Katar ist nur unser Prügelknabe

Nun hat also der zweite Spieltag dieser Fußballweltmeisterschaft begonnen. Und die Gastgeber aus Katar scheiden direkt nach der zweiten Niederlage gegen den Senegal aus. Sportlich gesehen mag dieses Aus für viele kein großer Verlust sein. Aber bei dieser WM geht es häufig nur noch am Rande um Sportliches, zumindest aus unserer deutschen Perspektive.

Waren die letzten Wochen geprägt von Diskussionen über Menschenrechte, verstorbene Wanderarbeiter, Alkoholverbot in Stadien, manchmal sogar über die Klimaschäden, die diese Wüsten-WM mit sich bringt, kamen die eigentlichen Aufreger vor allem Anfang dieser Woche. Der Weltverband FIFA hat vermutlich auf Druck des erzkonservativen Herrscherhauses das Tragen der ohnehin bereits weichgewaschenen One Love-Kapitänsbinde verboten und die willfährigen europäischen Fußballverbände sind schneller eingeknickt als ein wackliges Bambusgerüst.

„Symbolpolitik 101“

Der Aufschrei war groß, zumal nur wenige Stunden später die Iraner ein Zeichen setzten, indem sie die eigene Hymne nicht mitsangen – aus Protest gegen das Vorgehen der noch erzkonservativeren Mullahs gegen die Proteste in der Heimat. Dass sich die – zurecht – viel gescholtene DFB-Elf mit einer halbseidenen Protestaktion gegen die „Zensur“ der FIFA echauffierte, dabei aber auch unweigerlich einen Vergleich mit den ebenfalls verstummten Iranern heraufbeschwören, zeigt, dass die PR-Profis des DFB vielleicht nochmal das Modul „Symbolpolitik 101“ belegen sollten. 

Wenigstens zeigten der Supermarktkonzern Rewe, der die Zusammenarbeit mit dem DFB unverzüglich aufkündigte (auch wenn ihn das vermutlich nicht allzu viel kosten dürfte) und Bundesinnenministerin Nancy Faeser, dass sie wissen ein Zeichen zu setzen. Sich wie Faeser neben den FIFA-Boss Gianni Infantino und arabische Scheichs zu setzen und die One Love-Binde offen zu tragen, ist wohl das deutlichste Bild, das eine Bundesinnenministerin produzieren kann (auch wenn zu vermuten steht, dass die FIFA, die die Fernsehbilder produziert, dieses Zeichen nicht in allzu viele Länder versendet haben dürfte).

Einwechslung für den Regenbogen

Nun scheinen FIFA und Organisatoren ebenfalls kurzfristig „Symbolpolitik 101“ besucht zu haben, denn – nachdem an den ersten Spieltagen immer wieder Berichte publik wurden, dass Fans im Stadion dazu aufgefordert wurden, Regenbogensymbole nicht offen zu tragen – ab nun soll es auch offiziell erlaubt sein, Pridesymbole in den Stadien zu zeigen. Neben den Menschenrechten für LGBTIQ*-Personen ist das auch zumindest ein kleiner Erfolg für die Meinungsfreiheit, um die es hinter all diesen Debatten ja eigentlich auch geht. 

All das setzt aber auch voraus, dass wir alle – und hier ist jede und jeder von uns angesprochen – immer wieder genau hinsehen und unseren Mund aufmachen, wenn wir einem Missstand begegnen. Das scheinen wir im Falle Katars sehr gut zu können und zu wollen, denn auf ein kleines, neureiches Emirat, das sein Geld mit Öl und Gas macht, von dem wir aber eigentlich (bisher) nicht abhängig sind, lässt es sich wohlfeil einprügeln und eine WM im kalten Winter lässt sich leicht boykottieren.

Augen zu und durch?

Vor vier Jahren allerdings, als Russland Ausrichter der Weltmeisterschaft war, da ist das nur den wenigsten eingefallen. Zur Erinnerung: Die Krim war zu jenem Zeitpunkt bereits seit vier Jahren besetzt, der Donbass auch und um Nord Stream 2 gab es damals im Frühjahr, als Rezo die CDU „zerstören“ wollte auch bereits heftige Debatten.

Dass in Russland bereits damals Nicht-Heterosexuelle verfolgt wurden – am schlimmsten in Tschetschenien – ist und war uns lange bekannt. Dass Putin mit Nord Stream 2 und überhaupt mit seinem Gas ein wirtschaftliches Druckmittel in der Hand hatte, auch. Dass ein gewisser Alexei Nawalny den Unmut Putins auf sich ziehen würde, war mehr als abzusehen. Der Spion Alexander Litwinenko wurde bereits 2006 ein Opfer von Putins Polonium, die Journalistin Anna Politkowskaja, die immer kritisch aus Tschetschenien berichtete, 2007 erschossen. Der führende Oppositionspolitiker Boris Nemzow wurde 2014 an öffentlicher Stelle ermordet. Und weitere sollten folgen, Sergej Skripal beispielsweise – und das im März 2018, also nur Monate vor der damaligen Weltmeisterschaft.

Russland haben wir „verstanden“

An diesem Donnerstag nun hat das russische Unterhaus ein Gesetz verabschiedet, das „LGBT-Propaganda“ allgemein verbieten soll – die Ratifikation im weiteren „Gesetzgebungsprozess“ dürfte nur eine Formsache sein. Bereits seit 2013 ist diese „Propaganda“, also Informationsverbreitung über LGBT-Themen, an Minderjährige verboten. Damals gab es einen kurzen Aufschrei, wirklich interessiert hat es aber nur wenige.

Was am Donnerstag aber in Russland beschlossen wurde, ist das, was wir an den Zuständen in Katar heute lauthals kritisieren. Wir sind also offenbar willens, solche Missstände auf der WM-Bühne anzuprangern. Wenn es um einen kleinen Staat wie Katar geht. Bei Putins Russland nicht, selbst wenn es bereits damals – ja, in kleinerem Umfang, weil auf Minderjährige beschränkt, aber inhaltlich dennoch vergleichbar und nicht weniger abstoßend – mehr als erkennbar war. Und selbst die katholische Kirche hierzulande hat in dieser Woche verkündet, ihr Arbeitsrecht für queere Menschen lockern zu wollen.

Vorsätze kosten auch nichts

Die Kommentatorinnen und Kommentatoren aller politischer Blattlinien dieser Fußballrepublik sind sich in den vergangenen Tagen darin ergangen, den DFB dafür zu kritisieren, dass er nur so lange die Stimme erhebt, wie es nichts kostet. Bei Russland aber sind wir vor vier Jahren alle nicht anders vorgegangen. Wir haben viel zu lange geschwiegen.

Was wir also brauchen, ist eine echte Kultur des Hinsehens. Eine Kultur des Kritisierens. Eine, die auch Fehler anerkennt und verzeiht. Wie wir mit dem russischen Umgang mit Minderheiten lange umgegangen sind, lässt sich heute nicht mehr ändern. Wir können uns aber ehrlich machen und einen Blick nach vorne wagen. Und versuchen, es künftig besser zu machen. Weihnachten steht vor der Tür, die guten Neujahrsvorsätze für viele Menschen auch. Wäre das nicht mal ein schöner Vorsatz fürs neue Jahr? Zumindest der Vorsatz kostet übrigens genau so viel, wie das nun vielfach gescholtene Verhalten des DFB: nichts.

HMS

PS: Auch auf so vollkommen andere Baustellen wie den Klimawandel lässt sich dieses Prinzip, hier besser nicht länger wegzusehen, übrigens vortrefflich übertragen. Denn auch hier haben wir uns viel zu lange nicht ehrlich gemacht.

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