Bei den wilden Lederkerlen

Zu Beginn ein Geständnis: Ich habe in etwa so viel Ahnung von der Lederszene wie Heiko Maas es vom Job des Außenmeisters hatte. Okay, etwas mehr wohl schon. Aber nicht sonderlich viel. Sicherlich sind mir durch das neuländische Internet, diverse Apps und Foren, Tom-of-Finland-Ausstellungen und Kataloge, Geschichten in Mein schwules Auge, natürlich Streifzüge durch die Nacht und allgemein Straßenfeste wie auch mal ein Besuch auf dem Folsom manche Dinge bekannt. Doch im Detail habe ich mich mit dieser noch nicht auseinandergesetzt.

Nicht mit den verschiedenen Ebenen in dieser, den Codes und schon gar nicht detailliert mit der äußeren Wahrnehmung und möglichen Problemen, die manch ein Mensch in Look, Symbolen und Stilen sehen mag – ob nun inner- oder außerhalb der Lederszene und/oder der LGBTQIA*-Welt (wobei das im Grunde schon in eine gesamtgesellschaftliche Betrachtung überginge und sich somit ohnehin aus der Szene herauslöste). 

Die Sinnlichkeit des Leders

Dass nun ausgerechnet ein 64-seitiges Büchlein mir dabei helfen würde, mein Wissen um ein Wesentliches zu erweitern, mein Interesse nicht nur aus soziologischer Perspektive zu steigern und dabei noch jene gesellschaftliche Debatte einzubringen – wer hätt’s gedacht? Ist ja auch egal; Dirk Becker jedenfalls ist es mit dem vierten Band der in*sight/out*write-Reihe des Querverlags namens Die Lederszene. Ein Ort der Sehnsucht gelungen.

Das mag wohl auch daran liegen, dass sein Text keine verwissenschaftlichte Betrachtung, sondern ein kurzweiliger aber nie gedankenloser Essay ist, der Persönliches mit Allgemeinem und Politischem zu kombinieren weiß. Dabei auch nicht davor zurückschreckt, Kritik an manchem und manchen innerhalb dieser – wie er ebenfalls nicht ganz unkritisch anmerkt – hin und wieder noch allzu geschlossen wirkenden Leder-Welt zu üben und sich dabei gegen ein Bubble-Building auszusprechen. 

Joviales Protzen und Wissensweitergabe

Er beginnt hierbei in seiner Kindheit, öffnet mit einem Zitat aus Where the Wild Things Are, rezitiert dafür kurz Walt Whitman, rekurriert auf Zugehörigkeit, Kameradschaft (ohne hier in die schwierigen männerbündischen Gefilde etwa eines Hans Blüher abzudriften) und Freiheit, um schließlich auf sein Begehren sportelnder Proleten, deren „joviales Protzen und anerkennendes Johlen“ er anziehend fand, wenn er sich heimlich im Schuppen auf dem Land beobachtete. 

Somit galt ihm seine Sexualität also früh als ausgemacht, der Weg in die Lederszene war damit noch nicht gegeben. Als er diesen schließlich geht, ihn auch durch die Gefühle, die das Tragen einer Lederjacke und später Hose in ihm auslösen, findet, vergleicht er diesen mit einem zweiten Coming-out (und beschreibt eindrücklich eine Art Mentoring innerhalb der Szene). Diese Erläuterungen und Beschreibungen dürften allen Leser*innen ans Herz gehen, die das Gefühl kennen, sich nach langer (möglicherweise unbewusster) Suche endlich zugehörig, gesehen und (an)erkannt zu fühlen. Wohl auch solchen, die noch auf dieses Gefühl warten. 

Bemächtigen wir uns der Perversion!

Dass Becker es in seinem weit greifenden Essay immer wieder schafft, passgenaue und häufig auch pointierte Formulierungen zu finden, ohne sich in einem ausschließlich der Szene zugewandten Sprech zu ergehen, ist ein weiter Pluspunkt. Und wie erwähnt trifft er auch reichlich allgemeine Gedanken zur queeren Welt und der Fetischszene, die mensch selten treffender gelesen haben dürfte (ein spannender Punkt geht übrigens in Sexuelle und betrachtet das gewollte Machtgefälle in einvernehmlichen BDSM-Erlebnissen und stellt es dem zu kritisierenden zwischen Frau und Mann gegenüber). So etwa, wenn er auf einen beliebigen Samstagabend in irgendeiner westlichen Metropole in einer Fetisch-Lederbar…

„[…], wird einem relativ schnell klar, aus welchem reichhaltigen Fundus an Männlichkeitsvorbildern wir hier schöpfen. Neben den klassischen Tom-of-Finland-Modellen finden sich weitere Vorbilder: von dem Wrestler in einem Lycra-Ringertrikot und dem Polizisten aus Los Angeles in Breeches mit Gummiknüppel und Wesco-Stiefeln über den Soldatenrekruten in Tarnfleck bis hin zu dem bärigen kanadischen Holzfäller im Flanellhemd – die Anzahl an Prototypen für den modernen Schwulen ist zwar begrenzt, aber erstaunlich variabel.“

Dirk Becker – Die Lederszene; S. 24 f.

So schafften wir uns, unserer spielerischen Kreativität sei Dank, „untereinander immer wieder neue Vorbilder und Projektionsflächen.“ Diese Verschiedenheit und ebenso Sichtbarkeit malt Becker in einem Kapitel auch als politisches Kapital aus, das dringend stärker genutzt werden sollte. Etwas, worauf er in den letzten zwei Kapiteln, die Appellen gleichen, mehr das Miteinander herauszustellen und die zumindest teilidentischen Ziele nach Anerkennung hervorzukehren und sich kritisch mit der eigenen Blase auseinanderzusetzen, zurückkommt. 

Das Subversive ausgelassen feiern

Für einen kurzen Moment stützt der Autor sich in seinem elegant geschrieben Essay noch auf die an Auseinandersetzungen nicht arme Geschichte „unserer“ politischen Bewegungen. Also jener der Frauen– und Lesbenbewegung „versus“ Schwulenbewegung (wobei früher, teils auch heute, Frauen- und Lesbenbewegung durchaus nicht unbedingt als Einheit gedacht worden sind) – stand für die Frauen doch eine politische Agenda im Vordergrund und für die Schwulen ließ sich Politik ohne Sex nicht machen. Ein Konflikt allerdings, den es auch innerhalb der Schwulenbewegung gab, wie Raimund Wolfert im Hirschfeld-Lectures-Band Homosexuellenpolitik in der jungen Bundesrepublik herausgearbeitet hat.

Im Kern steht jedenfalls der Gedanke, zu erkennen und zu verinnerlichen, „dass die Subkulturen innerhalb der Schwulenszene immer auf ein verbindendes Element zurückgreifen: […] aus einer reichhaltigen Kiste an Klischees“ zu schöpfen, diese ins Extrem zu steigern und dabei „stets kreativ, mitunter subversiv mit Normen, Erwartungen und moralischen Vorstellungen“ zu spielen. Was wiederum dem biederen Mainstream einen Spiegel vorhielte, ein Gedanke, dem ich mich gern anschließe.

Wieso also sollte eine Subkultur sich dann dem Rest der Welt verschließen? Sich Diskussionen, auch jenen unangenehmen um Diskriminierung, Ausgrenzung, möglicherweise Rassismus, zu stellen und die Türen zu öffnen, bedeutet eben noch lange nicht, einen gewachsenen Safe Space zu verlassen, sondern ihn sicherer, aber auch sichtbarer und selbstbewusster zu gestalten. „Denn eins muss und klar sein: Es ist Platz genug für alle da.“

AS

PS: Für Interessierte gibt es im Anhang des Essays eine reichhaltige Liste empfohlener Literatur.

Dirk Becker: Die Lederszene. Ein Ort der Sehnsucht, Band 4 der Reihe in*sight/out*write; September 2021; 64 Seiten; Klappbroschur auf Strukturkarton; ISBN: 978-3-89656-306-4; Querverlag; 8,00 €

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