Die Kraft des Nicht-Geschehens

„Kann man an Grippe sterben?“ — „Ich glaube schon, aber sie hatte Krebs.“ So ein Austausch zwischen dem 14-Jährigen Martin (Villads Bøye) und der besten Freundin seiner soeben verstorbenen Mutter Lizzi (Sidse Babett Knudsen) ziemlich zu Beginn des dänischen Coming-of-Age-Films Speed Walking. Noch kurz zuvor witzelten Martin und sein bester Freund Kim (Frederik Winther Rasmussen), darüber, warum die Fahne wohl auf Halbmast gehisst wäre. Wer denn nun wieder gestorben sei. Vermutlich jemand Altes, „sonst hätten wir es gehört“, meinen sie. 

„Vorarbeit zahlt sich nicht immer aus“

Nun, weit gefehlt. Mitten aus dem Leben gerissen wurde Maja, wie die Mutter heißt. Hieß? Der Arzt habe noch nie einen so schnellen Verlauf gesehen wird gesagt. Im Kontrast dazu — wie auch zum titelgebenden Speed Walking, das Martin auf hohem Niveau betreibt — verläuft der in den 1970er-Jahren spielende Film von Niels Arden Oplev, der wiederum auf einem Roman von Morten Kirksov basiert, eher gemächlich. 

Martin und Lizzi // © Salzgeber

Der Tod der Mutter ist Auslöser diverser Veränderungen. Vater Hans (Anders W. Berthelsen) ist außer sich vor Trauer, fängt sich im Laufe des Films jedoch. Im Gegensatz zu Martins älterem Bruder Jens (Jens Malthe Næsby), der sich weigert die Sonnenbrille der geliebten Mutter abzusetzen. So ist der beinahe stoische Martin mehr oder weniger auf sich allein gestellt, wenn Lizzi auch helfen mag. Die allerdings ist gut mit ihrem trinkenden Mann Rolf (Jacob Lohmann) beschäftigt und feiert dessen zeitweilige Abwesenheiten mit WodkaSaunaaufgüssen. Für die Martin noch zu jung ist.

„Was hat Gott sich dabei gedacht?“

Und doch beginnt ausgerechnet in dieser Zeit des Verlustes eine große Veränderung. Neben der anstehenden Konfirmation gähnt sich das sexuelle Erwachen seinen Weg. So interessiert Martin sich für Mitschülerin Kristine (Kraka Donslund Nielsen), das tut jedoch auch Kim. Der die Entwicklung ihrer Brüste schon mal grafisch festgehalten hat. Kristine wiederum scheint lange Zeit die Einzige zu sein, die die unterdrückte Trauer Martins versteht und fordert ihn auf, diese zuzulassen.

Speed Walking halt // © Salzgeber

Was nun alles ein wenig drüber klingen mag, ist es ganz und gar nicht. Speed Walking erzählt all dies, ergänzt um reichlich verschrobene Charaktere und skurrile Momente, ruhig dahinfließend in sonnigen, gelbgetönten Bildern von Rasmus Videbæk. Es gibt keine großen Dramen, wenn auch einen entscheidenen Gefühlsausbruch.

„Der braucht ‘ne Tracht Prügel“

Dafür wird viel „geübt“. Martin und Kim wollen sich auf ihre Zeit mit Mädchen vorbereiten und probieren das aneinander. Dann gibt es noch den örtlichen creepy Typen, zu dem manche Jungen zum „Üben“ gehen. Doch irgendwann stellen Martin und Kim fest, dass dieses gemeinsame Üben ihnen doch wichtiger ist als gedacht. „Das war fast zu echt“, heißt es an einer Stelle. Aber ein Homo will Kim auch nicht sein, so wie Martins Onkel Kristian (Pilou Asbæk aus Game of Thrones und Borgen in feiner Nebenrolle), der in Kopenhagen mit einem Mann zusammenlebt.

Das Faszinierende an Speed Walking, einem der erfolgreichsten dänischen Filme der letzten Jahre und vielfach nominiert und ausgezeichnet, ist, dass im Grunde genommen über einhundert Minuten nicht viel passiert und doch gibt es keinen Stillstand. Vor allem erleben wir mit, wie Martin sich in seinem Zwischenzustand noch nicht erwachsen, aber auch nicht mehr Kind zu sein, einzurichten versucht. Wie er sich emanzipiert und eine innere wie auch geäußerte Stärke entwickelt, die eine*n denken lässt: Der Junge, der macht das schon. 

Mehr als nur Freunde? Martin und Kim // © Salzgeber

So zieht Speed Walking uns, auch dank guter Darsteller*innen, zärtlicher Inszenierung und liebevoller Ausstattung, schnell auf seine Seite und in seinen Bann. Manches Mal ist es gerade das Nicht-Geschehen, das so vieles hervortreten lässt

JW

PS: Es ist übrigens eine Freude, dass es in Kooperation mit Salzgeber Formate wie BR QUEER, rbb QUEER und nun auch WDR QUEER gibt, die Filme wie Speed Walking, der bald zehn Jahre alt ist, ins Free-TV (und anschließend in die Mediathek) bringen. Da gibt es wahrlich Perlen zu entdecken. WDR QUEER widmet sich ab dem 3. August übrigens einer Werkschau der queerfeministischen Filmemacherin Céline Sciamma, u. a. mit Portrait einer jungen Frau in Flammen, Water Lilies und Tomboy — auch zu diesen Filmen lest ihr natürlich noch unsere Rezensionen. 

Speed Walking wird im Rahmen von BR QUEER als deutsche Erstausstrahlung am Donnerstag, 13. Juli 2023, um 23:15 Uhr im Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt und ist anschließend für 14 Tage in der ARD-Mediathek verfügbar.

Speed Walking; Dänemark 2014; Regie: Niels Arden Oplev; Drehbuch: Bo Hr. Hansen, Morten Kirksov (auf dessen Roman der Film basiert); Kamera: Rasmus Videbæk; Musik: Jacob Groth; Darsteller*innen: Villads Bøye, Frederik Winther Rasmussen, Kraka Donslund Nielsen, Anders W. Berthelsen, Sidse Babett Knudsen, Pilou Asbæk, Jacob Lohmann, Jens Malthe Næsby, u. v. m.; Laufzeit ca. 108 Minuten; FSK: 16; dänische Originalfassung mit deutschen Untertiteln

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