[Unser Autor Frank Hebenstreit hat das Stück im Sommer 2023 besucht.]
Die Nachtigall war‘s und nicht die Lerche… oder so… Das ist das Zitat, an das mensch sich gern im Zusammenhang mit Romeo und Julia erinnert. Seit Mitte Mai 2023 zählt für uns der Satz: „Stopp! Mehr geht gerade nicht!“ zu den Top-Zitaten für dieses Stück. Ausgesprochen von unserer Freundin und Trauzeugin Heike, kurz nachdem wir ihr eröffnet haben, dass sie mit uns Romeo und Julia – Liebe ist alles – das Musical in Berlin im Theater des Westens besuchen wird.
Bereits seit 2006 haben wir diese wahre Queer Ally mit Liebe, Freundschaft und Aufrichtigkeit in unserem Leben. 2010 hat sie unser Ja-Wort begleitet. Schwere Zeiten hat sie durchgemacht, von Trennung über Jobverlust bis zu einer überstandenen Krebserkrankung war da wirklich alles dabei. Trotz aller Schicksalsschläge hat sie nie die Fröhlichkeit und Hoffnung verloren, für die wir sie so lieben. Auf die Frage, was sie aufrechtgehalten habe, ist nach ein, zwei Namen eine der ersten Antworten: „Ja, und die Musik von Rosenstolz!“
Kein Wunder also, dass seit einiger Zeit einer ihrer größten Wünsche war, Romeo und Julia – Das Musical in Berlin zu sehen. Und nun ist es soweit. Wir haben ihr gerade offenbart, dass sie mit uns nach Berlin fährt und es sehen wird. Mit Tränen in den Augen und einem leichten Schluchzer bedeutet sie uns zu warten. Erst einige Minuten später können wir ihr die weiteren Fakten unseres Trips erzählen. Und keine halbe Stunde später sind wir schon am Rätseln: Wie wird es sein, wenn die Musik, die mensch von früher kennt, plötzlich die Handlung einer klassischen Tragödie voranbringt? Wir werden es erleben.
Am Morgen der Anreise ist die Spannung zu spüren, die man nur dann bemerkt, wenn ein wirklicher Herzenswunsch in Erfüllung geht. Blanke Augen mit dem Strahlen einer unbändigen Vorfreude leuchten uns entgegen. Der Tag vergeht förmlich wie im Fluge und schon stehen wir vor dem Theater. Das emsige Summen und Brummen eines gespannten Publikums begleitet uns in das prunkvolle Foyer. Plätze eingenommen, Taschentücher bereit und los geht’s!
Bereits mit den ersten Tönen arbeitet diese Produktion daran, den Zuschauer in ihren Bann zu ziehen. Das wie ein Shakespeare–Theater anmutende Bühnenbild von Westend-Designer und Co-Regisseur Andrew D. Edwards ist multifunktional, beeindruckend und der perfekte Rahmen für das Geschehen. Romeo und Julia liegen tot auf der Bahre und Anthony Curtis Kirby greift als Bruder Lorenzo mit seinem Lied „Kein Wort tut so weh, wie vorbei!“ nach den Herzen der Zuschauer. Auch neben mir fängt Heike zum ersten Mal an zu schluchzen.
Mit einem perfekten Rückwärtsdreh, wie im Film, springen wir in die Handlung. Romeo geht auf den Ball der Feinde, lernt Julia kennen und lieben, sie treffen sich heimlich, erkennen, dass ihre Familien Feinde sind und heiraten trotzdem. Julias Cousin Tybalt killt Mercutio, dafür bringt Romeo Tybalt um und muss fliehen. Am Ende sinnen die Liebenden nach Flucht, die aber in einem tragischen Tod endet. Soweit die bekannte Geschichte.
Das Team um Ulf Leo Sommer und Peter Plate hat jedoch noch eine weitere Liebe gesehen. Die des Mercutio zu Romeo. Und so erleben wir in diesem klassischen Drama (alte Sprache zwischen den modernen Songs) eine queere Facette, die unvermutet tief berührt und die Kehle ebenfalls mehrfach rauh werden lässt.
Ganz im Gegensatz zum Erlebnis meiner geschätzten Kollegen aus der Premiere, trifft Anthony Curtis Kirby gesanglich jedweden Zwischenton, lässt lächeln, lachen, schweigen und weinen, ganz wie es die Entwicklung seines Charakters braucht. Damit allein könnte er dieses Stück schon tragen, braucht es aber nicht, denn der Rest des Ensembles steht ihm in nichts nach. Countertenor Nils Wanderer schafft mit seiner besonderen Stimmlage hier Sphärenklänge, die erst schwer zuzuordnen sind, ihn danach jedoch in jeder seiner Szenen sofort erkennen lassen. Seine kaum aktive und doch überbordende Präsenz ordnet sich je nach Notwendigkeit für die Szenerie mal ganz leise oder auch brutal überstrahlend in das Gefüge ein.
Während Yasmina Hempel als Julia durchaus einen Wandel vom schüchternen Mädchen zur sich sehnenden und selbstbewussten Frau auf die Bühne stellt, wirkt Paul Csitkovics’ Romeo an einigen Stellen sperrig und unsicher. Was bei einer nur auf den Titelfiguren aufgebauten Produktion das sichere und qualvolle Ende wäre, gibt so aber den begleitenden Charakteren Raum, den sie exzellent und zur sichtbaren Freude des Publikums nutzen.
Nico Wents Mercutio stachelt zu Genuss und Abenteuer auf, bricht einem aber auch mit seiner zurückhaltenden und versteckten Liebe zu Romeo das Herz. Edwin Parzefall ist als Benvolio immer zur Stelle und Lisa-Marie Sumner beeindruckt als Lady Capulet, die ihrer Tochter empfiehlt, das Bett eines Mannes (der im Übrigen immer recht hat) nie kalt werden zu lassen. Philipp Nowicki als Capulet herrscht und befiehlt, wie er soll, Samuel Franco als Tybalt erringt trotz wunderbar arroganter Ausstrahlung die Herzen der Zuschauer mit einem der wichtigsten Küsse dieses Abends.
Absolut zu Recht wird Steffi Irmen im Schlussapplaus für Ihre Darbeitung von Julias Amme lautstark gefeiert. Stets auf das Wohl ihres Schützlings bedacht, schwankt auch sie nachvollziehbar zwischen dem Willen der Eltern, dem es als Dienstbotin Folge zu leisten gilt, sowie dem Willen und der Liebe ihres Zöglings. Nachdem sie vom Schwitzen, den Hormonen und dem Unwillen noch mal jung sein zu wollen gesungen hat, bleibt im Saal kein Auge trocken und keine Hand ohne Klatschen.
Je nach Lauf der Geschichte bebt der Stuhl neben mir wegen unterdrücktem Schluchzen oder wegen einem lauten Lachen. Aber auch mal ein beeindrucktes „Oh“ oder „Wow“ schallt aus dem Publikum. Schon kurz bevor der letzte Ton des Abends verklungen ist, steht das Publikum in Gänze und lässt das ehrwürdige Theater des Westens unter frenetischem Jubel erbeben. Herzenswunsch erfüllt: Check! Aber auch der Autor dieser Zeilen (der übrigens ohne große Erwartungen das Theater betrat) hatte zwei Tage später noch eine heisere Stimme vom lauten „BRAVO“ rufen.
Unbestreitbar eine gelungene Produktion, wird sie doch hauptsächlich dank der Wahnsinnsspielfreude dieses homogenen Ensembles in die Sphären eines Triumphes gehoben, in unserem Fall an einem ganz normalen Mittwochabend. Regisseur Christoph Drewitz lässt mit seiner dichten und überaus gelungenen Inszenierung dem Publikum gerade genug Zeit um zwischendrin Luft zu holen. Die Weltklasse-Choreografien vom preisgekrönten Jonathan Huong tun ihr übriges. Perfekt auf Musik, Emotion und Ausstrahlung abgestimmt, atmet jede Szene durch sie Kraft, Überzeugung und Ausstrahlung.
All das wird von einem grandiosen Beleuchtungskonzept von Tom Deiling abgerundet.
Was als Theaterabend ohne große Erwartungen begann, endete in rückhaltloser Begeisterung und dem unbändigen Wunsch, das bitte ganz bald nochmal erleben zu dürfen.
Chapeaux
PS [Anm. d. Red.]: Am 9. Oktober 2023 ist das Musical bei fünf Nominierungen in drei Kategorien mit dem Deutschen Musical Theater Preis ausgezeichnet worden: Beste Choreographie – Jonathan Huor, Beste Darsteller in einer Nebenrolle – Nico Went (Mercutio) sowie Bestes Sounddesign – Florentin Adolf. Wir gratulieren! [Und bedauern sehr (!), dass Steffi Irmen leider keinen Preis einheimsen konnte.]
Schon zur Nominierung zeigten sich Peter Plate und Ulf Leo Sommer euphorisch: „Wir freuen uns wie verrückt und können unser Glück kaum fassen! Berlin wird zur Musicalhauptstadt und Ulf und ich verneigen uns vor unserem großartigem [sic!] Ensemble, unserem Team, dem Theater des Westens und der BMG. In Zeiten wie diesen ist es uns eine Ehre, Diversität in Form des wunderbaren Shakespeares in die Welt zu tragen. Es lebe die Liebe!“
Romeo & Julia ist im Theater des Westens noch bis zum 4. Janaur 2024 zu sehen – Tickets, die es hier gibt, sind also ein perfektes Weihnachtsgeschenk. Im Anschluss soll noch einmal das Musical Ku‘damm 56 gespielt werden, bevor am 5. Mai 2024 dann Ku‘damm 59 – Das Musical Premiere feiern wird.
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