„Viele davon lesen sich allerdings sehr ähnlich und schön inhaltsleer. Wie inhaltsleer und eigentlich sogar widersprüchlich, das ist vielen gar nicht bewusst, wenn sie diese Sprüche eher hirnlos nachplappern“, schrieb unser Herausgeber kürzlich bezugnehmend auf komische Weisheiten und unsinnige Kalendersprüche in seiner Rezension zu Christopher Strutz‘ schmissgem Der Löwe ist der Hai unter den Adlern, in welchem Strutz genau solchen Sprüchen auf den Zahn fühlt. Zum Ende der Rezension wurde erwähnt, dass es natürlich auch solide Sprüche, hintersinnige Anmerkungen und feine Kalender gebe… und dazu gegebenenfalls bald was käme…
Tada! Da ist es uns gekommen. Wir möchten euch gern ein paar Kalender verschiedener Verlage vorstellen, die unterschiedlicher kaum sein könnten und gerade dadurch eine wunderbare Verbindung eingehen, einander ergänzen, hier und da eine Verknüpfung schaffen können. Natürlich spielen auch Ästhetik und individueller Geschmack eine Rolle.
Flutartige Kulturgeschichte
Starten wir mit dem mare Kulturkalender 2024. Geneigten Leser*innen oder viel eher Instagram-Follower*innen dürfte bereits aufgefallen sein, dass der immer aufwendig gestaltete, vielfältige, Hirn und Augen gleichermaßen ansprechende Kulturkalender des maritimen Hamburger Hauses bereits seit zwei Jahren bei uns immer mal wieder präsent ist. Dies sehr wohl aus gutem Grund.
Die wöchentlichen Bilder wechseln zwischen feinen Illustrationen, historischen Fotografien und eindrucksvollen Drucken mal mehr, mal weniger bekannter Gemälde. So sehen wir in der ersten Woche des kommenden Jahres die „Meereslandschaft mit Eiskappe in der Ferne“ (1859) von Frederic Edwin Church, dazu gibt es ein erstaunlich gut passendes Zitat aus Mary Shelleys Frankenstein und, wie in jeder Woche, noch ein historisches Datum, das erläutert wird. An dieser Stelle ist das der 1. Januar 1892. Was da geschah? Nun, das steht im Kalender.
Über das Jahr 2024 verteilt begegnen wir unter anderem Gustave Flaubert, Paul Signac, Jules Verne, Rachel Carson, Elinor Mordaunt, Jacques-Yves Costeau, Joachim Ringelnatz, Ida Gräfin von Hahn, Epiktet und dazu einer Fotografie Jean Dieuzaides von Salvador Dalí in Port Lligat, Egon Erwin Kisch, usw. usf.
Der mare Kulturkalender ist anschauliche Kunst– und Kulturgeschichte, das Meer und die Kraft des Wassers immer im Blick und wir lernen, was es rundherum nicht alles gibt. Ohne jede Übertreibung: Einer der besten Kalender, die es hierzulande zu erstehen gibt.
mare Kulturkalender 2024; September 2023; 52 Seiten; Spiralbindung; Format: 24 x 32 cm; ISBN 978-3-86648-714-7, mareverlag; 24,00 €
Katzekalender, Katzekalender, …
Das mögen Fans ganz sicher auch über den im Grunde schon ikonischen literarischen Katzenkalender sagen, der auch 2024 wieder von Julia Bachstein entwickelt wurde. Das Konzept – für all jene Katzenkulturbanausen, die diesen noch nicht kennen – ist im Grunde denkbar einfach: Mensch nehme ein Schwarz-Weiß-Grau-Katzenfoto (mal süß, mal ernst, mal heiter, mal schläfrig, …) und pappe wahlweise ein passendes Sprichwort („Man kann lange gähnen, ehe einem eine gebratene Taube ins Maul fliegt“) oder Zitat, bspw. von Karl Marx, Mary E. Wilkins Freeman, Terry Pratchett, Adam Opel (!) oder gar Clemens J. Setz, drauf – fertig ist ein Wunderwerk, das sicherlich nicht nur Katzenliebhaber*innen regelmäßig Freude bereitet.
Das schafft dieser von Schöffling & Co. verlegte Foto-Kalender seit vergangenem Jahr auch nahezu Woche für Woche bei uns, wenn wir auch gestehen müssen, dass manch ein Spruch dann doch ein wenig abgedroschen daherkommt. Das allerdings mag diesem komischen Jahr 2023 geschuldet gewesen sein, wirkt der Kalender für das Jahr 2024 doch ansprechender auf uns als der nun auslaufende Vorgänger.
Apropos: Der Katzen TaschenKalender ist ein absolutes Miaulight und Must-Have! Das Format misst kaum mehr als jene der neueren iPhones, dennoch bietet er Platz für Notizen. Das eigentlich fantastische in dem putzig aufgemachten Büchlein – samt Fotos, Zitaten und Illustrationen – sind jedoch die diversen Tage, auf die hingewiesen wird. Heilige Drei Könige am 6. Januar? Who gives a shit! Viel spannender ist, dass am 4. Januar Welthypnosetag und am 5. Januar Tag des Vogels ist!
Auch lässt sich erfahren, wann beispielsweise jeweils die Tage der Büroklammer, des Schnitzels oder der Kuscheltier-Liebhaber sind. Es gibt Dinge, die sind einfach von Bedeutung und sie stehen im Schöffling & Co. Katzen TaschenKalender – auch 2024 wieder. Sexy!
Julia Bachstein: Der literarische Katzenkalender 2024; Juni 2023; 56 Blatt, durchgehend zweifarbig; Spiralbindung; Format 24 x 32 cm; ISBN: 978-3-89561-757-7; 23,95 €
Julia Bachstein: Katzen Taschenkalender 2024; Juni 2023; 144 Seiten, gebunden mit Lesebändchen; Format: 14,8 x 9,2 cm; ISBN: 978-3-89561-783-6; 14,95 €
Schönheit, die zurückschaut
Sexy geht es auch im Monatskalender NUDES von Richard Kranzin zu, der genau wie der gleichnamige Bildband bei Salzgeber Buchverlage erschienen ist. Unser Rezensent zeigte sich seiner Zeit begeistert von den Fotografien Kranzins und schrieb: „Damit ist NUDES von Richard Kranzin nicht einfach nur ein Band mit Bildern junger, schöner, nackter Menschen, sondern ein aufwendig entstandener, sorgsam durchdachter, kunstvoll arrangierter und hochwertig gedruckter Bildband ausdrucksstarker analoger Fotografien.“
Ein Abriss dieser findet sich im 2024er Kalender des Berliner Fotografen und Filmemachers. (Zumal die zwölf – vierzehn mit Front und Back – im Kalender gezeigten Schwarz-Weiß-Fotografien so noch einmal eine andere Wirkung entfalten, als beim Blättern durch einen Fotoband, was ihn natürlich umso besonderer macht.) Da geht es mal selbstbewusst zu, als würde das Model gerade nach dem Sport aus der Dusche kommen und ein (nicht sichtbares) Gegenüber ansehen „Na, was willst?!“
Mal selbstbewusst-verschmitzt, dann wieder in sich versunken, mal keck, mal träumerisch-philosophisch, mal erwartungsvoll, mal eher distanziert. Wie schon im Buch spielen auch im NUDES-Kalender Blicke und Körperhaltung eine wichtige Rolle. Die Schönheit entsteht in Kranzins Fotografien vor allem durch das gelungene Zusammenwirken von Ausdruck und Form, was Bilder entstehen lässt, die mensch immer wieder gern betrachtet – und die je nach Gemütslage Unterschiedliches zu erwidern wissen. (Ebenfalls zu empfehlen ist sein aktueller Fotoband The Three of Us – hier gibt es die Rezension.)
Richard Kranzin: NUDES 2024; Mai 2023; 14 Abbildungen; Spiralbindung; Format: 41,4 x 29,7 cm; ISBN: 978-3-95985-685-0; Salzgeber; ca. 20,00 €
Stadtkunde
Wissen erweitern lässt sich in jedem Fall mit dem Metropolen-Kalender, der im (nicht mehr nur) für seine Karten bekannten und ja, doch schon, berühmten Katapult Verlag erschienen ist. Die einzelnen Karten sind wunderbar grafisch, feingliedrig und laden dazu ein, die jeweilige Stadt genauer zu erkunden. Denn Angaben zu Bezirken, Departments, Areas, etc. werden nicht gemacht – alles was den Betrachter*innen gegeben wird, sind Stadt, Land und Bevölkerungszahl. So schult Metropolen 2024 also Auge und Hirn.
Den Beginn macht beinahe unweigerlich Berlin. Es folgen unter anderem Istanbul, Wien, Rio de Janeiro, Donezk und Kinshasa. Natürlich darf New York City ebensowenig fehlen, wie die Metropole, die Katapult sein zu Hause nennt: Greifswald.
Städte sind an vielen Stellen Motoren unserer gesellschaftlichen Entwicklung. In Rom wurde neben der imperialen auch die Badekultur gefördert, Lübeck ist die Mutterstadt der Hanse, Manchester die des Kapitalismus – und Lagos das Abbild einer modernen Megacity. Zugegeben, all dies wissen wir nicht aus diesem beeindruckenden Kalender, sondern aus Ben Wilsons Metropolen, das die Geschichte der Menschheit in Städten erzählt. Der Band und der Kalender mögen nicht originär zusammengehören, aber zusammen betrachtet geben sie uns einen wunderbaren Einblick in einige der Metropolen dieser Welt.
METROPOLEN Kalender 2024; Juli 2023; 13 Seiten; Spiralbindung; Format: 42,0 x 30,3 cm; ISBN: ISBN: 978-3-948923-58-7; Katapult Verlag; 18,00 €
Wort und Bild schaffen Genuss
Ob wohl eine oder einer der im C.H. Beck Gedichtekalender 2024 versammelten Dichterinnen oder Dichter aus einer der Katapult-Metropolen stammt? Aus Berlin sicherlich schon… andererseits, wer weiß?! Jedenfalls ist der Gedichtekalender, der früher unter dem noch immer bekannten Namen „Kleiner Bruder“ lief, auch in seiner 40. Edition (herausgegeben von Dirk von Petersdorff, dessen kurze Einleitung am Kalenderende zu lesen sich lohnt) wieder ein Fest für Freund*innen ansprechend aufbereiteter Gedichte deutscher Literatur verschiedener Gattungen.
Die Illustrationen in Gestalt farbiger Pinsel-Vignetten von Chris Campe fügen sich dabei wunderbar zum jeweiligen Gedicht. Mensch könnte sagen: Das Auge denkt mit. Nach dem Friederike Mayröcker-Gedicht auf dem Cover geht es weiter mit Thomas Rosenlöcher und Christine Lavant. Später begegnen wir unter anderem noch Catharina Regina von Greiffenberg, Kurt Schwitters, Mascha Kaléko und Georg Trakl.
Eine wilde Mischung von seicht bis anspruchsvoll, augenzwinkernd bis bitterernst, romantisch bis auf- oder auch abgeklärt. Ein Inhaltsverzeichnis, das Geburts- und falls vonnöten Sterbejahre der Dichtenden, Daten zum Gedicht und, so vorhanden, die jeweilige Buchveröffentlichung auflistet, rundet diesen sprachkulturellen Kalender ab.
Dirk von Petersdorff (Hrsg.), Chris Campe (Illustrationen): C.H. Beck Gedichtekalender 2024; Juli 2023; 28 Seiten, mit farbigen Vignetten; Spiralbindung; Format: 28,9 x 21,3 cm; ISBN: 978-3-406-80117-4; 20,00 €
Ein runder Abschluss
Rund geht‘s auch bei Tom of Finland (geboren 1920 in Kaarina, Finnland als Touko Valio Laaksonen, gestorben im November 1991 in Helsinki) zu. Wer dessen mal spaßig verspielte, dann wieder beinahe sabbernd versaute, nicht selten auch hintergründige Zeichnungen kennt, weiß um die runden Beulen und golden deliziösen Apfelärsche. Nicht selten natürlich auch die prall-runden Schwänze, die mensch beinahe von den Leinwänden beziehungsweise hier vom Kalenderblatt zu puckern sehen meint.
Es ist ein Fest, die zwölf beziehungsweise vierzehn Bilder des von Salzgeber herausgegebenen Kalenders zu betrachten. Bilden sie doch in Kurzform einen Abriss des Schaffens des Ausnahmekünstlers, dem es trotz seiner häufig unzweideutigen und immer wieder von Zensur bedrohten und betroffenen homo–erotischen Kunst, zumeist in Verbindung mit Leder, gelang, international zu Ruhm und Ehre zu kommen und noch heute für seinen wegweisenden Stil bewundert zu werden.
Dafür steht nicht zuletzt die Tom of Finland Foundation, die er 1984 noch zu Lebzeiten mit seinem Geschäftspartner Durk Dehner ins Leben rief und die immer wieder spannende Künstler zu ihrem Artist-in-Residence-Program in Los Angeles einlädt (u. a. Daphne von Rey, Florian Hetz, Brontez Purnell, Ben Youdan und Rinaldo Hopf, der sich dort gern inspirieren lässt). Dort findet sich auch ein großes Künstlerarchiv.
Nun muss niemand unbedingt nach Los Angeles reisen, um in den Genuss einiger spannender Ansichten zu kommen – der Tom of Finland 2024-Kalender leistet da beste Arbeit und es macht Freude, sich nochmals eingehender mit ihm zu befassen – was dank diverser Publikationen möglich ist. So gibt es zum Beispiel ein Tom of Finland Foundation SPECIAL der Mein schwules Auge/My Gay Eye-Jahresanthologie und in der aktuellen Jubiläumsedition #20 UNCENSORED wird ausführlich erläutert, wie ToF seine Werke entwickelte (eine Rezension folgt in den kommenden Tagen). Sehr spannend!
Tom of Finland 2024; Mai 2023; 14 Abbildungen; Spiralbindung; Format: 41,4 x 29,7 cm; ISBN: 978-3-95985-680-5; Salzgeber; ca. 20,00 €
Spannend, wie jeder einzelne der hier vorgestellten Kalender. Also schafft Platz an euren Wänden – eure Sinne werden es euch danken. Oder ihr verschenkt sie und besucht dann einfach häufiger eure Bekannten und Freund*innen.
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