Gibt es Weiblichkeit?

Die Philosophin Lina Bertola gibt in „Kill Venus!“ eine überraschende Antwort, die einleuchtet und sich dennoch seltsam anfühlt: Sie operiert die Weiblichkeit aus dem Frau-Sein heraus und pflanzt sie in alle Geschlechter ein.

Von Nora Eckert

Die meisten Menschen, wenn nicht alle, dürften die Frage, ob es Weiblichkeit gebe, mit einem klaren Ja beantworten, um sich sogleich eine Frau vorzustellen, die in dieser Weiblichkeit aufgeht, ausgenommen vielleicht Feminist*innen, die wohl nicht ganz unberechtigt einen geächteten Essenzialismus wittern. Doch Lina Bertola begreift Weiblichkeit als ein bestimmtes Verhältnis zur Welt und losgelöst und unabhängig von bestimmten Körpern, also vor allem nicht als eine geschlechtliche Zuordnung. Deshalb gilt für sie, Frau und Mann können beide Weiblichkeit besitzen oder anders gesagt, allen Menschen ist Weiblichkeit zugänglich und potentiell verfügbar. Indem Weiblichkeit allein der Frau zugeschrieben wurde, konnte es zum Verdikt ihrer Unterlegenheit gegenüber dem Mann werden, mutmaßt die Philosophin. Womit sich die Frage stellt, was genau meint Bertola mit Weiblichkeit, die sie nicht mit dem Frau-Sein identifiziert?

Nachzulesen sind ihre Gedanken in einem handlichen und unbedingt lesenswerten Buch, das kürzlich im Schwabe Verlag mit dem ein wenig reißerisch klingenden Titel Kill Venus! erschienen ist und im Untertitel zugleich die Aufgabe verrät, die sich die Schweizer Philosophieprofessorin gestellt hat, nämlich das in Männern und Frauen verratene Weibliche zu befreien. Es gehe ihr darum, das „weibliche Prinzip“ von „seiner zweideutigen und irreführenden Benennung zu befreien“. Ein großes Missverständnis sei jedenfalls die Gleichsetzung des Weiblichen mit dem Frau-Sein. Für Bertola begann das Missverständnis, als man anfing, den weiblichen Zugang zum Leben in den Körper der Frau einzusperren und gleichzeitig die Frau auf ihre biologische Eigenschaft zu reduzieren.

Und um endlich zu beantworten, was dieses Weibliche im Verhältnis zur Welt denn bedeute: Es sei eine „kraftvolle Lebensenergie“ in klarer Opposition zum kalten Rationalismus und einem allein vernunftgeleiteten, von Algorithmen beherrschten Denken, das bekanntlich den Männern zugeschlagen wurde. Weiblich sei ein Lebensprinzip:

„Für das Leben Sorge zu tragen erlaubt uns, das ‚Erkenne dich selbst!‘ zu pflegen, das den inneren Dialog und die Verbindung zum Anderen aufrechterhält. Auf das Empfinden zu hören, ihm Worte zu verleihen, bedeutet auch, sich neue ethische Erfahrungen zu eröffnen.“

Klar, dass dieses Lebensprinzip sich nicht mit dem Patriarchat verträgt, das die Ungleichheit der Geschlechter als Dichotomie festgeschrieben hat. Deshalb brauchen wir heute Männer, so Bertola, „die dem Patriarchat feindlich gesinnt sind, die nicht die Macht, sondern den Respekt hochhalten“. Und so setzt die Gleichheit der Geschlechter die „Überwindung des Dualismus von Mann und Frau“ voraus. „Subjekt werden setzt die Überwindung jenes Denkhorizontes voraus, innerhalb dessen die Frau immer als das Andere des Mannes gedacht war.“ Unüberhörbar schwingt hier die Lektüre von Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht nach. Wobei Bertola betont, das weibliche Prinzip befreien sei etwas anderes als die Stimme der Frauen befreien. Es geht also um mehr als um Frauenemanzipation und um eine gesetzlich festgeschriebene Gleichberechtigung und Gleichbehandlung. Gefragt ist ein neues Denken, das irgendwann in der Menschheitsgeschichte vor der Entstehung des Patriarchats wohl schon einmal existierte, und mit der Trennung von Körper und Seele, Gefühl und Vernunft verlorenging.

Während der Mann die Ideen generiere und so angeblich Stabilität, Ordnung und Vernunft schaffe, stehe die gebärende Frau in ihrer Körperlichkeit für das „Chaos der erlebten Welt und der lebenden Materie, die sich in Geburt und Tod wandelt“. Womit das Erleben der Frauen „an das Universum der Gefühle delegiert“ werde. Aber es ist eben diese Trennung von Mann=Geist und Frau=Materie, die zur Abwertung der Frau führte und bei dem uns Menschen etwas Elementares abhandenkam. Bertola argumentiert für die Abschaffung eines solchen Differenz-Denkens. Was schlägt sie stattdessen vor? Auf jeden Fall die Rückgewinnung unserer Körperlichkeit und die Fähigkeit, in dessen Natur hineinzuhorchen, und damit verbunden, die Verbannung des Eros aus dem Körper aufzuheben.

„Das erzeugende Prinzip aus dem Leben auszuklammern bedeutet, wie schon angedeutet, die Erfahrung des Fühlens mit all seinen Nuancen auszuschließen: uns als Körper fühlen, seine Stimme hören; die Natur hören, die uns empfängt und die wir in uns empfangen; den Körper des Anderen spüren, der in uns lebt und uns vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Zugehörigkeit befragt.“

Eros sieht Bertola schon lange im Exil – „diese große Metapher des Wünschens und Begehrens, die so wichtig für den Sinn des Lebens ist“. Ich stimme der Autorin darin gerne zu, und bleibe doch ratlos zurück bei der Frage, wie Eros wieder in unsere Welt zurückgelangen könnte. Mit Sicherheit nicht durch einen gesellschaftspolitischen Aktionsplan und sozusagen auf dem Verordnungswege, denn worum es hier geht, kann nur bei jedem einzelnen Menschen als eine Einsicht beginnen, indem wir lernen, wieder „Körper zu werden“:

„Das Weibliche in unseren Männer- und Frauenleben annehmen bedeutet, uns auf die unsicheren, unerforschten Wege in eine neue Lebensgrammatik zu begeben, die allem gegenüber offen ist, was über die Algorithmen der allzu berechnenden Vernunft hinausgeht.“

Es klingt so einfach und fühlt sich dennoch seltsam an, weil es bei dem einzelnen Menschen beginnt, aber eigentlich eine Menschheitsaufgabe bedeutet, weil es die Macht der Vernunft in Frage stellt, die das Fühlen kontrolliert und an die wir so unverbrüchlich glauben, obschon sie uns zu Analphabeten in Fragen von Emotion und Gefühl macht. Die Autorin liefert keinen Ratgeber, keinen Leitfaden für das richtige Leben, aber eine Aufforderung zur Aufmerksamkeit für das Leben. Schon das ist ein Gewinn.

Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverbandes Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

Lina Bertola: Kill Venus! Das in Männern und Frauen verratene Weibliche befreien; September 2022; 102 Seiten; Klappenbroschur; ISBN 978-3-7965-4642-6; Schwabe Verlag; 18,00 €

Beitragsbild: Das Buchcover auf einem Ausschnitt einer Fotografie von Sandro Botticellis La nascita di Venere (Die Geburt der Venus).

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert