„For what I did, I should be dead.“

Vieles ist über den sadistischen, schwulen, nekrophilen und kannibalischen Serienmörder Jeffrey Dahmer seit seiner Festnahme in der Nacht vom 22. auf den 23. Juli 1991 gesagt, geschrieben, gezeichnet, gefilmt und spekuliert worden. Was zu der berechtigten Frage führt: Braucht es da noch eine fast 10-stündige Mini-Serie, die die Ereignisse vor, während und nach seiner Verhaftung und Verurteilung aufarbeitet? Die Antwort nach dem Anschauen und Erneut-Anschauen einzelner Teile lautet ganz eindeutig: Ja!

„Little Body Shop of Horrors“

In diesem Zusammenhang also nur kurz etwas zum 1960 in Milwaukee, Wisconsin, geborenen Jeffrey Lionel Dahmer: Immer schon ein wenig seltsam, in sich gekehrt, entrückt. Aufgewachsen in einer schwierigen Familienkonstellation. Zwischen 1978 und 1991 ermordet er, soweit bekannt,  17 Männer; wobei er nach seinem ersten Mord 1978 am 18-jährigen Steven Hicks erstmal eine Pause einlegte. Kurz ging es aufs College, dann zur US-Army. Seine Trinkerei ließ beides scheitern.

Shaun J. Brown als Tracy Edwards und Evan Peters als Jeffrey Dahmer // Cr. Courtesy Of Netflix © 2022

Anschließend arbeitet er einige Zeit als Barkeeper, treibt sich in Gay-Saunen rum, macht dort bereits Männer durch das heimliche Verabreichen von Drogen gefügig und willenlos, missbraucht sie, wenn sie bewusstlos sind. Einige Zeit später, im Spätsommer 1986, landet er für kurze Zeit wegen „unanständigem und laszivem Verhalten in der Öffentlichkeit“ im Gefängnis (er masturbierte in der Öffentlichkeit in der Nähe eines 12-jährigen Jungen); die Anklage wurde später auf „Belästigung der Allgemeinheit“ geändert und Dahmer kam im Frühjahr 1987 auf Kaution und mit einigen Auflagen frei.

Er kommt bei seiner Großmutter väterlicherseits, Catherine Dahmer, unter und begeht am 20. November 1987 seinen zweiten Mord im Ambassador Hotel in Milwaukee. Dieser Mord ist, wenn mensch so will, der Beginn einer Eskalation, einer Mordserie an 16 Personen zwischen 1987 und 1991, wobei er allein im Halbjahr vor seiner Verhaftung acht Menschen tötet. Dabei zielt Dahmer es vor allem auf Schwarze Männer beziehungsweise BIPoC (Black, Indigenous and People of Color) ab. Dies wohl auch, weil davon auszugehen war, dass die Polizei hier nicht allzu genau hinschauen würde.

Rassismus und Arroganz

In der Tat ein großes Problem, welchem in der 10-teiligen von Ryan Murphy und Ian Brennan kreierten Serie Dahmer – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer sehr viel Raum gegeben wird. Entgegen manch einer Behauptung (vermutlich von Menschen kommend, die es nicht einmal geschaut haben), die Serie schlachte die Morde Dahmers maßlos aus, sei ein brutales Blutfest und würde einen Serienkiller sexy machen, setzt sie sich en detail damit auseinander, warum es trotz diverser Auffälligkeiten, Dahmers Strafregisters und verschiedenster Meldungen an die Polizei so lange dauerte, den nicht besonders unauffällig agierenden Killer zu fassen. 

Niecy Nash als Nachbarin Glenda Cleveland // Cr. Courtesy Of Netflix © 2022

Diese Problematik wird in der True-Crime-Serie in der Figur von Glenda Cleveland (spitze: Niecy Nash-Betts) zusammengefasst, die als Nachbarin von Dahmer (erschreckend nah: Evan Peters) durch den Belüftungsschacht des Apartments nicht nur immer wieder stechende Gerüche, sondern auch durchstechende Geräusche wahrnimmt. Außerdem beobachtet sie immer wieder verdächte Vorfälle, kontaktiert mehrmals die Polizei. Doch nichts geschieht. Dass mit einem Ticken mehr Sachverstand und weniger Rassismus der Mord an einem 14-jährigen Jungen hätte verhindert werden können, illustriert die in dunklen Sepia-Tönen gehaltene Serie, die sich sehr eng an den wirklichen Geschehnissen orientiert, eindrücklich.

Eine Melange, wie für den Abgrund gemacht

So geht es hier also auf der einen Seite darum, wie der Serienkiller trotz kaum vorhandener Ermittlungstätigkeiten und Blindheit der Polizei auf dem Nicht-Weißen-Opferauge doch gefasst und angeklagt wurde und auf der anderen darum, wie so ein Jeffrey Dahmer eigentlich passieren kann. Dazu schauen wir natürlich auf die Familie Dahmer – auf die Mutter Joyce (Penelope Ann Miller), die als junge Frau irgendwann Jeffs kleinen Bruder nimmt und auf quasi Nimmerwiedersehen abhaut, den Vater Lionel (wow: Richard Jenkins), der eine Mischung aus typischem Nachkriegsdad und unbeholfenem Übervater ist, und die Großmutter Catherine (Mutter Walton höchstselbst: Michael Learned), die so genau auf Jeffreys Leben schaut, wie sie wegzusehen weiß.

Richard Jenkins als Vater Lionel Dahmer, Molly Ringwald als Stiefmutter Shari, Penelope Ann Miller als Mutter Joyce Dahmer // Cr. Courtesy Of Netflix © 2022

In der Familie, zu der später noch Jeffreys so geduldige wie verständnisvolle Stiefmutter Shari (Molly Ringwald) stößt, kommt also eine höchst interessante, aber auch ungesunde Melange zusammen, die zwar nicht zwingend zum Mörder, aber beinahe unvermeidlich zum Alkoholiker machen muss. Dass Dahmer die meisten seiner Taten wohl dicht begangen hat und nicht immer gewusst hat oder haben will, was genau geschehen ist… nun ja, hätt’ er halt nach dem ersten oder wenigsten zweiten Mord aufgehört. Der Alkohol ist eben doch nicht immer ausschließlich an allem schuld.

Manches bleibt unergründlich

An dieser Stelle wird es dann auch in der Serie etwas tricky: Bei aller plausiblen und durchaus fesselnden, nahegehenden Ergründung manch möglicher Ursache scheitert Dahmer – Monster größtenteils daran, in die Psyche des Killers vorzudringen. Was auch daran liegen mag, dass es hierzu kaum Stichhaltiges gibt, da Dahmer doch immer in sich und seinem Kopf blieb. Das sorgt im Lauf der zehn Folgen für manch unnötige Redundanz. Hier wäre es ratsamer gewesen, diesen Versuch früh aufzugeben und ihn auf die Pointe des Rechtsstreits der Eltern zum Ende der Serie zu reduzieren – damit wären alle Antworten oder auch die Unmöglichkeit derselben geklärt. 

Verhör – mit offenen Karten? Michael Beach als Detective Murphy, Colby French als Detective Kennedy, Evan Peters als Jeffrey Dahmer // Cr. Courtesy Of Netflix © 2022

Manch eine Wiederholung findet sich ebenso gegen Ende der Mini-Serie beziehungsweise ersten Staffel einer neuen Anthologie-Serie (es dürfte dem großen Erfolg geschuldet sein, dass es mindestens zwei weitere Staffeln mit „anderen monströsen Figuren“ geben soll; John Wayne Gacy böte sich hier an, wird in Dahmer – Monster gar erwähnt oder Richard Ramirez aka Night Stalker, den Ryan Murphy ja schon einmal sehr fiktionalisiert in American Horror Story nutzte), wenn es um den Nachhall der Verbrechen geht. So wichtig und dringend geboten es ist, dass auch der weitere Einfluss auf das Leben der Angehörigen der Opfer und die Schwarze Community vor Ort sowie die Bemühungen der Behörden alles möglichst leise zu halten, gezeigt werden, so sehr sind die letzen beiden Folgen doch nahezu identisch. Bequem ließe sich daraus eine Folge machen und an der Wirkung des Gezeigten änderte sich kaum etwas. Im Gegenteil, eher dürfte diese verstärkt werden.

