Flasche über Bord

Georg von Neumayer ist vielen Menschen dank der nach ihm benannten Forschungsstation in der Antarktis ein Begriff. Was er aber genau gemacht hat, dass er zu solchem Ruhm kam, ist vermutlich nur wenigen Menschen bekannt. Heute ist das (nicht viel bekanntere) Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie ein Zeugnis für den Einfluss Neumayers, denn dieses entstand aus der Deutschen Seewarte, die wiederum 1874 auf Anregung des Forschers aus der Norddeutschen Seewarte hervorging.

Wichtiger als solche Institutionen dürften aber die Erkenntnisse sein, die Neumayer für sich und die Nachwelt festgehalten hat. Und diese wiederum gehen auf ein Experiment Neumayers zurück, das heute zwar fast in Vergessenheit geraten ist, aber sowohl in der Meeres- als auch der Klimaforschung bedeutende Grundlagen für heutige Erkenntnisse gelegt hat.

Die Vermessung der Ozeane

Unter anderem mit diesem Experiment setzt sich der Literaturprofessor Wolfgang Struck in seinem Buch Flaschenpost – Ferne Botschaften, frühe Vermessungen und ein legendäres Experiment auseinander, das bereits 2022 im mareverlag erschienen ist. Das hübsch mit Leinenrücken und Lesebändchen aufgemachte Buch ist aktuell in der Kategorie Überraschung (u. a. mit Jan Hafts Wildnis) als Wissensbuch des Jahres nominiert.

Struck arbeitet hier in 15 mehr oder weniger aufeinander aufbauenden Kapiteln die Geschichte der Ozeanografie auf, also der Vermessung der größten Weltmeere und vor allem ihrer Strömungen. Der Golfstrom dürfte vielen von uns ein Begriff sein, manchen noch der Humboldtstrom vor Chile, der Benguelastrom vor dem Süden Afrikas oder der Antarktische Zirkumpolarstrom. So tief geht Struck zwar in seiner Analyse nicht, aber alles, was wir über diese Meeresströme, die kaltes antarktisches Wasser transportieren (mit Ausnahme des Golfstroms), wissen, wissen wir dank der Erkenntnisse der Ozeanografie.

Nur ein bisschen romantisch

Von vielen vielleicht als romantische Liebeserklärungen verklärt, haben Flaschenposten bei der Erforschung dieser Strömungen eine wesentliche wissenschaftliche Rolle gespielt, bevor es GPS-Sender gab. In größeren Zahlen ausgesetzt konnte mit ihnen eine Kartografie der Meeresströmungen erstellt werden, auf deren Basis wir heute wissen, wie diese einerseits lokal wirken und andererseits auch im globalen Maßstab zusammenspielen.

Auch wenn wir es vielfach nicht beachten, die natürlichen Strömungen innerhalb der Meere beeinflussen unser Leben auf der Erde maßgeblich. Nährstoffreiche kalte Gewässer aus den Polarregionen transportieren Nahrung für Fische um den halben Erdball und auch unsere weltweite Logistik wird von ihnen wesentlich beeinflusst.

Flaschenpostanalyse

Struck wiederum zeigt uns, welche Forschungen und Erkenntnisse aus der zweiten Hälfte des 19. sowie dem frühen 20. Jahrhundert den Erkenntnissen zugrunde liegen und diese sind eng mit der Person Neumayers verknüpft. Wir begleiten ihn auf seinen Reisen in Australien, in seinem Kampf mit der damaligen deutschen Wissenschaft um Widersacher wie August Petermann oder den ihm zumindest nicht vornehmlich wohlgesonnenen großen Mann der deutschen Naturwissenschaft, Alexander von Humboldt.

