Und immer dieser Wind

Mit Maria Borrélys Roman Mistral ist eine literarische Entdeckung zu feiern. Erzählt wird die Geschichte einer Liebe, der sich eine gleichgültige Wirklichkeit in den Weg stellt und am Ende ein Leben auslöscht. Was davon bleibt ist die Magie der Sprache.

Von Nora Eckert

Der Roman erschien 1930 in Frankreich unter dem Titel Sous le vent. Er war schon damals eine literarische Entdeckung, für die sich kein Geringerer als André Gide einsetzte. Ihm war natürlich nicht entgangen, worin genau das Besondere dieser unerfüllten Liebesgeschichte bestand und wodurch dieses Stück Literatur so außergewöhnlich erscheint – es ist seine unverwechselbare Sprache, die in den Bann zieht. Und es ist wohl das schönste Kompliment, das wir einem literarischen Werk machen können. Ja, dieser Roman von Maria Borrély (1890 – 1963) ist nicht zuletzt ein Sprachkunstwerk, das jetzt noch einmal entdeckt wurde. Denn die Autorin und ihr Werk waren längst in Vergessenheit geraten – in Frankreich ebenso wie bei uns. Es gab 1939 schon einmal eine deutsche Übersetzung und noch weitere Werke der Autorin, um dann doch aus unserem kulturellen Gedächtnis zu verschwinden.

Wie schon die erste Übersetzung trägt der Roman auch jetzt, erschienen im Kanon Verlag, den Titel Mistral. Das ist die Bezeichnung eines im südlichen Frankreich gefürchteten kalten Fallwindes, der im Roman allgegenwärtig sein Unwesen treibt und die Menschen schier verrückt macht. Drei Hauptrollen gibt es darin, die die Autorin auf eine junge, eigenwillige Frau namens Marie, auf die Natur und ihre darin beheimateten Gewalten und auf die Landschaft der Provence in ihrer Fülle von Düften verteilt. Es geht um Liebe, die wie im Mythos verschwistert ist mit dem Tod – Eros und Thanatos.

Die Orte der Handlung sind alle nahe beieinander – das Dorf Puimoisson, wo Marie lebt, ein paar Kilometer westlich Valensole, wo sie Olivier zum ersten Mal begegnet, und der Fluss Verdon, wo sie die Liebe durch einen Kuss entdeckt. Marie ist schön und geheimnisvoll: „Ihre Augen haben die Farbe des schönen wilden Lavandins. Die Bewegung ihrer Taille, ihrer Schultern, ist wie das Wiegen einer jungen Birke im Wind, dem sie mit der geschmeidigen Kraft ihrer Lenden standhält.“ Aber wie diese Marie eigentlich ist, könne niemand genau sagen. Für die anderen bleibt sie ein Geheimnis. Und wie nimmt Olivier sie wahr? So: „Er sieht sie in einer fließenden Bewegung näherkommen, mit einem Blick, der den keuschen Schleier durchdringt, trinkt die Glut, die die Wangen der jungen Frau rötet, wie Likör, denkt, dass das Schönste an ihr weder der Körper ist noch die geschmeidige Anmut ihres Gangs, sondern die Liebe, die ihr aus allen Poren dringt, die Leidenschaft, die sie verströmt wie ein Parfum.“

Sie schreibt ihm eine Karte mit der Ansicht des Verdon, wo es während eines Ausflugs zu ihrer intimen Begegnung kam. Doch Olivier antwortet nicht, sie wartet vergeblich. Denn was Marie nicht weiß, er ist einer anderen Frau versprochen. In der bäuerlichen Gegend, in der die beiden leben, gibt es ungeschriebene Gesetze. Und so bleibt ihr nur die Phantasie, dank derer Olivier jede Nacht bei ihr verbringt. Doch der Tag schafft das Leid und die Leere zurück, „höhlt sie innerlich aus“, macht sie menschenscheu. Ihr Onkel gibt gute Ratschläge und appelliert an ihren Stolz. Sie gibt ihm recht und die Vernunft sagt ihr dasselbe. „Nur dass sich diese Sache nicht erledigen lässt wie das Ausholzen der Mandelbäume: Es kehrt zyklisch wieder.“

In ihrer Gegend sind die Menschen abergläubisch. Sie sind schließlich davon überzeugt, „dass bei der Marie ein Fluch im Spiel sein müsse“, als sei sie versehentlich auf ein Hexenkraut getreten. Am Ende weiß Marie keinen anderen Ausweg, als den Schmerz buchstäblich zu ertränken. Sie geht an den Fluss, an dessen Ufer gerade Rosen blühen, greift nach den Blüten und gibt sich einen Ruck – „Eine Wassergarbe schießt empor, hell …“. So schließt der Roman, und was sich wie die Geschichte einer provençalischen Ophelia anhört und gefährlich nahe den Kitschverdacht streift, ist in Wahrheit ein einziges großes Gedicht über Liebe, Sinnlichkeit, Schmerz und Vergehen in Gestalt eines Romans.

Das Unverwechselbare daran ist, wie gesagt, die Sprache, die Mensch, Natur und Landschaft als ein Geflecht von Abhängigkeiten und Wechselwirkungen beschreibt. Darin wird der Wind, dieser gefürchtete Mistral, förmlich zu einem tierhaften Wesen mit einer schrecklichen Stimme, die furchteinflößend sein kann. Sein Toben ist zu hören: „Eine dichte Folge röchelnder Japser, wie von einer blutrünstigen Meute.“ Aber es können auch Flötenklänge sein. „In den Pinien singt er wie eine schöne Orgel.“

Als Marie zum ersten Mal die Stimme von Olivier hört, ist sie ebenso gebannt, denn sie hat einen Klang, als wäre dieser Mann „nicht nur aus Fleisch und Blut, sondern auch aus Bronze und Kupfer gemacht“, als töne eine Glocke, wenn er spricht. Borrély braucht nie viel Worte, um etwas zu beschreiben, als genügten ihr schon ein paar Striche auf dem Papier, um einen Raum, eine Landschaft zu öffnen. Kurze, prägnante Sätze umreißen die Wirklichkeit, doch bei aller Konzentration schöpft eine bild- und erfindungsreiche Sprache ebenso aus der Fülle der Wahrnehmungen. Um Beispiele zu nennen: Als sich Maries und Oliviers Blicke erstmals begegnen, heißt es darüber: „Maries Blick wird von seinem hinweggefegt, wie ein winziges Ding vom Wind“. Oder über die Dämmerung: „Der Tag sickert langsam aus den Umrissen der Dinge.“ Über das Dorf heißt es: „Die alten ausgeblichenen Ziegel, die Mauern, die im Laufe der Jahreszeiten ihren Putz verloren haben, nichts an diesem Dorf, was sich nicht an den Schoß des grünen Hügels fügte. Alles hat die Farbe der Zeit, der Felsen.“

Die Entdeckung des Romans wie auch die hinreißende Übersetzung, die immer den richtigen Sprachklang zwischen spröder Knappheit und lyrischer Fülle findet, haben wir Amelie Thoma zu verdanken. Für alle, die sich an der Schönheit von Sprache nicht sattlesen können, ist dieser kleine, gut hundert Seiten starke Roman ein echtes Geschenk.

Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverbandes Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Maria Borrély: Mistral; Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Amelie Thoma; März 2023; Hardcover, gebunden; 128 Seiten; ISBN 978-3-98568-069-6; Kanon Verlag; 20,00 €

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert