queer review über Putins gut sichtbare Eskalationsspirale gesprochen haben; wie die meisten Menschen im Bekanntenkreis sicher waren: Da passiert bald was. Herrje, in der Nacht vom 23. auf den 24. Februar 2022 war ich gegen drei Uhr nachts wach und hab recht regelmäßig die einschlägigen Nachrichtenseiten aktualisiert. Kurz danach habe ich unseren Herausgeber geweckt und wir haben überlegt, wie wir nun mit diesem Angriff auf ein freies Land umgehen sollten, der für all jene, die aufmerksam geschaut haben, seit Putin 2014 die Krim überfallen und annektiert hat, kaum wirklich überraschend gewesen sein dürfte. Dass viele von uns vor unliebsamen Wahrheiten die Augen verschließen, gehört leider zum Menschsein dazu.

Hohe Verantwortung, aber keine Last

Wieso also haben „wir“ hierzulande dies verschwitzt? Auf diese Frage geht Lamby in seiner eindrücklichen Dokumentation nur am Rande ein. Viel eher geht es darum, der Zusatz im Titel „Regieren am Limit“ verrät es, wie führende deutsche Poltiker*innen in dieser Zeit agieren und eben re(a)gieren. Dabei ist der Film eine interessante und nicht nur für Political Animals hoch spannende Mischung aus einer Chronik bekannter Ereignisse und Krisen (wie bspw. Energiekrise, Inflation, die sog. Klimakleber, etc. pp.), die es im Rahmen des Krieges in Deutschland, Europa und der Welt zu händeln galt, und einer Art Charakterstudie der Akteur*innen.

In Eile zum nächsten Termin: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck auf dem Flughafen Singapur, Nov. 2022 // © SWR/Knut Muhsik/ECO Media

Allen voran Kanzler Olaf Scholz, Außenministerin Annalena Baerbock, Finanzminister Christian Lindner, Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt und wie erwähnt Robert Habeck. Zudem interviewt Lamby zahlreiche Journalisten-Kolleg*innen wie Kristina Dunz, Erhard Scherfer oder Nico Fried. Habeck bleibt sich dabei treu und wirft mit Metaphern um sich wie ein Schreiner mit Holzspänen. Lindner übt sich in schon beinahe vornehmer Zurückhaltung – dies insbesondere wenn es um den housewives-tauglichen Konflikt der beiden Alpha-Minister geht und Lindner sagt, die politische Auseinandersetzung könne er nicht persönlich nehmen und Wunden habe er auch keine davon getragen. Wir würden vermuten Wunden sicherlich schon, vielleicht aber keine Narben.

Spannend auch jene Stellen, in denen die beiden Minister unabhängig voneinander sagen, die Summe der Energiezahlungen an Russland nicht nennen zu wollen. Habeck wirkt, als würde er sie nicht ad hoc abrufen können; der Finanzminister glaubwürdig, wenn er meint, dies nicht im Rahmen einer Langzeitdoku benennen zu wollen. Verständlich.

Aufruf zum Mord

Überhaupt wirkt Ernstfall sehr ehrlich und nachdenklich. Wenn Annalena Baerbock etwa recht lange überlegt, wie sie manch eine Auseinandersetzung beurteilt und ob sie etwas bereue und aufrichtig anmerkt, dass dies bei ihr kaum der Fall sein könne. An dieser Stelle wollen wir auch einmal sagen, dass wir meinen, dass die Grünen-Politikerin als Außenministerin einen nahezu hervorragenden Job macht und keinen Zweifel an ihren Prioritäten lässt.

Annalena Baerbock besucht Bundeswehrsoldaten in Mali im Frühjahr 2022 // © SWR/Knut Muhsik/ECO Media

„Für mich war es wichtig, immer wieder vor Ort zu sein“, sagt sie darauf angesprochen, warum sie immer wieder und schon sehr früh in die überfallene Ukraine reist – heute übrigens zum bereits vierten Mal. Sie scheine ein Mensch mit viel Energie zu sein, kommentiert die Autorin Alice Bota hierzu so treffend wie simpel. Auch als Stephan Lamby Baerbock damit zu überrumpeln scheint, dass es während ihrer Afrika-Reise im Sommer 2022 einen Mordaufruf gegen sie aus Russland gegeben hat.

Die Wahl am Horizont

Kanzler Scholz bleibt sich ebenfalls treu und untermauert in den wenigen Gesprächen – vermutlich hat er aus der Vergangenheit gelernt, als ihm zunächst Abwesenheit und dann Überpräsenz attestiert wurde –, dass alle Entscheidungen genau zum richtigen Zeitpunkt getroffen worden seien (*hust*Lambrecht*hust*) und es im Grunde nichts gäbe, das die Regierung sich wirklich vorzuwerfen hätte. Drum wünsche er sich auch, dass diese im Gesamten wiedergewählt würde. Er sagt aber auch, wie unheimlich es sei, zu sehen, wie russische Truppen gewütet hätten – dies sei „etwas, das einen nicht verlassen wird.“

Olaf Scholz und Stephan Lamby auf dem Rückflug von Saudi Arabien // © SWR/Kay Nietfeld/dpa

Die Frage nach Kanzlerambitionen stellt Lamby natürlich auch Robert Habeck, Christian Lindner, dem zum Zeitpunkt der Entstehung und Ausstrahlung der Dokumentation beliebtesten Minister*innen Boris Pistorius (Verteidigung) sowie Annalena Baerbock. Pistorius dazu glaubwürdig: Beliebtheit könne schnell umschlagen und tatsächlich sei die Kanzlerschaft für ihn nichts, über das er je ernsthaft nachgedacht hätte.

Die Dinge zueinander in Beziehung setzen

Vieles, das wir in dem 75-minütigen Film sehen (in der Mediathek sind darüber hinaus drei Teile à 30 Minuten verfügbar), lässt sich ausführlicher und mit mehr Kontext auch im soeben im C.H. Beck Verlag erschienenen Buch Lambys, Ernstfall – Regieren in Zeiten des Krieges. Ein Report aus dem Inneren der Macht, nachlesen (eine Rezension folgt in Kürze). Dies manches Mal recht süffisant. So lautet der Titel des Abschnitts zu Christine Lambrechts (viel zu spätem) Abschied etwa „Neujahrsknaller“.

Das Buch schließt mit dem NATO-Gipfel im Juli 2023; der Film ist noch ein wenig aktueller, wenn auch unwesentlich. Des Pudels Kern ist in jedem Fall erkennbar, wenn Habeck etwa sagt, dass ein Verlieren der Ukraine „eine Option [ist], über die wir nicht reden und nachdenken.“ Diese Entschlossenheit vermitteln ebenso Annalena Baerbock, Boris Pistorius und auch Wolfgang Schmidt scheint sich damit nicht unbedingt auseinadersetzen zu wollen.

Eine weitere Auseinandersetzung mit dem Krieg allerdings lohnt sich genau wie „Ernstfall“, der vor allem durch manch persönliche Anmerkung und Stephan Lambys gekonntes Aussagen und Geschehnisse zueinander in Beziehung setzen, beeindruckt und auch die harte realpolitische Realität nicht verschweigt, wenn es etwa um Abwägungsprozesse und manch nur bedingt erwünschten Partner, wie etwa Mohammed bin Salmans Saudi-Arabien oder Xi Jinpings China geht. Einziger Wermutstropfen mag die nahezu gänzliche Abwesenheit von Stimmen aus der Opposition sein.

QR

PS: Tilo Jung sagt gegen Ende des Films etwas unglaublich Dummes und Ignorantes, das Stephan Lamby dazu bringt, eher ungläubig nachzufragen. Ugh. Apropos: Auch Sahra Wagenknecht und Alice-“Ihr-Müsst-Alle-Kommen“ Schwarzer tauchen kurz in Clips auf.

PPS: Patrick Graichen. Erinnert ihr euch?

PPPS: Sollten Kanzler Scholz, Verteidigungsminister Pistorius und Außenministerin Baerbock wirklich gemeinsam in einem Flugzeug sitzen?

© SWR

Das Erste zeigt Ernstfall am heutigen Montag, 11. September 2023, um 20:15 Uhr; in der ARD-Mediathek ist eine dreiteilige Dokuserie zu sehen. Hart aber fair befasst sich heute Abend zudem mit dem Thema „Schwierige Halbzeitbilanz: Verliert sich die Ampel im Dauerstreit?“, u. a. mit Michael Kellner, Christian Dürr und Stephan Lamby.

Ernstfall – Regieren am Limit; Deutschland 2023; Ein Film von Stephan Lamby; Eine Produktion von ECO Media im Auftrag von SWR, rbb und MDR für Das Erste

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