Nachrichten aus dem Palast des verlorenen Donkosaken

Lisa Weeda beschreibt in dem Roman Aleksandra ein Land, das den Krieg, die Gewalt und die Besatzer nicht loswird. Daraus entstanden ist grandiose Literatur über eine ukrainische Familie, in deren Geschichte die Gegenwart und die Vergangenheit wie Zwillingsschwestern auftreten.

Von Nora Eckert

Während der Lektüre des Romans las ich in einer Zeitung einen Bericht aus dem ukrainischen Kriegsgebiet, wie wir sie seit einem Jahr immer wieder zu lesen bekommen. Ein Offizier wird darin mit den Worten zitiert: „Ich hasse den Donbass“ und „Der Donbass ist wie ein Krebsgeschwür“. Und was sonst noch über die umkämpfte und zuerst von russischen Separatisten annektierte Region zu lesen ist, fügt sich nahtlos in die Dramaturgie des Romans. Denn die Familie des Offiziers hat wie die im Roman eine Rechnung offen mit dem „blutigen Imperium“ – im Roman sind es gleich noch ein paar mehr Rechnungen. Dabei hat die Autorin Lisa Weeda, Niederländerin mit ukrainischen Wurzeln, überhaupt nicht über den gerade verheerenden Krieg geschrieben, den Moskau perfide „Spezialoperation“ nennt.

Die Gegenwart in Weedas Roman führt uns vielmehr ins Jahr 2018. Aber da gab es auch Krieg, nämlich die Annexion jenes Gebietes, das der ukrainische Offizier ein „Krebsgeschwür“ nannte und bei der der Westen nur zugeschaut hat wie in den Tagen als Putin die Halbinsel Krim besetzen ließ, als sei dieser Imperialismus eine Art Kavaliersdelikt.

Lisa aus dem Roman bekommt von ihrer Großmutter Aleksandra den Auftrag, ein mit dem Familienstammbaum besticktes Tuch in die Ukraine zu bringen, genauer nach Lugansk, und noch präziser aufs Grab von Kolja, dessen Lebenslinie 2015 auf dem Tuch abbricht. Die Großmutter war eine junge Frau, als sie mit vielen anderen Frauen und Mädchen in Viehwaggons nach Deutschland als Zwangsarbeiterin verschleppt wurde. Damals war das Land von den Deutschen besetzt und manche in der Ukraine glaubten zunächst, sie würden jetzt von Stalin und den Russen befreit werden. Es kam bekanntlich anders. Die Großmutter blieb in Deutschland, lernte einen Niederländer kennen, den sie heiratete und lebt seither in den Niederlanden. Die Großmutter wollte nicht mitreisen, denn was solle sie da, fragt sie Lisa. Gräber anstarren, die immer mehr wurden?

Der Auftrag klingt ein wenig seltsam, aber Familientraditionen haben eben so ihre Regeln und Rituale. Und wer konnte schon vorhersehen, dass es im August 2018 plötzlich innerhalb der Ukraine eine Grenze geben würde und wieder mal Krieg herrsche. Und so steht Lisa, die Enkelin, am Grenzübergang zur Volksrepublik Lugansk. Der ukrainische Grenzposten will sie allerdings nicht passieren lassen. Die Oma sei wohl „plemplem“, sie in ein Kriegsgebiet zu schicken. Sie solle kommen, wenn der Krieg vorbei sei, der tote Cousin würde schon nicht weglaufen. Lisa bedauert in diesem Moment, nicht dieselbe Hitzköpfigkeit in sich zu haben wie ihre ukrainischen Tanten, „die jemanden endlos anblaffen können, ohne Atmen zu holen“. Und dann kommt ein Satz, der an den oben zitierten Offizier erinnert: „Dieses verfluchte Geburtsland deiner Oma ist kein Ort für Stippvisiten […].“

Doch dann sieht Lisa plötzlich ihre Chance, rennt los und schafft es, auf die andere Seite zu gelangen. Drüben stößt sie an einen Stein, stolpert, verliert das Gleichgewicht und knallt auf eine gigantische weiße Treppe. Wo ist die auf einmal her? Sie erkennt einen Palast, der aussieht wie eine „hysterische Geburtstagstorte“ – ein Ungetüm aus sechs runden Geschossen und oben als Krönung die Leninstatue. Das Ganze ist wie ein Traum, aber an diesem surrealen Ort, der uns als „Palast des verlorenen Donkosaken“ vorgestellt wird, ist Lisa mittenhinein geraten in ihre Familiengeschichte, in der es lauter Untote gibt. Als ersten trifft sie auf Nikolaj, ihren Urgroßvater, der seit 1953 tot ist und den sie nur von einem Foto kennt, das in der Wohnung der Großmutter hängt.

