Eine Kulisse des Lebens

Was kann, was darf, was muss die Kunst leisten? Angesichts von Diktatur, Gewalt, Unterdrückung und Völkermord? Wie ist Widerstand in einem totalitären Regime möglich, wie viel ist gefährlich? Und ab wann machen sich Kunstschaffende selbst mit solch einem verbrecherischen Regime gemein?

Vorhang auf

Die einfache Antwort auf diese Frage ist: Jede Aktivität, die das Regime auch nur im Entferntesten stützt, ist bereits zu viel. Aber die Realität ist oft deutlich komplexer, wie wir es in Daniel Kehlmanns neuestem Roman Lichtspiel erleben, der vor Kurzem bei Rowohlt erschienen ist. Darin behandelt er das Leben und Wirken des Regisseurs G. W. Pabst.

Pabst wurde in der Weimarer Republik zu den hierzulande größten seines Fachs, versuchte auch angesichts zunehmender Repression im noch jungen Hollywood sein Glück, kam jedoch kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zurück in seine Heimat Österreich – damals bereits als Ostmark Teil des Deutschen Reichs. Dort hatte er sich um seine greise Mutter zu kümmern und wurde von der Nazi-Propaganda mit seinem Können vollends vereinnahmt.

Reise ohne Rückfahrticket

In drei größeren Teilen und insgesamt 21 Kapiteln nähert sich Kehlmann dem Regisseur: In „Draußen“ begegnen wir dem Vorkriegs-Pabst, der bereits zu erstem Ruhm gekommen war, in Hollywood jedoch bei den noch nicht ganz Großen des Fachs wiederholt abblitzt. Die Rückkehr ins Reich ist vielleicht nicht unausweichlich, aber das Leben in Amerika bietet Pabst keine Erfüllung.

Nicht diese sucht er, als er im zweiten – und umfangreichsten – Teil „Drinnen“ zurück ins Reich kehrt, das bereits von PropagandaAntisemitismus und anderen indoktrinierenden Elementen der Nazi-Ideologie zersetzt ist. Was nur als ein kurzer Abstecher um der senilen Mutter willen gedacht ist, erweist sich als Reise ohne Rückfahrticket für Pabst, seine Frau Trude und Sohn Jakob.

Drinnen und Danach

Zumindest – und natürlich schmeichelt das einen Kunstschaffenden wie Pabst – werden hier seine Arbeit und sein Name geschätzt und trotz anfänglichen Sträubens und der „unwiderstehlichen“ Überzeugungskunst der Nazis bis hinauf zu Joseph Goebbels ergibt sich Pabst seiner Situation. Gemeinsam mit der Propagandakönigin Leni Riefenstahl erleben wir ihn und seinen späteren Assistenzen Franz Wilzek am Set in Bayern oder später in Prag, um seinen Film „Der Fall Molander“ zu drehen. Eingerahmt wird dies von den Erfahrungen Trudes und Jakobs, die nicht nur den Terror des Hausmeisters Jerzabek, sondern auch der Nazi-Propaganda und gesellschaftlichen Zwängen ausgesetzt sind – und sich dem teils allzu willentlich ergeben… 

Teil drei – „Danach“ – behandelt im Wesentlichen die Nachwirkungen des „Falls Molander“, der aus seiner eigenen Sicht Pabsts größtes Werk war. Gleichzeitig heißt das jedoch, dass sein Wirken im Nachkriegsdeutschland und -österreich nicht an Molander heranreichen konnte und natürlich macht auch das etwas mit einem Menschen… Den Rahmen für diese ganze Geschichte setzt jedoch Franz Wilzek, der senil im Sanatorium Abendruh die Geschichte im ersten und letzten Kapitel aus seiner Perspektive fast wie ein Off-Erzähler betrachtet.

Wo der Humanismus verloren geht

Wie bereits bei vielen seiner Vorgängerwerke ist das auch in Lichtspiel eine enorme Kulisse, die Daniel Kehlmann hier theatralisch in drei Akten aufbaut. Es geht um das Leben und Schaffen eines Mannes, dem eine große Zukunft vorhergesagt wurde, der aber im vermeintlichen Paradies enttäuscht wird. Die Tragik des Lebens zwingt ihn zurück in die Diktatur und seine Familie reißt er bei diesem Schritt gleich mit. Trude scheint dem Alkoholismus zu verfallen, Jakob erliegt der Nazi-Propaganda.

Und Pabst steckt mittendrin, muss für sich und seine Familie ein Auskommen sichern, will jedoch mit den Untaten der Nazis nichts zu tun haben – nur um sich sukzessive doch scheinbar dazu zu entschließen, mitzulaufen, an entscheidenden Stellen wegzusehen oder gar das System für sich selbst zu nutzen. Ja, das Leben in der Nazi-Diktatur war ganz sicher nicht einfach, aber wo der Humanismus verlorengeht, da regiert das Recht des Stärkeren.

Einfach total

Daniel Kehlmann schafft es in Lichtspiel erneut, die ganze Tragik seiner Figuren und der Situationen, in denen sie sich immer wiederfinden, zu beleuchten. Lichtspiel liest sich fast wie das Drehbuch eines Films moderner Machart, nimmt es uns doch mit in die Gedankenwelt verschiedener Charaktere und gibt es uns doch Kontext, wie es Bilder so anders vermögen als bloße Buchstaben.

Hierfür wechselt er immer wieder die Perspektive, erzählt aus der Sicht Pabsts beim Filmemachen, Trudes beim Lesezirkel mit (vermeintlich?) indoktrinierten Nazi-Bräuten oder Jakobs, wie er seinen wechselnden Schulklassen beweisen muss, dass das Recht des Stärkeren auf seiner Seite steht. Auch wenn es nur vermeintliche Opfer-Perspektiven sind, die uns Kehlmann hier zeigt, alle waren sie dennoch irgendwie Täter oder zumindest Mitläufer in einem grausamen System, das auf Gehorsam und Unterdrückung setzte. Der permanente Perspektivwechsel durch die verschiedenen Akteure gibt uns die Möglichkeit, die Totalität des totalitaristischen Systems im „totalen Krieg“ erst zu erfassen.

Ein Kandidat für den Oscar

Lichtspiel ist das vielleicht durchdachteste und auch nachdenklichste Buch, das Daniel Kehlmann bislang vorgelegt hat. Es basiert auf der real existierenden Figur des G. W. Pabst, dürfte aber um eine Reihe von fiktiven Elementen angereichert worden sein. Das sollte den Leserinnen und Lesern immer wieder in Erinnerung gerufen werden: Es handelt sich um einen Roman, der ein historisch bedeutsames Thema behandelt und verarbeitet, aber nicht jedes Detail mag so der Wahrheit entsprechen, wie dies in Lichtspiel erzählt wird.

Dennoch ist es ein grandioser Roman, der auch in der Machart so manche Technik einsetzt, die gerade den für seine Schnittkunst berühmten Pabst legendär und erfolgreich gemacht hat. Wäre Lichtspiel ein Film, es wäre wohl Kandidat für Filmpreise wie den Oscar, Goldene Palme, César, Goldenen Bären oder Auszeichnungen von ähnlichem Range. So ist es ein Roman, der neben den zumindest teilweise tragischen Einzelschicksalen von Pabst und seinem Umfeld auch das Leben im totalitären System des Nationalsozialismus behandelt und subtil die Fragen von Schuld und Moral aufwirft.

HMS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Daniel Kehlmann: Lichtspiel; Oktober 2023; 480 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-498-00387-6; Rowohlt Verlag; 26,00 €

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