Methusalem-Partei an der Macht

1. Januar 2023: Das neue Jahr ist wenige Stunden alt und Deutschland diskutiert über die Gewalt an Silvester gegen Polizei und Feuerwehrleute. 8. Dezember: Das neue Jahr ist wenige Tage alt und Deutschland diskutiert (immer noch) über die Hintergründe der Silvesterkrawalle. Es scheint, dass viele der Täter (und wenigen Täterinnen) mindestens eines der folgenden Attribute tragen: Leben im sozialen Brennpunkt, schlechte (Aus-)Bildung, schlechte Zukunftsperspektiven, Migrationshintergrund, schwieriges familiäres und soziales Umfeld.

Ein unerwarteter Wahlsieg

Ebenfalls Anfang Januar 2023: Die SPD-geführte Ampelregierung ist seit mehr als einem Jahr im Amt und eigentlich klingen die genannten Gruppen ziemlich genau nach SPD-Wählerschaft. Wie gut, dass die Sozialdemokraten noch zweieinhalb Jahre Zeit haben, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Denn wer Anfang oder auch Mitte 2021 auf einen Kanzler Olaf Scholz wettete, hat durchaus manch einen komischen bis mitleidvollen Blick abbekommen.

Und doch: Die SPD wurde bei der Bundestagswahl 2021 stärkste Kraft, etwas, das ihr kaum jemand noch zugetraut hatte. Wie es dazu kam, arbeitet der Augsburger Historiker Dietmar Süß in seinem Buch Der seltsame Sieg – Das Comeback der SPD und was es für Deutschland bedeutet, das im Verlag C.H. Beck erschienen ist, heraus.

Respekt, Solidarität und Fortschritt

Süß analysiert dieses Comeback in zehn Kapiteln und bezieht dabei verschiedene Faktoren ein. Er geht auf die vermuteten Kernwählerschaften ein – örtlich und sozial – und legt dar, wer die SPD 2021 wählte und wie auch ihre Zielgruppe definiert sein sollte. Es geht um den Kanzlerkandidaten Scholz, seine Kernbotschaft des „Respekts“ und wie diese sich mit dem sozialdemokratischen Narrativ der „Solidarität“ verträgt – oder auch nicht.

Er geht darauf ein, wie die SPD sich gefühlt der Agenda 2010 zu entledigen versucht(e), wie sie unter dem Begriff des „Fortschritts“ eine so genannte „Fortschrittskoalition“ schmiedete und – dieser Tage nicht aus einer solchen Analyse wegzudenken –, wie das Verhältnis der SPD zu Russland war und ist, bevor der Autor abschließend eine erstaunlich skeptische Bilanz zieht.

Alte Granden

Bei alldem fällt auf, dass Süß seinem Fachgebiet treu bleibt: Er geht in seiner Analyse tief in der Parteigeschichte zurück, kramt Beschlüsse und Programme aus der Glanzzeit der Sozialdemokratie unter Willy Brandt und Helmut Schmidt hervor und setzt sich an einer Stelle sehr nonchalant mit der Biografie des russophilen Altkanzlers Gerhard Schröder auseinander.

Wir erfahren noch einmal, welche Positionen der junge Olaf Scholz in den 1980er-Jahren vertrat, welche Denkschulen und Diskussionsstränge damals die Debattenpartei SPD beherrschten und wie wir von damals ins Heute kamen. Auch das heutige oder erst kürzlich verblühte Spitzenpersonal wird zu Rate gezogen, so beispielsweise der heutige Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich oder der langjährige Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler.

Wahlkampf? Welcher Wahlkampf?

Was erstaunlicherweise weniger stattfindet, ist der unmittelbare Wahlkampf selbst. Ja, Süß erwähnt auch eine Intervention Wolodymyr Selenskyjs auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2021 oder die wunderbar langweiligen Trielle des Wahlkampfs. Aber das ist weit von einer Analyse des Wahlkampfs selbst entfernt. Armin Laschets Lacher im Ahrtal findet beispielsweise ähnlich wenig Beachtung wie Annalena Baerbocks Probleme mit ihrem Lebenslauf und Buch – nämlich nur in einer Randnotiz. Wer hier also eine Aufarbeitung des Wahlkampfs á la Markus Feldenkirchen (wir erinnern uns mit Bauchgrummeln an Die Schulz Story) erwartet, dürfte enttäuscht werden.