„Das ist hier noch nie vorgekommen“, erklärt ihr der Urgroßvater, „ein lebender Krasnov-Nachkomme im Palast! Ich dachte wirklich, du wärest Aleksandra, dass sie endlich gekommen ist, um mit mir auf die andere Seite zu gelangen.“ Auch der Cousin Kolja, dessentwegen sie ja überhaupt nach Lugansk gekommen sei, lebe ebenfalls im Palast und verharre in dieser Zwischenwelt. Wir erfahren nicht nur die Geschichte des Palastes, der nie gebaut wurde und nur als stalinistischer Traum von einem „Hauptquartier der Weltrevolution“ existiert, sondern durch die Untoten der Familie Krasnov auch deren Familiengeschichte.

In der säulenumstandenen Geburtstagstorte leben sie ziemlich komfortabel, aber im wirklichen Leben hatten sie immer das Nachsehen, wurden bedroht, terrorisiert, betrogen, vertrieben, geplündert:

„Unsere Familie hat seit eh und je kleine Paläste verteidigt und sie dann an Revolutionen und Kriege verloren. Der Putz bröckelte ständig, Menschen verschwanden, doch auf welcher Seite das alles geschah, wusste eigentlich niemand. Die Seite, auf der wir standen, verschob sich dauernd. Es war selten unsere Entscheidung.“

Die Autorin Lisa Weeda hat – und ich wiederhole mich da gerne – aus all dem grandiose Literatur entstehen lassen. Grandios, wie sie Vergangenheit und Gegenwart im steten Wechsel auftreten lässt, um zu zeigen wie in diesem Land im Osten Europas sich alles ständig wiederholt, um von einem in den anderen Krieg zu geraten. Und als endlich mal kein Krieg herrscht, kam die Zwangskollektivierung und mit ihr eine unbeschreibliche Hungersnot – der Holodomor, dem Millionen von Menschen zum Opfer fielen. Grandios, wie sie das alles aus der Perspektive der Familie Krasnov erzählt, mit wieviel Lakonie und makabrem Witz das Tragische darin auftritt und dadurch nur noch gewaltiger wirkt. Für Lisa Weeda, die sonst Drehbücher schreibt und als Virtual-Reality-Regisseurin arbeitet, ist dieser Roman ein Debüt, das besser nicht hätte gelingen können. In Birgit Erdmann hat sie zudem eine hervorragende Übersetzerin gefunden, die das Gewicht der Sprache souverän zu ihrem Recht verhilft.

Das Schlusswort soll Lisa Weeda haben. Das Kapitel „Volksrepublik Lugansk“ mit dem Datum 25. August 2014 hätte auch ein heutiges Datum tragen können und geht so:

„Eine neue Grenze wurde gezogen. Es gibt sie für Kolja, für Larissa, Witja, Julija und Nina. Nicht aber für den Rest der Welt. Die Volksrepublik existiert, und sie existiert nicht. Sie ist ein Schemen auf der Weltkarte, ein Schattengebiet, schraffiert von einer kleinen Gruppe Menschen, die sich gegenseitig versichern, dass es echt ist. Es geht wieder los, das Theater, der soundsovielte Akt des Dramas vom Donbass.“

Zu ergänzen bliebe, dass neben der „kleinen Gruppe Menschen“ jetzt noch der große Kreml steht, angeführt von einem Kriegsverbrecher. Aber auch das hat Tradition. Das Passwort für die Internetverbindung verrät uns die Autorin: PUTIN_ist_ein_Scheißkerl.

Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverbandes Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Lisa Weeda: Aleksandra; Februar 2023; Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann; 288 Seiten, mit Karten und Stammbaum; gebunden mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-98568-058-0; Kanon Verlag; 25,00 €

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