Starke Repräsentation der Community

Was mitnichten bedeuten soll, dass die Serie nicht durchaus kräftigen Eindruck hinterlässt, was weniger an blutigen Momenten (die in der Tat eher rar sind) als viel eher einer konstant düsteren Stimmung liegt, die auch nicht durch Zoten aufzulockern versucht wird. Dazu passt die zurückhaltende und doch eindringliche Musik von Nick Cave und Warren Ellis, die zusätzlich dafür sorgt, die Serie nicht allzu schnell in Vergessenheit geraten zu lassen. Ebenso ist das Ensemble, das Murphy und Team hier versammeln wie sooft bei ihm absolut hervorragend. Dieses starke Händchen für Besetzungen spielt sich vor allem in der sechsten Folge aus, in der wir dem taubstummen Tony Hughes (Rodney Burford) durch Alltag und Leben in die Fänge des Serienmörders folgen. In dieser Episode (aber nicht nur hier) ist übrigens auch die Repräsentation einer schwulen (und Schwarzen) Gemeinschaft absolut rühmlich. 

Rodney Burford als Tony Hughes (rechts) // Cr. Courtesy Of Netflix © 2022

Dass es einen großen #Aufschrei gab, weil Netflix die Serie ebenfalls mit dem Tag bzw. der Genrekennzeichnung „LGBTQ“ versah, entzieht sich hingegen meinem Verständnis. Dürfen nur (vermeintliche) Heroinnen und Heroen (Helden Kinderbuch) in die offizielle Kategorie fallen? Nur diese zur so genannten Community zählen? Das wäre schon eine sehr spezielle Spitzfindigkeit. Oder: Es ist ein sehr spezieller Geschichtsrevisionismus. Jeff Dahmer war schwul. Punkt. Die Serie stammt auch von queeren Macher*innen (Janet Mock ist etwa als Autorin und Produzentin mit an Bord, Gregg Araki inszenierte eine Folge, diverse Personen im Cast sind nicht-heterosexuell, …). Und sie zeigt schwules Leben im Amerika der 1990er-Jahre. Mit dem Canceln dieser Zuordnung wurde auch den jungen Schwarzen schwulen Männern, die hier durchaus einfühlsam mit ihren Sorgen (und denen der Familien) porträtiert werden, die Zugehörigkeit zur LGBTIQ-Community abgesprochen. Mensch, toll…

https://www.youtube.com/watch?v=kzE0f_-TsjU

Dahmer – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer jedenfalls ist nahezu vorbehaltlos zu empfehlen, wenn es auch harter Tobak ist. Für Freund*innen und Fans von True-Crime-Formaten in jedem Fall ein Muss, für Murphy-Fans sowieso und allen anderen sei gesagt: Das Grauen spielt sich eher auf einer mentalen als einer bildlichen Ebene ab. 

AS

PS: Apropos Erfolg: Dahmer – Monster war so stark, dass sie gar Squid Game als erfolgreichste Netflix-Eigenproduktion überholte. Dies hielt allerdings nur kurzfristig an, denn mittlerweile hat sich die MysteryDramedy Wednesday um die Internatszeit der Addams-Family-Tochter auf Platz eins gesetzt.

PPS: Wie häufig, empfehlen wir die Serie in englischer Sprache zu schauen, da vor allem Peters’ Dahmer extrem unter die Haut geht. 

Dahmer – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer; USA 2022; kreiert von Ryan Murphy und Ian Brennan; Musik: Nick Cave, Warren Ellis; Drehbuch: Ryan Murphy, Ian Brennan, Janet Mock, David McMillan, Reilly Smith, Todd Kubrak; Regie: Carl Franklin, Clement Virgo, Jennifer Lynch, Paris Barclay, Gregg Araki; Produktion: Ryan Murphy, Ian Brennan, Janet Mock, Carl Franklin, Alexis Martin Woodall, Eric Kovtun, Evan Peters; Darsteller*innen: Evan Peters, Richard Jenkins, Molly Ringwald, Niecy Nash-Betts, Michael Learned, Michael Beach, Dia Nash, Rodney Burford, Shaun J. Brown, Penelope Ann Miller, Kieran Tamondong, Jeff Harms, David Barrera, Blake Cooper Griffin, Dyllón Burnside, u. v. a.; zehn Folgen à ca. 45–63 Minuten; FSK: 18; seit dem 21. September 2022 auf Netflix 

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert