Aus der Welt gefallen

„Es wurmte Standish, wenn er daran dachte, dass Olivia wegen eines Ölflecks unglücklich gemacht werden musste.“

Das Leben ist verzwickt und entscheiden, wo es langgeht, das können wir doch wahrlich nur in den seltensten Fällen selbst. Henry Preston Standish jedenfalls hatte nicht entschieden, morgens um 5:23 Uhr nach nur einer Tasse Kaffee an einer Einbuchtung am Rumpf auf einem Ölfleck auszurutschen und von der S. S. Arabella, einem Frachtschiff, das auch Passagiere transportiert, auf der Route von Panama nach Hawaii mitten in den Ozean zu stürzen. „Männer vom Schlage Henry Preston Standishs stürzten nicht einfach so von einem Schiff mitten in den Ozean. So etwas macht man schlichtweg nicht, das war alles.“

„Standish beschloss, …“

Mit diesen Sätzen lässt uns eine distanzierte aber nicht emotionslose Erzählstimme an den Gedanken des New Yorker Börsenmaklers teilhaben, der sich als Reaktion auf ein mentales Tief in der Mitte seiner dritten Lebensdekade auf Erden dazu entschied, seine Gattin Olivia und die beiden Kinder für eine Weile allein an der heimischen Upper East Side verweilen zu lassen. Ein guter Entschluss, der seine Lebensgeister weckt, ihn im besten Sinne — und so weit er sich das selber zu gestatten im Stande sah — durchrüttelte.

Eine, die ihn gar am Leben anderer Menschen interessiert sein ließ. So erfahren wir im von Übersetzer Klaus Bonn wiederentdeckten und nun im Hamburger mareverlag veröffentlichten Gentleman über Bord von Herbert Clyde Lewis flugs so einiges über die Gäste- und Crewschar an Bord des Frachters, der auf seiner dreizehntätigen Fahrt bisher nur ein weiteres Schiff gekreuzt hatte. Keine guten Karten also, wenn Standish hier so allein im Ozean vor sich hin stirbt

„…dass ein menschliches Wesen launisch sei, …“

Wir folgen nun diesem Mann, seinen Gedanken, Bewegungen und manches Mal traumhaften, dann wieder albtraumhaften geistigen Einlassungen. An mancher Stelle geht es zurück auf die Arabella und wir erleben, wie die Passagiere die Abwesenheit des charmanten und formvollendeten Gastes zuerst nicht bemerken (wollen) und womit sie sich so die Zeit vertreiben, während er in vermeintlich entspannender Rückenlage davon ausgeht, dass man eben diese seine Abwesenheit doch entdeckt haben und jede Sekunde umdrehen müsse. 

Unter den Gästen finden wir in Lewis’ inhaltlich großem Werk von beachtlicher äußerer Schmalheit einen Abriss der amerikanischen Gesellschaft der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre. Da ist Mrs. Benson mit ihren Kindern, die einer ähnlichen Klasse wie Standish selbst angehören dürfte und auf dem Weg ist, ihren Gatten zu treffen. Man geht zurückhaltend aber auf Augenhöhe miteinander um. Wir treffen auf Nat Adams, „ein dreiundsiebzigjähriger Farmer aus den Nordstaaten“, der sich nach „einem ganzen Leben mühevoller Arbeit“ eine große Reise gönnt, denn es waren „zwei folgenschwere Dinge auf einmal geschehen: eine gute Kartoffelernte und ein heftiger Anfall von Fernweh.“

Ebenso an Bord das Missionsarsehepaar Mr. und Mrs. Brown. Die Abneigung die wir allein durch die ersten sie betreffenden Worte entwickeln, soll sich im weiteren Leseverlauf nur vertiefen. Hervorzuheben aus der Crew wären der Erste Offizier Mr. Prisk sowie der zumeist abwesende Kapitän, bei dem es scheint, als sei er ein Vorfahr von Woody Harrelsons Thomas Smith aus Triangle of Sadness

„…was das Wasser betraf:“

Eine gewisse Traurigkeit durchzieht auch diesen Gentleman über Bord. Denn machen wir uns nichts vor: Wie die Nummer ausgeht, ist ab dem Moment klar, als Henry Preston Standish einsam und unbemerkt über Bord geht. Dass ein Streit auf der S. S. Arabella sowie die aus seinem Stand heraus entwickelte Unfähigkeit Standishs, angemessen nach Hilfe zu rufen, dazu beitragen, dass von seinem Wassersturz keinerlei Notiz genommen wird, hilft natürlich nicht: „Nach Lage der Dinge war Standish selbst noch in diesem Moment durch seine Erziehung zum Gentleman verdammt.“ 

Anfangs ist er noch abgelenkt durch ein Wechselbad der Gefühle: Scham — es ist doch sehr unangenehm und die Rettung würde peinlich; Ärger — „Es war so dumm, so absolut ohne Grund oder Präzedenz, so fehl am Platz für einen Mann seiner Position!“; Bewunderung und Hinnahme — das Meer, die Weite, „doch am Ende war es eben nur die Sonne, und der Ozean war nur der Ozean“; Erheiterung — was für eine Geschichte! Doch nährt das Entschwinden des Schiffes am Horizont die Befürchtung, dass nicht nur jetzt niemand hier wäre, um diese spannende Geschichte zu hören. 

„Manchmal gedieh es, …“

Es ist erhellend, was Lewis über diesen Mann und seine kleine Welt in diesem weiten Ozean zu erzählen weiß und dabei, wie erwähnt, einmal groß durch Amerika streift, ohne wirklich den Ort des Geschehens verlassen zu müssen. Dass der Gentleman über Bord zu Zeiten seines Erscheinens eher unbeachtet und vor allem weitestgehend ungelobt blieb, ist ein Fauxpas sondergleichen der amerikanischen Literaturgeschichte.

In seinem anschaulichen Nachwort geht Jochen Schimmang auf diesen ein und erklärt ihn unter anderem damit, dass es die Zeit großer im Sinne dicker Romane gewesen sei, man dem Buch also schon aufgrund des geringen Umfangs Substanzlosigkeit attestiert hätte: „gewogen und für zu leicht befunden“, merkt Schimmang ganz passend dem Ton des existenzialistischen Romans an.

Auch gibt er uns ein paar Einblicke in das Leben von Autor Herbert Clyde Lewis, der, jüdischrussischer Abstammung, ein Lebensnomade war und sich, ebenfalls als Drehbuchautor tätig, in der McCarthy-Ära auf Hollywoods Schwarzer Liste finden sollte. Im Nomadentum mag sich auch das Grundmotiv der plötzlichen Ruhelosigkeit des braven Standish finden, dem jedoch, im Gegensatz zu Lewis selbst, im Leben allein durch Geburt aber auch Zuverlässigkeit immer alles zugefallen war — ohne dass er zu fragen brauchte. 

„…und manchmal schwand es dahin.“

Nun, in diesem weiten Meer, als ihm klar wird, dass das Entsetzliche am allmählichen Ertrinken vor allem die Zeit sei, die einem zum Nachdenken bliebe, scheint ihm sein ärgster Wunsch versagt zu werden: am Leben zu bleiben. Dennoch ist der Ozean nicht als Antagonist am Start, nur als ernstzunehmendes Wesen: „Das Meer war eine seltsame Person mit allerlei seltsamen Ideen, schlimmer als er in trunkenem Zustand“, denkt der finnische Matrose Bjorgstrom und ordnet die Machtverhältnisse ordentlich ein.

Solche Momente, die das Buch natürlich noch einmal fester im mare-Programm platzieren, sind es auch, die Lewis‘ Gentleman über Bord so exzellent sein lassen. Ebenso, dass er schafft, uns lebendig am als gewiss vermuteten Schicksal Henry Preston Standishs teilhaben zu lassen. Schimmang betont in seinem Nachwort vollkommen korrekt die Empathie der bedachten, praktischen, aber nie boshaften Erzählstimme. Gedanken scheinen dreidimensional, die Figuren sind es allemal — nicht selten musste ich während der Lektüre an White Lotus denken. In Mike Whites Anthologie-Serie ist das Unheil sicher, doch spielt eigentlich alles um dieses herum eine wichtigere Rolle. 

So ist es auch in Gentleman über Bord: Feine Beobachtungen, klare Sätze voller ausbalanciertem Witz, melancholischer Nonchalance und tragikomischer Erkenntnis führen uns durch dieses Buch, das es sich in der unnachgiebig liebevollen Übersetzung von Klaus Bonn unbedingt zu entdecken loht. Ein lakonisches, ergreifendes Meisterwerk.

AS

PS: „Gott sollte sich schämen.“ Ja. 

PPS: „Der Kellner, der dank einer Kombination aus jugendlichem Umfeld und altem Erbe wahrlich keine große Leuchte war, […]“ — wie oft finden wir bitteschön solche Sätze?

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Herbert Clyde Lewis: Gentleman über Bord; Aus dem amerikanischen Englischen von Klaus Bonn, mit einem Nachwort von Jochen Schimmang; März 2023; 176 Seiten; Leineneinband im Schuber, fadengeheftet und mit Lesebändchen; ISBN 978-3-86648-696-6; mareverlag; 28,00 €

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