Das führt auch dazu, dass erstaunlicherweise manch anderes Thema in diesem Buch ebenfalls nicht stattfindet. Olaf Scholz‘ mögliche Verstrickungen oder zumindest Erinnerungslücken an den Cum-Ex-Skandal beispielsweise oder allgemein seine zweifelhafte Bilanz als Finanzminister. Oder der desaströse Abzug aus Afghanistan, der unter einem SPD-Außenminister durchgeführt wurde, der in etwa dieselbe Kompetenz hatte wie Christine Lambrecht im Bereich der sozialen Medien. (Gut dass Heiko Maas kürzlich sein Mandat abgegeben hat und jetzt seine Kompetenz für seine Mandanten einsetzt.)

Jungspunde unter 60

Stattdessen werden einige andere Punkte relativ klar: Dieser Sieg war tatsächlich seltsam. Die Parteibindung gerade in der Stammwählerschaft ist immer geringer geworden. Gerade unter Arbeiterinnen und Arbeitern, Gewerkschaftsmitgliedern oder Menschen mit Migrationshintergrund hat die SPD nicht mehr die Strahlkraft, die sie gerne hätte und wollte.

Im Gegenteil: Es ist gerade die Generation 60plus, die Rentnerinnen und Rentner, die der SPD diesen Wahlsieg bescherten. Darüber kann auch der – wie Süß ihn nennt – „Faktor Kevin“ nicht hinwegtäuschen und in der Tat scheint die nach der Bundestagswahl beschworene Sperrminorität der 49 Juso-Abgeordneten bisher so leicht zu knacken gewesen zu sein wie eine Erdnussschale.

Ja, die Verjüngung der Fraktion mag damit auf dem Papier geglückt sein, in der Partei und ihrem Programm ist das aber noch lange nicht der Fall. Süß entlarvt im Kapitel zur Außenpolitik eine Äußerung des heutigen Parteichefs Lars Klingbeil von 2022, dass die SPD nun ähnlich der USA eine „Außenpolitik für die Mittelschicht“ machen wolle. Das wäre eine fundamentale Abkehr von der bisherigen Wählerschaft wie auch programmatisch. Welche Lücken dadurch zu reißen drohen, scheint wenig Beachtung zu finden – Björn Höcke und Tino Chrupalla werden sich freuen. In dem vergangene Woche vorgestellten Papier ist nun auch von einer solchen „Außenpolitik für die Mittelschicht“ nicht mehr die Rede.

Historische Analyse schlägt Wahlkampf

Dietmar Süß kommt also im Wesentlichen zu dem Schluss, dass der Erfolg der SPD bei der letzten Bundestagswahl die eigentliche Erneuerung überlagere. Das ist eine gute und wichtige Erkenntnis, die Strateginnen und Strategen in den Parteizentralen dürften (und sollten) sein Buch also intensiv studieren. Das gilt auch, obwohl es scheint, dass sein Buch in relativ kurzer Zeit zusammengestellt sein dürfte. Die für den C.H. Beck-Verlag untypischen und verhältnismäßig vielen Flüchtigkeitsfehler, die sich noch immer in dem Buch finden, deuten jedenfalls auf einen hohen Zeitdruck bei der Erstellung hin.

Inwieweit die im Titel – Der seltsame Sieg – Das Comeback der SPD und was es für Deutschland bedeutet – implizierten Fragen beantwortet werden, ist allerdings fraglich. Ja, die historische Analyse, die Süß vornimmt, ist gut, geht in die Tiefe und gibt uns viele Hintergründe. Eher handelt es sich aber um eine historische Aufarbeitung, wie die SPD sich personell und programmatisch entwickelt hat (oder glaubt sich entwickelt zu haben), denn um eine wirkliche Analyse des Wahlergebnisses. Aber eine Antwort auf die eigentlichen Fragen, die der Titel stellt, bekommen wir nicht wirklich. Schade, und doch ist das Bucheine interessante Zusammenstellung und Analyse ist Der seltsame Sieg trotzdem.

HMS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Dietmar Süß: Der seltsame Sieg – Das Comeback der SPD und was es für Deutschland bedeutet; Oktober 2022; 224 Seiten; Klappenbroschur; ISBN 978-3-406-79318-9; C.H. Beck Paperback; 18,00 €

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