Struck, ganz der Literaturwissenschaftler, nimmt sich einer Reihe textlicher Quellen an. Nach jedem Kapitel zeigt er uns eine Flaschenpost aus dem Archiv des genannten Bundesamts und legt somit die Ergebnisse von Neumayers Forschung offen. Es ist gut, dass er diese Dokumente, deren Scan er ebenfalls für uns bereithält, transkribiert und Hintergründe zur jeweiligen Flaschenpost, beispielsweise Aussetz- und Auffindeort, wer die Post wann gefunden hat, welche Drift (Zeit und Route) sie vermutlich hinter sich hat und wie auch der Weg zurück zur Warte in Hamburg verlief, bereithält.

Neben diesen Dokumenten greift Struck auch auf weitere Textdokumente zurück, beispielsweise Erinnerungen und Schriftverkehr von und um Neumayer oder sonstige Zeugnisse von Zeitgenossen. Diese bindet er gekonnt in den Fließtext ein, sodass ein fließender und in sich überaus schlüssiger Gesamtkontext mit stringenter Storyline entsteht.

Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert

Das wirklich Spannende an Flaschenpost ist aber vor allem, wie Wolfgang Struck die wissenschaftlichen Herangehensweisen der damaligen Zeit illustriert. Klar, mit GPS-Geräten, Satellitenaufklärung und webbasierten Anwendungen lassen sich aus der heutigen Perspektive deutlich genauere und bessere Informationen über unseren Planeten und gerade die großen Weiten der Ozeane gewinnen. Aber vor 150 Jahren hat Wissenschaft eben vollkommen anders funktioniert und war selbst stets Gegenstand der Debatte.

Auch das arbeitet Struck sehr gut heraus. Neumayer und seine Herangehensweise waren keineswegs unumstritten und auch heute gibt es glücklicherweise verschiedene Perspektiven in der Wissenschaft. Solange es sich hier nicht um Pseudowissenschaftler*innen handelt, die beispielsweise den menschengemachten Klimawandel in seinen Grundzügen leugnen, ist das auch gut. Aber auch damals gab es eben wissenschaftliche Dispute, von denen manche fachlicher und manche auch weniger fachlicher Natur waren. Auch das kann Flaschenpost sehr gut aufarbeiten.

Ein Wissensbuch über die Wissenschaft

Dass dieses Buch also als Wissensbuch des Jahres nominiert ist, ist sowohl auf der inhaltlichen wie auch auf der methodischen Ebene verdient. Wolfgang Struck arbeitet in Flaschenpost sehr schön heraus, welche Rolle dieses mit romantischen Elementen behaftete Medium tatsächlich für die Vermessung der Welt und vor allem der Ozeane spielte.

Gleichzeitig ist es ein Buch über die Evolution in der Naturwissenschaft selbst, selbst wenn es nur eine ganz spezielle kleine Nische abbildet. Die Ozeanografie als kleines Teilelement der Naturwissenschaft an der Schnittstelle zur Kartografie dient hier als Anschauungsobjekt und das ist sowohl lehrreich als auch unterhaltsam, wenn auch eine hohe Konzentration bei der Lektüre dieses Buch vonnöten oder zumindest vorteilhaft ist.

HMS

Flaschenpost ist in der Kategorie „Überraschung“ als Wissensbuch des Jahres 2023 nominiert. Der Preis wird in diesem Jahr bereits zum 30. Mal vom Magazin bild der wissenschaft verliehen. Eine Übersicht aller Nominierten sowie zur Jury und weitere Infos findet ihr auf dem feinen Sachbuch-Blog Elementares Lesen von Petra Wiemann; das Ergebnis wird am 17. November 2023 im Dezember-Heft von bild der wissenschaft sowie auf wissenschaft.de bekannt gegeben.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Wolfgang Struck: Flaschenpost – Ferne Botschaften, frühe Vermessungen und ein legendäres Experiment; September 2022; 224 Seiten, mit zahlr. Abbildungen; Hardcover, gebunden, Halbleinen mit Lesebändchen; ISBN 978-3-86648-673-7; mareverlag; 36,00 €

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