Diffuse Souveränität

Souveränität ist ein großes Wort. Menschen wollen eigenständig, souverän, über ihr Leben entscheiden können. Wenn – Verzeihung – stumpfsinnige Idioten hierzulande über „Meinungsdiktatur“ und „Sprachpolizei“ skandieren, kann mensch nur den Kopf schütteln. Jeder hierzulande kann selbstständig, souverän, entscheiden, was sie oder er denkt oder sagt, egal, was für ein Käse es sein mag (Holocaustleugnung dankenswerterweise mal ausgenommen)…

In vielen anderen Gegenden dieser Welt ist das nicht so. Belarus ist eine Diktatur vor dem Herrn, die Ukraine kämpft für ihre Freiheit und was beispielsweise in vielen arabischen Staaten abgeht, wollen viele von uns gar nicht wissen. Taiwan hingegen ist heute ein sehr demokratisches Land mit freien Wahlen, relativem Wohlstand und Meinungsfreiheit.

Nicht souverän

Dabei ist es eines jedoch zumindest formal nicht: souverän. Die Volksrepublik China betrachtet Taiwan als Teil seines Staatsgebiets und nur weniger als 20 Staaten erkennen Taiwan an. In Europa übrigens nur der Vatikanstaat. Taiwan hat eine bewegte Geschichte hinter sich, von der viele von uns nur wenig wissen.

Einen Einblick in diese Geschichte gibt uns Stephan Thome, der bereits seit einer Weile in der Hauptstadt Taipei lebt und arbeitet. Nach mehreren Nominierungen für den Deutschen Buchpreis veröffentlichte er bei Suhrkamp 2021 sein Buch Pflaumenregen, das dort 2022 auch als Taschenbuch erschienen ist.

Kolonisierung reloaded

Pflaumenregen setzt in der Zeit des Zweiten Weltkriegs ein, als Taiwan von den Japanern kolonisiert war, die auf Seiten der Achsenmächte gegen die Allierten kämpften. Hauptfigur ist Umeko, die zu jener Zeit noch ein junges Mädchen ist und sowohl in als auch jenseits der Schule eine halbwegs geordnete Kindheit an der Nordküste der Insel verbringt – soweit das in Zeiten des Krieges eben möglich war. Ihren Bruder Keiji vergöttert sie, ihr Vater arbeitet in einer Goldmine und ein Lager mit britischen Kriegsgefangenen bringt einiges in ihrem Leben durcheinander.

Das ist auch der Fall, als der Krieg endet. Die Japaner müssen die Insel aufgeben und Festlandchina übernimmt die Macht. Erst geschieht das halbwegs… sagen wir organisch, aber als sich der Kampf zwischen Maos Kommunisten und den regierendenTruppen Chiang Kaisheks zuspitzt, kommen Ende der 1940er-Jahre binnen kürzester Zeit rund zwei Millionen Anhänger Chiangs auf die Insel und übernehmen die Macht. Was folgt, ist eine Jahrzehnte währende Diktatur der Kuomintang, die das Leben aller Bewohnerinnen und Bewohner Taiwans vollauf einnimmt.

Neues Land am selben Ort

So auch das von Ching-mei, wie Umekos chinesischer Name lautet. Ihr und all ihren Landsleuten wurde alles Japanische quasi über Nacht untersagt und sie finden sich in einem neuen Land wieder, obwohl sie immer noch am selben Ort leben. Der Vater übernimmt die Teehandlung des Bruders in Taipei und die Familie zieht natürlich mit. Ching-mei wird ihre alte Heimat über viele Jahrzehnte nicht mehr sehen.

Erst als alte Frau soll sich hierzu noch einmal die Gelegenheit ergeben. Ihre Kinder und Enkelkinder leben heute teils außer Landes, haben englische Namen und leben 2016 das Leben westlicher Bürgerinnen und Bürger. Taiwan ist ihnen ein in vielen Punkten fremdes Land und wie so viele (Enkel-)Kinder versuchen sie etwas über die Vergangenheit des Landes, aus dem sie stammen, herauszufinden.

Permanente Bedrohung

Am Ende entspinnt sich so auf mehr als 500 Seiten die Chronik einer vielen von uns wenig bekannten Insel. Diese ist geprägt von Fremdherrschaft und Dominanz, von Bevormundung und Unterdrückung. Taiwans Bevölkerung musste sich immer wieder anderen Herren unterordnen. Heute ist das Land de facto souverän, aber China hat seine Ansprüche nicht aufgegeben. Im Gegenteil, jenseits der Taiwanstraße gibt es permanentes Säbelrasseln und es wird kolportiert, dass Beijing noch in diesem Jahrzehnt eine Eroberung wagen will.

Wie sehr das Streben der Taiwanerinnen und Taiwaner nach Selbstbestimmung ihren Alltag bestimmt, wird in Pflaumenregen mehr als deutlich. Stephan Thome spinnt hier feinsinnig die Geschichte eines Mädchens, das es vielleicht tatsächlich gegeben hat und hier sinnbildlich für alle Taiwanerinen und Taiwaner steht.

Perspektivwechsel

Wir begleiten Umeko/Ching-mei durch ihr komplettes Leben und sehen immer wieder Reminiszenzen ihrer Kindheit aufblitzen. Diese wird ausführlich beschrieben und nimmt einen großen Teil des Buches ein. Eher knapp sind die Passagen als junge Erwachsene gehalten, als sie eine Beziehung und Ehe mit ihrem früheren Nachbarn Chen Hao eingeht. Die rund 40 Jahre bis in die Neuzeit werden gar komplett übersprungen.

In der Neuzeit ist sie zwar auch sehr präsent, aber die Handlung fokussiert sich an vielen Stellen auf ihre Nachkommen, die mehr über das Leben ihrer Mutter erfahren wollen. Das ist glaubwürdig und gibt uns einen anregenden Perspektivwechsel, der uns die Geschichte auch aus einer anderen Perspektive sehen lässt. Dieser Perspektivwechsel wird von Thome immer wieder zwischen die anderen Kapitel eingeschoben, was einen willkommenen Bruch in der ansonsten linearen Erzählung darstellt.

Bewegte Insel

Pflaumenregen ist eine Lektüre, die uns die bewegte Geschichte Taiwans näherbringt. Das ist gut, denn wir wissen viel zu wenig über dieses Land, ohne dessen Halbleiter wir an vielen Stellen noch im digitalen Nirwana hängen würden. Und doch ist es trotz oder wegen aller Inhaltsfülle ein Buch, das mich immer wieder ein wenig abgehängt hat. So interessant viele Passagen auch sind und so viele kleine Querverbindungen hier auch mit großer Finesse geschlagen werden, manchmal hatte ich während der Lektüre das Gefühl, ein wenig verloren zu sein.

Stephan Thome holt in seiner Erzählung weit aus, führt uns in der Figur der Umeko/Ching-mei durch mehr als ein halbes Jahrhundert, das zu großen Teilen von Unterdrückung gekennzeichnet war. Vielleicht hätte das an der einen oder anderen Stelle ein wenig knapper gehalten werden können. Im Großen und Ganzen ist Pflaumenregen jedoch ein stimmungsvoller Roman, der ein Stück Geschichte gekonnt mit einer ansprechenden Erzählung verbindet.

HMS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Stephan Thome: Pflaumenregen; November 2022; 525 Seiten; Klappenbroschur; ISBN: 978-3-518-47283-5; suhrkamp taschenbuch 5283 – Suhrkamp Verlag; 14,00 €

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