Myriam Sauers erster Roman Passage durch den reißenden Strom, erschienen im Querverlag, beschreibt eine Transition, die Freiheit schenkt und auf Vertrauen baut, die Beziehungen verändert und das Selbstvertrauen als eine Art Lebensversicherung braucht.
Von Nora Eckert
Eines der beiden dem Roman als Motto vorangestellten Zitate stammt von Clarice Lispector, einer außergewöhnlichen Schriftstellerin und Ikone der modernen brasilianischen Literatur, und geht so: „Ich muss in diesen überschäumenden Fluss vertrauen.“ Hier also ein überschäumender Fluss, dort ein reißender Strom – der metaphorische Gleichklang ist nicht zu überhören und in der Gegenüberstellung gewiss nicht weniger absichtlich. Und nach den etwas mehr als dreihundert Seiten des Romans ist klar: Diese Transition ist auch so eine Passage mit einem Leben als Gewinn- und Verlust-Rechnung, verlorener Liebe und gewonnener Freiheit und alles zusammen verlangt Vertrauen. Doch ganz so rund schließt sich die Geschichte nicht.
Im Mittelpunkt steht Rachel, sie lebt schon längere Zeit mit Noah, einem trans*Mann zusammen. Eine schwule Liebesbeziehung verbindet sie, bis Rachel eines Tages erkennt und weiß, sie ist eine Frau und sich von da an auf die Suche nach einem Leben als Frau macht. „Ich bin nicht länger schwul, aber was dann?“ Es ist zunächst wie ein Schwebezustand, dem die Einsicht voranging: „[…] mein Körper äußerlich wohl zusammengehörend, aber innerlich zertrennt und nicht länger zu fassen.“ Mit jedem Schritt mehr in die Weiblichkeit, verändern sich die durch Gewohnheit so sicher geglaubten Beziehungen – vor allem zu Noah.
Die Transition wird zur gegenläufigen Bewegung in der Liebesbeziehung. Gleichzeitig taucht immer wieder die Vergangenheit auf, die sich fast unmerklich, nämlich erzählerisch in gleitenden Übergängen und dennoch gewichtig und gelegentlich mit ziemlicher Wucht in die Gegenwart einmischt und in der sich letztendlich Spuren finden für das, was Rachel mit der Transition und ihrem Bekenntnis „Ich suche nach Leben“ beginnt.
Auch wenn wir mitunter einen längeren zeitlichen Anlauf im Leben brauchen, um das trans*Sein in uns benennen zu können, so tragen wir es immer schon mit uns. Nichts anderes wollen die Rückblicke in die Kindheit wohl andeuten – hier der Wunsch, das Kleid der Mutter anzuziehen, dort die Infragestellung von Geschlechterrollen und die Frage, warum Mädchen etwas dürfen, was Rachel als Junge nicht durfte.
Neben dem langsamen Abschied aus der Beziehung zu Noah spielt vor allem die Beziehung zur Mutter eine besondere Rolle, stets verbunden mit der Frage des Vertrauens und dem Verlangen nach Sicherheit. Barbara, Rachels Mutter, ist das Musterbeispiel einer dominanten Persönlichkeit (Sternzeichen Zwillinge). Im Roman ist von der „starken Stimme einer monumentalen Frau“ die Rede: „Typisch für sie: hart und wortkarg […]. Barbara pflegt die Auffassung, dass man einer Mutter nicht antworten muss, höchstens empfängt man von ihr: Imperative oder Erläuterungen übers Leben.“
Von nachgerade symbolischer Bedeutung die Geschichte, als sie mit der Mutter nachts in einem kalten Fluss badet und dabei Angst empfindet unterzugehen und dazu die beruhigenden Worte der Mutter: „Es kann dir nichts passieren.“ Und mit dem Auftauchen stellt sich unversehens die Empfindung ein, dass das zugleich die Formel für die gesamte Lebensführung sei.
Rachel ist immer wieder fasziniert von der Mutter: „Welch elektrisierender Rausch Mamas Gesten mir doch waren! Aus ihnen flammte eine solche Unbekümmertheit, eine solche Freiheit.“ Und dann diese Beobachtung: Manche Menschen würden sich förmlich ins Wasser hineinwerfen – so auch Barbaras Angewohnheit, wann immer sie am Meer schwimmen ging. Wie sie sich dort hineinwerfe gleiche einer regelrechten Eroberung.
Wasser taucht nicht nur in zahlreichen Episoden als ein bedeutungsgeladenes Medium auf, Sauer bevorzugt gerne auch eine wasserreiche Metaphorik. Einmal lesen wir von ihrer „ozeanischen Leiblichkeit“: „Zeit meines Lebens bin ich zerflossen“. Was bei mir sofort Sigmund Freud auf den Plan rief und seinen Aufsatz Das Unbehagen in der Kultur. Dort zitiert er das „ozeanische Gefühl“, allerdings im Zusammenhang mit Religion und deren Ewigkeits-Gefühl. Wenig überraschend hielt der Psychoanalytiker das Ozeanische auch auf die Sexualität anwendbar – hat das aber nicht weiter ausgeführt: „Auf der Höhe der Verliebtheit droht die Grenze zwischen Ich und Objekt zu verschwimmen.“
Als Rachel sich bei der Mutter outen will, lässt diese sie am Telefon nicht zu Wort kommen. Dabei hatte sich Rachel einen ganz bestimmten Auftritt zurechtgelegt. Eigentlich wollte sie sagen: „Hi, Barbara, du, ganz kurz, ich bin jetzt deine Tochter und wir gehören zusammen als Frauen.“ Doch Barbara gibt ihr dazu keine Chance, bis Rachel endlich den Redefluss ihrer Mutter wütend unterbricht: „Mama, ich bin eine Frau!“ Immerhin bekommt Barbara hier dann doch noch die Kurve, um mit „sanfter, erhabener, engelsgleicher Stimme“ zu antworten, das sei gut, dass Rachel das wisse und sage.
Zum Ende hin fragt sich Rachel: „Was hat mir dieses Label zu sagen, zwingt es mich nicht in ein Gefängnis?“ Gemeint ist das Label „trans*“ Eine Antwort bleibt uns die Autorin allerdings schuldig. Gewisse Zweifel bleiben in Erinnerung. Denn da heißt es an einer anderen Stelle: „Wir kommen von nichts, wir sind nichts und wir werden nichts sein. Wir sind nicht die Erweiterung der Vielfalt, das große Aufblühen des Regenbogens, sondern eine offenstehende Wunde in der Mitte der Welt, eine Wunde, die niemals genäht werden kann.“ Solcher Pessimismus bestätigt mir, dass zum trans*Sein eine große Portion Selbstliebe gehört. Und zu dem Zitat passt ein anderes, wo Rachel die Unterhaltung einer „Brigade trans* femininer Keyboard-Warrior“ mithört, die sich über die „Unsitte“ beschwert, trans* und Frau beziehungsweise Mann zusammenzuschreiben:
„Aber was, wenn das die einzig richtige Art der Schreibung ist, weil trans* und das eigene Geschlecht synthetisch verschmolzen sind? Mit anderen Worten, was, wenn der eigentliche Horror darin besteht, dem eigenen trans* Sein nie entkommen zu dürfen und die eigene Weiblich- oder Männlichkeit davon nicht einmal begrifflich abtrennen zu können.“
Warum sollten wir das wollen, wenn es uns doch ausmacht und unverkennbar auszeichnet? Und was ist daran Horror? Bedeutet trans* denn, wir würden das Frau- oder Mannsein in einem cis-normativen Sinne verfehlen und haben kein anderes Ziel, als in der cis-Normativität aufzugehen, um den Mangel mit Namen trans* vergessen zu machen, auszulöschen? Immerhin beschert Rachel die OP auch Freiheit, die sie ein Geschenk nennt – „ich fühle mich so frei“, hören wir sie förmlich jubeln. Und wenn sie in Gedanken schon auf dem Weg in die Sauna ist, heißt es, „denn die neue körperliche Freiheit, die mir gewährt ist, schließt schon verloren geglaubte Orte wieder auf“. Immerhin.
Aber dazu fällt mir eine Filmszene ein, in der ein trans*Mann fragt: Wer ist es, der mir sagt, dass ich einen Penis brauche, um der Mann zu sein, der ich bin. So funktioniert das trans*Sein also auch und zum Glück. Ein Roman über eine Transition kann wohl die Frage der Geschlechtlichkeit nicht ausklammern. Und wie sie beantwortet wird oder auch nicht oder unentschieden, entscheidet allein – in unserem Fall – die Autorin. Lesenswert ist das unbedingt.
Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverband Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society
Myriam Sauer liest am Donnerstag, 18. Januar 2023, um 19:00 Uhr im Foyer des TrIQ aus dem Roman. Alle Infos hier.
Myriam Sauer: Passage durch den reißenden Strom; September 2023; 336 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-89656-331-6; Querverlag; 24,00 €
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