Bunt und herausfordernd aus Tradition

Kann mensch nach drei Malen eigentlich schon von Tradition sprechen? Hmm… Wir meinen schon. Schließlich lautet ein weiser Satz immerhin und so in etwa: „Wer dreimal mit dem*derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“ Und da Bücher nicht selten eine weit intimere Angelegenheit sind, sowohl für Autor*innen als auch Leser*innen, und Lesen meist über die Dauer einer heißen Nacht, eines wilden Quickies oder eines Cruising-Erlebnisses hinausgeht, dürfte und ja, MUSS, es gar so sein!

Es geht um…

Womit wir schon beim Thema wären. Also bei einem Themengebiet in unserer diesjährigen Festtagsbücherei: Nicht nur könnt ihr wild durch die bunte, vielfältige und sicherlich erneut an mancher Stelle herausforernde Liste der Vorschläge von Titeln der teilnehmenden Verlage cruisen. Nein. Inhaltlich geht es auch mal ums Cruisen, um das Begehren – männliches wie weibliches.

Leider aber auch darum, was geschehen kann, wenn vermeintliches männliches Begehren sich mit patriarchalen Strukturen vermengt. Es geht um Flucht und Ankommen; Krieg und Frieden; Geschichte und Gegenwart; um paradiesische Paukenschläge und das Verlassen des angeblichen Paradieses, um im Wien der Gegenwart frei zu sein. Freiheit ist auch in Tbilissi ein wichtiger Antrieb, wie auch in einem sowjetischen Gulag, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint.

Kann mensch sich selbst entkommen? Und wo verläuft die Grenze zwischen Schuld und Unschuld? Gut und Böse? Täter und Opfer? Diese Frage stellt sich nicht nur auf dem Mittelmeer, sondern auch in einer Altbauwohnung in Berlin-Neukölln und einer abgelegenen Pension in der Altmark.

…eigentlich alles

Es geht 2023 viel ums Überwinden… von Grenzen – sinn- und sprichwörtlich –, Traumata, Geschlechtern, Vorbehalten, Tiefen. Aber auch um das Erreichen… von Wünschen, Vorstellungen, Annahmen, Orten – duh –, Höhen. Zu guter letzt geht es aber auch um manch zukunftsweisende Vision…

Uns fiel in diesem Jahr eine verstärkte Präsenz von Graphic Novels beziehungsweise Comics auf – und gar eine Mischung aus Roman und Graphic Novel. Kinderbücher sind genau wie Bildbände natürlich auch wieder gut am Start… hach, was sollen wir sagen? Viele der von den Verlagen vorgeschlagenen Titel hatten uns schon vorher, aber einige eroberten unser Herz erst durch deren Vorstellung.

So möchten auch wir zum Jahreswechsel auf Kafkas Spuren wandeln, mehr über die Beziehung zwischen Céleste Albaret und Marcel Proust erfahren und gegen ein gesundes Flimmern, nun, auch dagegen hätten wir nichts.

In diesem Sinne – viel Freude, gutes Entdecken, Happy Chanukka und eine feine Adventszeit! Bleibt uns auch 2024 gewogen.

Mona Schroeder empfiehlt aus dem Verlag Kettler:

„Auf den Messen ein absoluter Publikumsmagnet und auch für mich immer wieder aufs Neue faszinierend: Queer Tattoo – das Überblickswerk zur queeren Tattoo-Szene mit Arbeiten von 50 internationalen Künstler*Innen. Durch die umfangreichen Bildstrecken und Porträts bietet das Buch eine bisher einzigartige Vorstellung der Werke aus der queeren Community. Die Tattoo-Künstler*Innen lösen sich mit ihrer Bildsprache von den (vermeintlichen) Standards in der traditionellen Tattoo-Szene und offenbaren einen einzigartigen und kreativen Sinn für queere Ikonographie.

Im Verzeichnis finden Interessierte eine nach Ländern sortierte Übersicht von Tattoo-Künstler*Innen aus der Community und somit eine Liste mit sicheren und inklusiven Räumen. Mit Queer Tattoo hat der Art-Director Benjamin Wolbergs zusammen mit den Berliner Tattoo-Künstlern Brody Polinsky und Florian Rudolph eine facettenreiche Werkschau geschaffen, welche immer wieder aufs Neue zum Blättern und Entdecken einlädt.“

Florian Rudolph, Benjamin Wolbergs, Brody Polinsky (Hrsg.); Andrew Burford, Stewart O’Callaghan (Autor:in:): Queer Tattoo; März 2022; Softcover; 208 Seiten; Format: 21 x 27 cm; Texte in englischer Sprache; ISBN: 978-3-86206-931-6; Verlag Kettler; 45,00 €; die Besprechung unseres Kollegen Frank Hebenstreit findet ihr hier

Lilly Ludwig, Verkaufsleitung bei Schöffling & Co., empfiehlt:

„In die Pension Bertoldi in der Altmark sind aktuell neun Gäste eingecheckt, und das eigentlich nur, weil sie alle einen Flyer mit einem Preisangebot erhalten hatten, das sie nicht ausschlagen konnten. Im Urlaub angekommen werden sie jedoch von einer äußerst strengen Pensionsleiterin und ihrer rabiaten Zimmerdame empfangen. Im Frühstücksraum ist es ihnen weder gestattet, sich selbst einen Tisch auszusuchen noch zu laute Gespräche zu führen. 

Am ersten Morgen wird verkündet, man dürfe aus vermeintlichen Sicherheitsgründen nicht mehr das Hotel verlassen. Mit Informationen wird sich zurückgehalten, erst später ist die Rede von einem angeblichen Chemieunfall. Die gemischte Gruppe an Gästen spekuliert zwischen logischen Erklärungsversuchen und uralten Ängsten, die Situation spitzt sich immer mehr zu. Susan Kreller vereint in Salzruh Elemente des Schauerromans mit der Intensität eines Kammerspiels. In düsterer und angsterfüllter Stimmung erzählt sie von dem Gefühl des Ausgeliefertseins, von Freiheit und Einschränkung und dem Umgang mit dem eigenen Schicksal.“

Susan Kreller: Salzruh; Juli 2023; 272 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-89561-029-5; Schöffling & Co.; 24,00 €; unsere Besprechung folgt

Annabel Lammers, Verlegerin im Bohem Verlag, empfiehlt:

„Schon beim ersten Bild hört und spürt man, wie es ist, wenn ein fröhliches Ferkelchen, überglücklich in romantischer Winterlandschaft beschwingt dichtend durch den glitzernden Schnee stapft. Bei so viel Freude über die Idee, Schlittschuhlaufen zu gehen, kommt die Freundin, Kuh Adelheid, mit ins Spiel. Ich habe geschmunzelt über die ‚Kuh auf dem Eis‘ und mitgerätselt, als die ungleichen Freunde geheime Botschaften bekommen, die jemand von unten ins Eis kratzt. Diese Geschichte hat so vieles, was wir an Bilderbüchern lieben: Die liebevollen, etwas schrulligen Figuren, das Abenteuer und die Überraschung. Kleine Helden und Wortwitz durch Verdreher, bei dem man auch Kinder, die schon ein wenig Lesen können, mitraten lassen kann. Also ein Winterbuch für die ganze Geschichte mit Happy End!“

„Er lief den Thymianhügel hinauf und ging zum gefrorenen Flüsschen“ // © Marius Marcinkevičius/Lina Dūdaitė/Bohem Verlag

Marius Marcinkevičius (Text), Lina Dūdaitė (Illustrationen): Adelheid & Ferkolin; Aus dem Litauischen von Saskia Drude; September 2023; 44 Seiten, vollfarbig; Hardcover; Format: 24,5 × 29,5 cm; ISBN 978-3-95939-222-8; Bohem Verlag; 18,00 €; unsere Besprechung lest ihr in den kommenden Tagen

Christian Lütjens empfiehlt aus dem Albino Verlag:

„’Mein erstes Weihnachten ohne die Familie. Sollte darüber eigentlich froh sein, Heiligabend war immer der schrecklichste Tag im Jahr‚, heißt es in Michael Roes neuem Roman Spunk. Diese zwei Sätze sagen viel über den Ich-Erzähler und dessen Haltung sowie über den direkten Tonfall des Buches. Roes erzählt die Geschichte des jungen Dachdeckers Gabriel, der sich nach seiner Lehre im Betrieb des eigenen Vaters ‚fremd macht‘, also nach altem Handwerkerbrauch auf die Walz geht. An einem Julimorgen im Jahr 1978 bricht er im westfälischen Wertherbruch auf, um drei Jahre lang nicht zurückzukehren. So verlangt es die Tradition. Sie kommt Gabriel ganz gelegen. Schon lange erdrücken ihn die Enge des Elternhauses und freie Gedanken konnte er in dem ‚Kuhkaff‘ seiner Herkunft auch nie wirklich entwickeln. Jetzt lässt er ihnen beim ‚Gelatsche‘ von Stadt zu Stadt und von Job zu Job ungehemmt freien Lauf. Und er hält sie fest. In seinem Wanderbuch, das in Gestalt des Romans Spunk in den Händen der Lesenden liegt. So gehen wir mit dem unverblümten Ich-Erzähler selbst auf Wanderschaft durch die BRD der Vorwende, nach West-Berlin, in die Schweiz, nach Italien und Frankreich. Wir folgen ihm zu den Berlinale-Premieren von Fassbinders Die Ehe der Maria Braun und Samperis Ernesto, singen mit ihm in der Schweiz den ‚Bernblues‘, werden nach einer Nacht als wilde Camper am Strand von Nizza morgens von den Wasserwerfern der Polizei in Meer gefegt, lesen Böll und Camus und finden zum Schluss in Taizé eine Art vorläufigen inneren Frieden. Auch ein Abstecher zum legendären ‚Homolulu‘-Festival in Frankfurt ist dabei. Und ein Cruising-Überfall in San Remo. Denn auch Gabriels Auseinandersetzung mit der eigenen Homosexualität ist ein zentrales Thema dieses als Wanderkladde getarnten Entwicklungsromans. Die perfekte Lektüre, um sich nach, vor oder zwischen den Feiertagen vom Gebimmel, Geblinke und Gespachtel deutscher Weihnachtsbräuche den Kopf freizupusten.

Michael Roes: Spunk; September 2023; 272 Seiten; Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen; ISBN 978-3-86300-361-6; Albino Verlag, 24,00 €; unsere Besprechung folgt

Ilona Knufinke, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im mareverlag, empfiehlt:

„Elf Jahre ist es her, seit Julie Otsukas grandioser Roman Wovon wir träumten Presse und Publikum gleichermaßen begeisterte. Die einzigartige Wir-Perspektive dieses Romans nutzt sie nun ebenfalls für den Einstieg in ihr neuestes Buch Solange wir schwimmen: Darin erklingt zunächst die Stimme eines Kollektivs schwimmender Menschen in einem unterirdischen Hallenbad. Die Schwimmer*innen sind hier alle gleich – sie unterscheiden sich einzig durch ihre Geschwindigkeit, nicht aber durch Alltägliches wie Berufe oder Kleidungsstile. Doch eines Tages taucht ein Riss am Grund des Beckens auf, und ebenso im Gedächtnis von Alice, die hier stets Trost und Halt gefunden hat.

Auf großartige Weise rückt die Autorin Alice aus dieser kollektiven Erzählperspektive in den Vordergrund. Wie Alice zunehmend in bruchstückhaften Erinnerungen schwimmt und ihre Tochter versucht, Abschied von ihrer dementen Mutter zu nehmen, das schildert Julie Otsuka aus so unterschiedlichen wie verblüffenden Perspektiven und mit der unvergleichlichen Fähigkeit, Lesende bei aller Tragik des Themas zum Lächeln zu bringen.“

Julie Otsuka: Solange wir schwimmen; Augsut 2023; Aus dem amerikanischen Englisch von Katja Scholtz; 160 Seiten; gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen; ISBN: 978-3-86648-691-1; mareverlag; 22,00 €; eine Gastrezension folgt in Kürze

Christophe Koroknai, Presse im Haymon Verlag, empfiehlt:

„Die 14-jährige Etty ist tot. Aus dem Leben gerissen durch eine sinnlose Tat. Unwiederbringlich. Es bleibt eine Leere im Leben ihrer Mutter Heide und deren zwei Freundinnen, die versuchen, ihr in dieser schrecklichen Zeit nach der Tat beizustehen; Tage und Wochen, in denen es schier unmöglich scheint, weiterzumachen, das Geschehene zu begreifen, zu ‚funktionieren‘.

Marlen Pelnys zartes und zugleich erschütterndes Buch erzählt die Geschichte eines Femizids aus der Sicht der Hinterbliebenen. Sie findet Worte für das Unaussprechliche, die Leere, die Resignation, beschreibt einfühlsam die Suche nach Antworten auf die Frage: Wie weiterleben nach so einem ungeheuren Verlust? Warum wir noch hier sind ist ein Roman der dich berührt und überrascht, der empathisch und feinfühlig eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Hoffnung und Füreinander-da-sein erzählt. Der wütende Aufschrei, die sprachliche Auflehnung gegen die Gewalt, die uns umgibt, ertönt in diesem zärtlichen und in gewisser Hinsicht auch Zuversicht spendenden Buch umso lauter.“

Marlen Pelny: Warum wir noch hier sind; September 2023; 224 Seiten; Hardcover, gebunden; ISBN: 978-3-7099-8197-9; Haymon Verlag; 19,90 €; unsere Besprechung folgt in Kürze

Janina Reichman aus dem ebersbach & simon Verlag empfiehlt:

„Ethel Smyth war eine Naturgewalt. Ihren brennenden Wunsch, Komposition zu studieren, setzte sie mit einem Hungerstreik gegen ihren Vater durch, über die Geringschätzung Brahms‘ gegenüber ihrer Arbeit konnte sie nur lachen, die Aufführung ihrer Werke erkämpfte sie sich, ihre Bisexualität lebte sie selbstverständlich aus, und mit ihrer unbekümmerten Art verursachte sie beinahe einen Skandal am deutschen Kaiserhof – und dann am britischen Königshaus. Eine Unzahl an Hindernissen überwand sie auf ihrem Weg zur professionellen Komponistin mit kaum je erschöpflicher Energie, Einfallsreichtum und Witz. Zwischendurch arbeitete sie im ersten Weltkrieg als Röntgenassistentin und engagierte sich später zwei Jahre lang für die englische Suffragettenbewegung, wobei die zwei Höhepunkte dieses Engagements emblematisch für sie sind: Sie komponierte die Hymne der Bewegung, The March of Women, und sie verbrachte für einen Steinwurf auf eine Polizeistation zwei Wochen im Gefängnis. Als sie ertaubte, fing sie an, ihre Memoiren zu schreiben – und war mit dem ersten Buch so erfolgreich, dass ihm nicht nur fünf weitere folgten, sondern auch ihre Musik endlich zu mehr Anerkennung fand. Eine Zusammenstellung aus den Memoiren ebenso wie die entsprechende Übersetzung hat Heddi Feilhauer vorgenommen und damit uns allen den großen Dienst erwiesen, dass wir nun in einem kompakten Band in das wilde Leben der Ethel Smyth eintauchen können.“

Ethel Smyth: Paukenschläge aus dem Paradies. Erinnerungen; August 2023; 256 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-86915-286-8; ebersbach & simon; 24,00 €

Barbara Karpf empfiehlt aus dem Kehrer Verlag:

„Als wir 2018 das Projekt To Survive on This Shore (An diesem Ufer überleben) zum ersten Mal sahen, waren wir vorsichtig begeistert. Begeistert, da die Kraft der Porträts der Fotografin Jess T. Dugan schon unmittelbar spürbar wird, bevor man noch die von der Sozialwissenschaftlerin Vanessa Fabbre einfühlsam zusammengestellten Lebensgeschichten der Porträtierten liest. Vorsichtig, da wir uns fragten, ob ein solcher Bild-Textband Erfolg haben könnte. Schließlich kommen in unserer Kultur Bilder von älteren Transsexuellen so gut wie nicht vor und die wenigen vorhandenen sind meist eindimensionale Darstellungen. Dugan und Fabbre sind über fünf Jahre hinweg durch die USA gereist, um ein facettenreiches Bild dieser gesellschaftlichen Gruppe zu zeigen. Ihr Buch zeichnet die Kämpfe und Freuden einer älter werdenden Generation auf und reflektiert darüber, was es bedeutet, trotz scheinbar unüberwindlicher Hindernisse authentisch zu leben. Sehr berührend und dabei auch informativ.

Heute freuen uns riesig, dass dieses Buch nun bereits in der 3. Auflage vorliegt und die gleichnamige Ausstellung seit fünf Jahren erfolgreich durch Museen und Gemeinden in den USA tourt.“

Jess T. Dugan und Vanessa Fabbre: To Survive on This Shore. Photographs and Interviews with Transgender and Gender Nonconforming Older Adults; 3. Auflage 2023; Halbleineneinband; 164 Seiten, 79 Farbabbildungen; Format: 24 x 30 cm; Englisch; ISBN: 978-3-86828-854-4; Kehrer Verlag; 58,00 €; mehr zum Projekt findet ihr hier

Lena Dorner empfiehlt aus dem Zsolnay Verlag:

Barbara Bleisch

„Die Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet, hat von Platon bis Nietzsche oder Foucault die Denker beschäftigt. Philosophin Lisz Hirn stellt diese Frage neu, indem sie sich in vier Kapiteln vier Themen widmet bei denen es besonders ‚menschelt‘: Unserem Essverhalten, den Geborenwerden und Sterben und unserer (vermeintlichen) intellektuellen Potenz. Und wie verändert sich unsere Identität, wenn sie einer künstlichen Intelligenz begegnet?

Der überschätzte Mensch ist ein Buch für alle, die sich mit der Frage ‚Was bedeutet es, Mensch zu sein?‘ auseinandersetzen und noch viel wichtiger, sich Gedanken machen, wie es weitergeht, mit diesem Mensch-Sein. Lisz Hirn verleiht der Philosophie Aktualität, indem sie eine der ältesten Fragen im Kontext unserer Zeit behandelt.  Wenn wir Tiere nun nicht mehr essen wollen/sollen, was bedeutet das für das menschliche Selbstverständnis? Was machen KI, Smartphone und ChatGPT mit uns als Mensch?

Bei ihrer Neubewertung des Menschseins ist Lisz Hirns Blick auf die Menschheit unbeschönigt, aber niemals grausam, denn sie weiß um unsere Verletzlichkeit.“

Lisz Hirn: Der überschätzte Mensch – Anthropologie der Verletzlichkeit; September 2023; 126 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-552-07343-2; 20,00 €

Florian Welling, Lektor beim Wallstein Verlag, empfiehlt:

„Wie kaum ein anderer hat sich Hartmut Binder ein halbes Jahrhundert lang dem Leben und Werk Franz Kafkas gewidmet, in dem Bestreben, dem Prager Autor durch Untersuchungen der Lebensumstände und durch eindringliche Textanalysen auf die Spur zu kommen. Der reich bebilderte Band Auf Kafkas Spuren versammelt nun 54 der Arbeiten Binders, die in ihrer thematischen Vielfalt ein eindrückliches Bild von Kafka und seinem Schreiben liefern.“

Hartmut Binder: Auf Kafkas Spuren; Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle; August 2023; 1004 Seiten, mit 387 farb. Abb.; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; Format 21 x 28 cm; ISBN: 978-3-8353-5421-0; Wallstein Verlag; 89,00 €

Der Berlin Verlag empfiehlt:

„Manche Bücher ziehen in den Bann, saugen uns ein, und das Erleben des Erzählten wird zu etwas sehr Persönlichem und Individuellen. Doch je länger uns die Geschichte im Kopf bleibt, umso mehr wächst das Bedürfnis, sich über den Text auszutauschen und mit anderen über das zu sprechen, was der Text in uns ausgelöst und welche Gedanken er in uns angestoßen hat. Genau so ein Buch ist Sandra Hoffmanns Roman Jetzt bist du da. Sie erzählt sowohl von weiblichem Begehren als auch von der tiefen Anziehung zwischen einem jungen Mann und einer mehr als doppelt so alten Frau. Ihr ist ein Gegenentwurf zu Nabokovs Roman Lolita gelungen – nicht etwa deshalb, weil die Geschlechter vertauscht sind, sondern aufgrund seiner radikal anderen Haltung, die nach Verantwortung nicht nur fragt, sondern sie einfordert. Die Selbstverständlichkeit, mit der Jetzt bist du da vom Begehren auch dann erzählt, wenn wir von diesem Begehren nichts wissen wollen, uns seiner schämen, davor die Augen verschließen oder es leugnen, ist eine Kunst für sich.“

Sandra Hoffmann: Jetzt bist du da; Juni 2023; 240 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; IBSN: 978-3-8270-1494-8; Berlin Verlag; 24,00 €

Lisa Bluhm, Leiterin Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei Hoffmann & Campe, empfiehlt:

„Mit diesen ersten Zeilen aus ihrem neuen Kinderbuch Irgendetwas, irgendwann offenbart Amanda Gorman die große Bedeutung kleiner Gesten. Die Bestsellerautorin und Lyrikerin macht deutlich, dass wir alle etwas bewegen können, wenn wir nur wollen. Dass wir mit dem Glauben an uns selbst und mit Hilfe anderer gemeinsam die Welt verändern können. Bebildert ist Irgendetwas, irgendwann mit hinreißenden Zeichnungen von Star-Illustrator Christian Robinson.

Mit ihrem Gedicht The Hill We Climb schenkte Amanda Gorman vor knapp drei Jahren Menschen weltweit eine einzigartige Botschaft der Hoffnung und Zuversicht. Irgendetwas, irgendwann knüpft an diese Botschaft an und spricht Jung und Alt Mut zu – Mut, den wir in diesen schwierigen Zeiten alle benötigen.“

Amanda Gorman: Irgendetwas, irgendwann; mit Illustrationen von Christian Robinson; Oktober 2023; übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Daniela Seel und Marion Kraft; ISBN: 978-3-455-01697-0; Hoffmann und Campe; 16,00 €

Sebastian Wolter, Verleger des KATAPULT-Buchverlags, empfiehlt:

Witold Szabłowski ist ein mehrfach ausgezeichneter Reporter und hat selbst in den Nullerjahren in Restaurants gearbeitet und dabei bemerkt, was Köche doch für faszinierende Menschen sind: Dichter, PhysikerPsychologen, Therapeuten und vieles mehr. Außerdem sind sie, wenn sie für Regierungen arbeiten, ganz nah an den Zentren der Macht. Sie bekommen also sehr viel mit. Für Die Köche des Kreml hat er Köchinnen und Köche (bzw. deren Angehörige und Nachkommen) aus 100 Jahren russischer Geschichte aufgesucht, um mit ihnen zu reden. Das ist oft erschütternd, z. B. wenn die Köchinnen aus Tschernobyl davon berichten, wie es war, die Arbeiter zu versorgen, die die strahlende Ruine des Kernkraftwerks sichern sollten. Oder wenn er zwei Überlebende der von Stalin in der Ukraine 1932/33 ausgelösten Hungersnot erzählen lässt. Man erfährt zudem, wie Wladimir Putin die Biografie seines Großvaters aufgemotzt und so für seine Propaganda eingesetzt hat. Witold Szabłowski zeigt die Mechanismen russischer Herrschaft auf besondere Weise – mit Blick durch die Küchentür.“

Witold Szabłowski: Die Köche des Kreml. Wie Russland mit Essen Politik macht; Oktober 2023; Aus dem Polnischen von Paulina Schulz-Gruner; 400 Seiten; Hardcover, gebunden; ISBN: 978-3-948-92378-5; 26,00 €; unsere Besprechung folgt

Tanja Raich, Programmleiterin im Leykam Verlag, empfiehlt:

„Schon mal von einem Leben im Matriarchat geträumt? Dann auf nach Engelhartskirchen. Eva Reisingers Protagonistin Anna-Maria zieht mit ihrer neuen Liebe von Berlin in ein oberösterreichisches Dorf. Was zunächst nach Kühe-Knödel-Kirchturmglocken-(Alb-)Traum aussieht, entpuppt sich bald als Matriarchat. Hier geben sich die Frauen ganz anders, als Anna-Maria es kennt, schleppen Bierkisten, lachen laut und ungeniert. Hier gibt es sogar eine Pfarrerin und so nebenbei verschwinden immer wieder ein paar Männer. Eine rasant erzählte Utopie, mit vielen Aha- und Oha(!)-Erlebnissen!“

Eva Reisinger: Männer töten; August 2023; 288 Seiten; Hardcover, gebunden; ISBN: 978-3-7011-8297-8; Leykam Verlag; 24,50 €

Claudio Barandun, Verleger von Edition Moderne, empfiehlt:

„Eliza ist eine alleinerziehende Mutter und Spoken-Word-Performerin in den Dreissigern. Sasha, eine Mittzwanzigerin, die sich nach einer neuen Richtung im Leben sehnt, ist gerade wieder bei ihren Eltern eingezogen und hält sich als Sexarbeiterin über Wasser. Sasha bewundert Eliza, möchte ihr nah sein und eine Beziehung mit ihr haben. Und dann ist da noch Andrew, ein gefeierter Star im Fernsehen, trotzdem einsam und abends allein in der Bar, er erkauft sich Nähe mit Geld … Die Graphic Novel MENSCHEN VERTRAUEN geht der Frage nach, wie weit wir bereit sind zu gehen, um Intimität zu finden, in einer Gesellschaft, die das immer weniger begünstigt.
Jede Seite von Tommi Parrish feinfühliger Erzählung mutet an wie ein Gemälde. Martin Reiterer von Augustin – Erste österreichische Boulevadzeitung schreibt darüber: ‚Als sollte die Sorgfalt den Figuren etwas von jener Würde zurückgeben, die ihnen ihre Lebensumstände unablässig streitig zu machen scheinen.'“

Tommi Parrish: MENSCHEN VERTRAUEN; März 2023; Aus dem Englischen von Christoph Schuler; 208 Seiten, durchgehend farbig illustriert; Hardcover; Format 17 x 22 cm; ISBN: 978-3-03731-249-0; Edition Moderne; 29,00 €

Svenja Müller, Marketing beim CONBOOK Verlag, empfiehlt:

„Ob Stadthotel oder Baumhaus, Wellness-Resort oder Bauernhof: Die Gastgeber:innen dieser handverlesenen Orte setzen sich für einen schonenden Umgang mit Ressourcen ein, kochen frisch und regional und engagieren sich für Natur und Menschen in ihrer Region. Die perfekte Inspiration für alle, die umweltbewusst reisen wollen – ohne Kompromisse. Für mich ist das Durchblättern schon ein kleiner Urlaub.“

Franziska Diallo & Judith Hehl: Good Places for Good People; Mai 2023; 256 Seiten; Premium-Paperback; ISBN: 978-3-95889-449-5: CONBOOK Verlag; 24,95 €

Jacqueline Frei, Presse und Veranstaltungen beim NordSüd Verlag, empfiehlt:

„Der persische Mystiker und Dichter Rumi zählt zu den bekanntesten und am meisten gelesenen Dichtern weltweit. Aber auch der bedeutendste Dichter war einmal ein Kind. Als Kind begeistert sich Rumi für Vögel und Bücher. Später wird aus ihm ein Gelehrter. Doch erst der Verlust seines besten Freundes Shams führt Rumi zu seiner wichtigsten Erkenntnis: Die Liebe ist in uns und überall.
Die iranische Illustratorin Rashin setzt Rumis Weisheit und Wärme ein berührendes Denkmal und entführt uns mit ihren ornamentalen Bildern ins persische Reich des 13. Jahrhunderts. Rumis Geschichte und seine Poesie sind zeitlos.“

Rashin Kheiriyeh: Rumi. Dichter der Liebe; September 2023; Übersetzt von Thomas Bodmer; 40 Seiten, durchgehend farbig illustriert; Hardcover, gebunden; Format: 21,5 x 28 cm; ISBN: 978-3-314-10653-8; NordSüd Verlag; 18,00 €

Svenja F. Bischoff, Lektorin im Wallstein Verlag, empfiehlt:

Der Diener des Philosophen ist nicht nur ein kluges und virtuoses Kammerspiel, sondern auch gewitzt und unterhaltsam geschrieben. Voller Ironie und mit großem philosophschen Wissen durchleuchtet Heidenreich die Abgründe der Aufklärung und lässt uns eintauchen in das Leben Immanuel Kants. Ein großes Lesevergnügen!“

Felix Heidenreich: Die Diener des Philosophen; Juli 2023; 149 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-8353-5530-9, 22,00 €

Das Lektorat des Kampa Verlags empfiehlt:

„In Matthias Wittekindts Reihe um Kriminaldirektor a. D. Manz erinnert sich ein pensionierter Polizist an alte Fälle, die ihn nie ganz losgelassen haben. Klar, dass wir gebannt den Ermittlungen folgen und auf die Auflösung warten, aber in diesen Romanen steckt noch so viel mehr: Immer gibt es auch ein Stück Berlin-Geschichte zu entdecken, jedes Mal erfahren wir ein bisschen mehr aus dem Privatleben des Ermittlers und aus seiner verschlungenen deutsch-deutschen Familiengeschichte. Das alles erzählt Wittekindt mit seinem ganz eigenen, unverwechselbaren Sound, der manchmal ein wenig an Simenon erinnert. Im neuen Band Fünf Frauen (loslegen kann man mit jedem) muss Manz an das Jahr 1983 zurückdenken, als er und sein Kollege Borowski in eine Neuköllner Altbauwohnung gerufen wurden, in der die schon halb verweste Leiche eines Pfarrers entdeckt worden war. Warum warteten die Nachbarn so lange, bis sie die Polizei alarmierten? Privat stand der dreifache Vater vor der Herausforderung, die Töchter alleine zu versorgen, während seine Frau auf Dienstreise war. Vieles, was in den Köpfen der Mädchen vor sich ging, hat er damals nicht begriffen, und tut es bis heute nicht, wie sich auf der Konfirmationsfeier seines Enkels Matti zeigt, die die Erinnerungen überhaupt erst wachruft. Augenzwinkernd führt Wittekindt patriarchale Verhaltensweisen seiner Hauptfigur vor Augen, die besonders Manz’ Frau und seinen Töchtern ziemlich peinlich sind. Perfekt ist er nicht, dieser sonst so kluge und einfühlsame Ermittler, aber dafür umso realistischer.“ 

Matthias Wittekindt: Fünf Frauen. Ein alter Fall von Kriminaldirektor a. D. Manz; 352 Seiten; Gebunden mit Farbschnitt; ISBN: 978-3-311-12572-3; Kampa Verlag; 19,90 €

Hannah Puchelt, Lektorin bei den kunstanstiftern, empfiehlt:

„Mit Flimmern hat die Autorin und Illustratorin Verena Hochleitner eine spannende Kombination aus Jugendroman und Graphic Novel geschaffen. Die Leser*innen begleiten drei Jugendliche, die alle mit verschiedenen Problemen zu kämpfen haben: Sydney hat wieder mal einen Umzug hinter sich und hofft, in der neuen Stadt endlich richtig anzukommen und etwas über seine eigene Familiengeschichte zu erfahren. Nico fühlt sich nur an der Kletterwand selbstbewusst und sicher; in ihrer Klasse bleibt sie meistens lieber still im Hintergrund. Und Katha kümmert sich zuhause um ihre depressive Mutter, verrät das aber niemandem. In der Schule ist sie zwar Klassenbeste, verschließt sich aber den anderen gegenüber und bleibt lieber für sich. Doch ein waghalsiger Sprung aus einem Bus, ein Ladendiebstahl und die Pizzeria Anarchia in Kathas Haus sorgen dafür, dass sich Sydney, Nico und Katha miteinander anfreunden.
Neben Freundschaft, (queerer) Liebe und der Suche nach der eigenen Identität geht es im Roman auch um soziale Ungerechtigkeit und Gentrifizierung. In meinen Augen zwei wichtige und hochaktuelle Themen, denen Verena Hochleitner mit einer packenden Geschichte und ausdrucksstarken Illustrationen einen Raum im Jugendbuch gibt.“

Verena Hochleitner: Flimmern; August 2023; 352 Seiten; Flexcover mit Fadenheftung, Druck in Sonderfarben; Format: 17 x 23 cm; ISBN: 978-3-948743-09-3; kunstanstifter verlag; 26,00 €

Isabella Eckerstorfer, Verlagsassistenz bei Kremayr & Scheriau, empfiehlt:

„Adam und Eva, aber im Wien der Gegenwart: Wer zu Weihnachten nicht nur in der Vergangenheit schwelgen, sondern von Selbstbestimmung und Emanzipation lesen möchte, dem:der sei Simone Hirths Roman Malus wärmstens ans Herz gelegt.

In diesem literarischen Gedankenexperiment hat Eva genug vom Paradies und der missbräuchlichen Beziehung mit Adam – stattdessen landet sie unversehens im Wien unserer Zeit. Und sie googelt erst mal: Scheidungsberatung.

Simone Hirth rechnet gnadenlos ab mit dem patriarchalen Erbe unserer Gesellschaft und öffnet die Tür zu einem neuen Lebensentwurf für Eva. Was, wenn sie die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben hätte?“

Simone Hirth: Malus; August 2023; 176 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-218-01410-6; Kremayr & Scheriau; 24,00 €; unsere Rezension lest ihr in Kürze

Paula Zachert, Pressebetreuung Insel Verlag, empfiehlt:

„Zärtlich, humorvoll und originell: Diese Graphic Novel zeigt die Beziehung von Céleste Albaret und Marcel Proust, für den sie als Haushälterin und Sekretärin arbeitet.

Im Jahr 1914, Céleste Albaret ist 23 Jahre alt, beginnt sie für Marcel Proust zu arbeiten und wird bald unentbehrlich für ihn. Sie bewundert und umsorgt ihn, erträgt seine Spleens, bereitet seinen Milchkaffee zu, vertröstet Besucher:innen und erfindet schließlich die berühmten ›Paperolles‹ für seine überbordenden Korrekturen in den Druckfahnen seines siebenbändigen Lebenswerks À la recherche du temps perdu. Bis zu seinem Tod 1923 bleibt sie an seiner Seite.

Sprechende Bilder in leuchtenden Farben: Die vielfach ausgezeichnete französische Zeichnerin Chloë Cruchaudet erweist mit ihrer Graphic Novel zwei außergewöhnlichen, gegensätzlichen Persönlichkeiten Hommage.

Céleste – »Gewiss, Monsieur Proust« ist ein Buch, das man sich von der:dem Beschenkten sofort selbst ausleihen möchte.“

Chloé Cruchaudet: Céleste – »Gewiss, Monsieur Proust«; November 2023; Aus dem Französischen von Andrea Spingler; 124 Seiten, durchgehend farbig illustriert; Hardcover, gebunden; ISBN: 978-3-458-68307-0; Insel Verlag; 25,00 €

Tomas Rensing empfiehlt aus dem Coppenrath Verlag:

„Das Buch hat mich auf der Bahnfahrt von Münster nach Hamburg begleitet – und mich mein Handy vergessen lassen. Und das soll was heißen! Es geht um eine Vater-Sohn Beziehung. Sie haben kein ‚richtiges Zuhause‘. Nur einen Wohnwagen. Werden überall verstoßen. Bis sie zu einem Müllberg kommen, den Jakob den ‚Berg der vergessenen Dinge‘ nennt. Denn er ist ein kleiner Erfinder. Kuriose Lampen. Originelle Tische. Wundersame Objekte. Doch dann kommt Ed, sein Vater, ins Gefängnis. Wie gut, dass Jakob Sisi kennenlernt. Ein Mädchen aus reichem Hause – doch Reichtum ist nicht alles. Gemeinsam versuchen sie, Ed zu befreien. Nichtseßhaftigkeit. Arm und Reich. Nachhaltigkeit. Freundschaft. Träume – ein Füllhorn an Themen mit großartigen Illustrationen und Zeichnungen, was jedes Kind ab 6 Jahren begeistert … aber auch ab 8 und mit 10.“

Mirjam Oldenhave & Rick de Hass: Jakob und der Berg der vergessenen Dinge; Juni 2023; 208 Seiten; Hardcover/Pappband; ISBN: 978-3-649-64408-8; Coppenrath Verlag; 16,00 €

Oliver Klemp von Galiani Berlin empfiehlt:

„Die berufliche Existenz des Elitephysikers Georgi Demidow wurde zweimal vernichtet. 1938 wurde er grundlos verhaftet und überlebte 14 Jahre im Gulag und begann dann zu schreiben. Eine Geschichte, die den Wahnsinn des sowjetischen Terrors in ein packendes Stück Literatur bannt. Ähnlich dem Autor selbst wird der Protagonist verhaftet, ohne dass er sich eines Vergehens bewusst wäre. Er gerät in die Mühlen eines Justizapparats, der nicht nach Schuld oder Unschuld fragt. Doch gerade als Demidows Protagonist vollkommen hoffnungslos zu werden droht, bekommt er eine Idee, mit der er den Apparat zu überlisten hofft. Er gibt sich als Fone Kwas. Als den Narren, den Trottel, den Idioten. Ein Buch wie ein Anker zum Festhalten in Zeiten wie diesen.“

Georgi Demidow: Fone Kwas oder Der Idiot; November 2023; Übersetzt von: Irina Rastorgueva, Thomas Martin; 208 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-86971-288-8; Galiani Berlin; 22,00 €

Sarah Nehring, Pressebetreuung bei Reprodukt; empfiehlt:

DIEBIN ist die herzerwärmende Liebesgeschichte von Ella und Maddy. Zwischen wilden Partys und dem bevorstehenden Abitur finden die beiden jungen Frauen nach langer Schwärmerei endlich zueinander. Doch sie müssen feststellen, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes noch ein Päckchen mit sich herumtragen, denn nicht nur Ella hat anscheinend peinliche Anfälle von Kleptomanie, auch Maddy steckt hier und da fremde Sachen in ihre Tasche. Und so beschließen die beiden, sich ihres Päckchens zu entledigen und tüfteln einen Plan aus, um ihr Diebesgut unbemerkt zurückzugeben.

Lucie Bryon schreibt und zeichnet eine süße, witzige Feelgood-Romanze mit wunderbar liebenswerten Charakteren. Es ist eine Geschichte mit Wohlfühlatmosphäre, perfekt für eine gemütliche Zeit zwischen den Jahren und um den Sorgen des Alltags zu entfliehen. Dieser Comic wärmt das Herz.“

Lucie Bryon: DIEBIN; Oktober 2023; Aus dem Französischen von Silv Bannenberg; 208 Seiten, durchgehend farbig illustriert; Klappenbroschur; Format: 17 x 21,5 cm; ISBN: 978-3-95640-388-0; Reprodukt; 20,00 €; eine Rezension folgt

Bettina Deininger, Verlegerin austernbank verlag, empfiehlt:

„Wir empfehlen Der Schleuser von Stéphanie Coste (aus dem Französischen von Katharina Triebner-Cabald) für alle, die sich für eine andere Perspektive öffnen wollen bei diesem Thema, das so viele Menschen entzweit. Der kurze, intensive Roman erzählt aus der Sicht des Antihelden Seyoum, wie das Schleusergeschäft übers Mittelmeer abläuft. Es ist keine Entschuldigung für Täter, die selbst Opfer sind, sondern stellt ganz grundsätzlich die Frage nach unserer Menschlichkeit.“

Stéphanie Coste: Der Schleuser; Juli 2023; aus dem Französischen von Katharina Triebner-Cabald; 130 Seiten; Hardcover, gebunden; ISBN: 978-3-946687-04-7; austernbank verlag; 19,00 €

Bettina Reinemann, Leitung Presse und Kommunikation oekom, empfiehlt:

„Mein diesjähriger Buchtipp entführt euch in eine Welt aus der Zukunft, genauer gesagt ins Jahr 2045. Nach den turbulenten Dekaden der 2020er– und 2030er-Jahre – geprägt von Wetterextremen, Superdürren und einem globalen Finanzcrash – hat die Menschheit unsere Welt endlich zu einem besseren Ort gemacht – einem Ort, der schöner, grüner und lebenswerter ist. Dieses Zukunftsszenario wird auf über 40 atemberaubend gestalteten ‚Zukunftsbildern‘ präsentiert. Sie erwecken sogenannte ‚Realutopien‘ zum Leben, wie z. B. Permakultur, Schwammstädte, Superblocks, Gemeinwohlbanken oder das Verantwortungseigentum. Lösungen, die es heute bereits gibt. Das macht Hoffnung – leider oft bitter nötig in diesen krisenhaften Zeiten… Das Buch ist Sachbuch, Bildband und Erzählung zugleich, ein Zukunftsreiseführer für alle, die sich fragen, wie ein gutes Leben in Zukunft aussehen kann und auch, ob es überhaupt möglich ist. Die Antwort lautet: Ja!“

Stella Schaller, Lino Zeddies, Ute Scheub, Sebastian Vollmar, Reinventing Society (Hrsg.): Zukunftsbilder 2045 – Eine Reise in die Welt von morgen; Juli 2023; 176 Seiten, durchgehend bebildert; Hardcover, gebunden; ISBN: 978-3-96238-386-2; oekom verlag; 33,00 €; unsere Besprechung lest ihr in Kürze

Anna Jung, Co-Verlegerin und Presseleitung bei Voland & Quist, empfiehlt:

„Dieses Buch ist eine Wucht, ein Abenteurerroman erster Klasse, eine Kreuzung aus Seefahrerroman (auch wenn kein Meer und kein Matrose vorkommt) und 100 Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez.

Temur Babluani, gefeierter georgischer Filmemacher, Jahrgang 1948, erfüllt mit seinem Romandebut Sonne, Mond und Kornfeld alles, wonach ich mich lesetechnisch momentan sehne: eine richtig gute Geschichte, so spannend erzählt, dass man sich umblätternd beim Zähne zusammenbeißen erwischt. Dschude, der Held der Geschichte, zu Beginn 17 Jahre alt, gerät von einem haarsträubenden Zufall in den nächsten, immer weiter bringt es ihn von Tbilissi, wo er aufgewachsen ist und wo seine große Liebe Manutschaka lebt, weg. Gefängnis, Arbeitslager, Fluchten, neue Identitäten – am Leben hält ihn nur die unerschütterliche Liebe zu Manutschaka. Wird sie auf ihn warten? Und warum sucht sein bester Freund Chaim, der ihm das alles letztendlich eingebrockt hat, nicht nach ihm? Lebt er überhaupt noch?

Nach einer mehrere Jahrzehnte andauernden Land-Odyssee, die 1968 beginnt und durch die wir ihn begleiten, kehrt er, fast zahnlos und völlig verarmt, zurück in ein völlig verändertes Georgien. Wird er, wie ihm eine Wahrsagerin voraussagt, wirklich noch 100 Jahre alt und sehr, sehr reich werden?

Ich werde die Weihnachtsfeiertage jedenfalls nutzen, um das Buch ein zweites Mal zu lesen! Und das trotz fast 600 Seiten. Das sagt doch alles!“

Temur Babluani: Sonne, Mond und Kornfeld; Oktober 2023; Aus dem Georgischen von Rachel Gratzfeld; 546 Seiten; Hardcover, gebunden; ISBN: 978-3-863-91348-9; Voland & Quist; 28,00 €; eine Rezension folgt

Christian Lütjens empfiehlt aus dem Männerschwarm Verlag:

„Zum Advent kommt bei Männerschwarm mal wieder ein Comic aus der Druckerei. Der stammt diesmal nicht von Ralf König, wurde aber von ihm mit initiiert. Horny & High Vol. 1 ist der Auftakt einer auf sieben Alben angelegten Serie des britischen Zeichners Ed Firth, die sich mit den Dating- und Cruising-Gepflogenheiten schwuler Großstädter sowie explizit mit dem Thema Chemsex befasst. Anders als in der Regel bei König geht es dabei nicht humoristisch zu, sondern mit einer guten Portion Melancholie ans Eingemachte. Der Band besteht aus drei Episoden: Zum Auftakt verfolgen wir einen Partyboy, der sich nach der Trennung von seinem Ex-Freund erst mit zu viel Alkohol und dann mit einem One-Night-Stand abzulenken versucht; zum Abschluss lässt uns ein Cruising-Trip im Park erst die Vögel zwitschern hören und dann den Kopf schütteln über das seltsame Verhalten verdrogter Quickie-Jäger. Die längste Geschichte liegt dazwischen und erzählt von einer Sexparty, in deren Poppers-, Pillen- und Pfeifchen-Dunst sich nicht nur in Zeit und Raum auflösen, sondern zunehmend auch die Gäste. All das ist kein Friede-Freude-Eierkuchen-Stoff, aber Firth erzählt das so kenntnisreich, menschlich und realitätsnah, dass es leichtfällt, ihm auch in Abgründe zu folgen. Seine farbintensiven und im wörtlichen Sinne kunstvollen Zeichnungen entwickeln einen eigenen Sog. Beim Aufblättern scheinen sie die Beats, den Rauch und die unstillbare Lust, von denen sie erzählen, nicht nur visuell, sondern auch physisch freizusetzen. Ein Comic wie ein Rausch, dessen pointierte Sprechblasentexte Literaturübersetzer Timm Stafe kongenial ins Deutsche übertragen hat. Dass Ralf König dem Ganzen ein kluges Vorwort vorausschickt, das mit einer Partner-Zeichnung von ihm und Firth illustriert ist, macht die Sache extrarund. Warum also nicht die Festtage nutzen, um sich den Status zu erlesen, den König erklärtermaßen bereits für sich beansprucht: ‚Ich bin Ed-Firth-Fan.'“

Ed Firth: Horny & High Vol. 1; Aus dem Englischen von Timm Stafe. Dezember 2023; 56 Seiten; Broschur; ISBN 978-3-86300-363-0; Albino Verlag, 24,00 €; unsere Rezension gibt es in Kürze

Filip Kolek, Pressebetreuung avant-verlag, empfiehlt:

Mein großer Tipp für große und kleine Leser*innen von the little queer qeview zum Gabenfest ist KARATE POLICE von dem famosen dänischen Comickünstler Mikkel Sommer und einer jungen Nachwuchsautorin Yuna Sommer Rakhmanko. Yuna ist nicht nur eine junge Comicautorin, sondern vielleicht die jüngste überhaupt: Aktuell dürfte sie 11 Jahre alt sein, als sie KARATE POLICE geschrieben hat, war sie gerade mal 8. Yuna ist natürlich die Tochter von Mikkel Sommer (den man als Comiczeichner eher von ernsten, dokumentarischen Stoffen kennt, wie z.B. STRANNIK zum Thema Obdachlosigkeit) und scheint sehr pfiffig und fit für ihr Alter zu sein. Sie hat sich die Geschichte über eine Polizeieinheit, die Bösewichte (darunter ein verlottertes Einhorn und Welpen-raubende Tiermenschen) mittels Karate zur Strecke bringt, ausgedacht. Und ihr Papa hat das dann alles aufgezeichnet, als Graphic Novel auf über 120 Comicseiten. Das  ist herrlich schräg, hochkomisch und bisweilen dadaistisch – einfach weil KARATE POLICE niemals den Raum der Kinderlogik, der Kindersprache und der Kinderphantasie verlässt – ungefilterter Kinderquatsch, in stylischer Indie-Comic-Optik. Ein ganz großer Spaß … 

Mikkel Sommer, Yuna Sommer Rakhmanko: KARATE POLICE; Oktober 2023; 120 Seiten, durchgehend vierfarbig; Softcover; Format: 16,5 x 20×5 cm; ISBN: 978-3-96445-097-5; avant-verlag

…und hier endet nun schon zum dritten Mal die bunte und engagierte Liste mit Vorschlägen, die auch weit über die winterlich-festliche Zeit hinaus wirken und relevant sein dürften. Viel Freude beim Lesegenuss!

Eure queer-reviewer

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