Fakten vs. Realität vs. Utopie

Menschenrechte – eigentlich etwas Unabdingbares. Zumindest wenn wir unserem Grundgesetz folgen wollen, wo es in Artikel 1 Absatz 1 heißt, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. Eine Lehre aus den Gräueltaten, die die Nazis begingen. Und nicht nur das Grundgesetz, sondern auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde als Folge des Zweiten Weltkriegs verfasst. Am 10. Dezember jährt sich diese Erklärung zum 75. Mal.

Anlass genug, um Bilanz zu ziehen, denn in vielen Teilen der Welt ist es um die Menschenrechte nicht so gut bestellt, wie im aufgeklärten Mitteleuropa (und auch hier nur großteils). Heute blickt die Welt nach Gaza, vor einem Jahr blickte sie nach Katar. Heute ist Krieg (also diesmal manifest, nicht nur latent), damals war Fußball-Weltmeisterschaft der Männer.

Wenn kein Kamel mehr schreit

In Deutschland hatte jene WM hohe Wellen geschlagen – in anderen Ländern übrigens nicht so sehr. Viel wurde vorab über die Lage der Menschenrechte in Katar und allgemein den arabischen Staaten diskutiert. Es hieß, dass die WM in Katar vielleicht nicht die beste Idee sei, aber zumindest lenke sie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Zustände in der Region. Das stimmt, aber heute schreit kein Kamel mehr danach. Im Gegenteil, es scheint, dass die nächste WM auf der Arabischen Halbinsel bereits unter Dach und Fach ist: 2034 in Saudi-Arabien. Juhu.

Einfach Nein!

Ein Grund mehr, sich die Situation vor einem Jahr noch einmal in Erinnerung zu rufen, denn die Bedeutung der Golfstaaten ist ungebrochen, was beim derzeitigen Klimagipfel in Dubai umso deutlicher wird. Ein Buch aus jener Zeit ist die etwa hundertseitige Streitschrift Menschenrechte sind nicht käuflich – Warum die WM in Katar auch bei uns zu einer neuen Politik führen muss des Politik- und Islamwissenschaftlers Sebastian Sons, die bereits vor einem Jahr in der Zündstoff-Reihe des Atrium Verlags erschienen ist.

Keine Strategie…

Sons argumentiert anhand des Beispiels der damals bevorstehenden WM, dass Europa und vor allem Deutschland keine umfangreiche Strategie gegenüber den autoritären Golfstaaten hätten. Westliche Werte und vor allem Menschenrechtsstandards stünden auf der einen Seite – Stichwort: wertebasierte Außenpolitik. Auf der anderen Seite gebe es aber auch Interessen, beispielsweise wirtschaftlicher Art.

H2Queer

Wie passt es also zusammen, wenn eine Gesellschaft sich über Menschenrechtsverletzungen in Katar empört, der Vizekanzler und Wirtschaftsminister (nicht Außenminister, wie es bei Sons einmal fälschlicherweise heißt) aber nach Doha fährt, um dort LNG für die deutsche Wirtschaft (und unsere warmen Wohnungen) zu besorgen? Die deutsche Außenpolitik habe keine Instrumente, um diesen Konflikt aufzulösen, wirke daher nicht konsistent, so der Autor im Wesentlichen.

…also machen wir eine

Ihm geht es daher darum, einen Weg aufzuzeigen, wie Deutschland diese Lücke füllen könne. Mehrere Elemente hierfür nennt er, aber er geht zuvor auch auf die Interessen, Werte und Strategien der Golfmonarchien ein, die die deutsche und europäische Politik an dieser Stelle berücksichtigen müssen. Und da das Buch im Vorfeld der Weltmeisterschaft erschien, liegt ein besonderes Augenmerk selbstverständlich immer wieder auf dem Sport, den gerade Katar häufig als Vehikel nutzt, um sich international zu positionieren und sein Nation Branding voranzutreiben.

(Bei) Moskau an der Leine

Sons‘ Wunsch ist löblich, aber ob die Realität hier mithalten kann, ist leider sehr fraglich. Er arbeitet zwar sehr gut die Unstimmigkeiten und Lücken der deutschen und europäischen Außenpolitik heraus und auch die dami begründeten Spannungen in der Innenpolitik lässt er nicht außen vor. Gerade der bereits erwähnte Konflikt zwischen Werten und für die Außenpolitik so bedeutenden Interessen nimmt immer viel Raum ein und wird ausführlich beleuchtet. Er schafft es somit durchaus, eine kluge und idealisierte Strategie für eine gezielte deutsche Außenpolitik zu entwerfen.

Wenn Rote Linien überschritten werden

Allerdings gibt es in seiner Argumentation auch problematische Elemente. Ein Beispiel: Rote Linien. An einer Stelle fordert er, dass klare Rote Linien in einer Strategie benannt werden müssen. Nur: Was passiert, wenn Katar oder andere Golfstaaten sie dennoch überschreiten? Um glaubwürdig zu bleiben, wären wir gezwungen, dann konsequent zu handeln, selbst wenn es schmerzt. Viele Golfstaaten sind mit der Hamas mindestens „befreundet“, eher mehr – Katar übrigens ganz besonders. Konsequent wäre es daher nach dem 7. Oktober gewesen, die Beziehungen zu allen Unterstützern der Hamas zu kappen.

Syrien war kein Damaskuserlebnis

Aber können wir das? Können wir wirklich sagen, dass wir auf die (noch nicht anglaufenen) Gaslieferungen aus Katar verzichten, wenn unsere Wirtschaft scheinbar ohnehin bereits zu darben droht? Wenn im Land maximale Unsicherheit herrscht, wie es mit Investitionen in den Klimaschutz nach dem Karlsruher Urteil weitergeht? Es steht zu vermuten: Nein, wir können nicht. So löblich Rote Linien sind, sie erfordern absolute Konseqenz und diese in einer Demokratie, die auf Kooperation und Offenheit zielt, zu vermitteln, ist deutlich weniger attraktiv, als dies nicht zu tun. Oder gar in autoritären Staaten zu leben, die – womit wir wieder beim Ausgangsthema wären – Menschenrechte mit Füßen treten.

Kein Seitenwechsel

Auch die Gegenseite lässt Sons in seiner Argumentation weitgehend außer Acht. Ja, er bezieht in seine Kalkulation ein, dass auch die Kataris und andere Golfstaaten von einer Zusammenarbeit profitieren müssten. Aber was bei ihm fast zu gegeben scheint, ist die Annahme, dass die Golfstaaten unsere Offerten mit offenen Armen empfangen.

Es gibt im Iran keine Homosexualität

Das könnte sein, sehr wahrscheinlich ist es leider nicht. Welchen Anreiz haben denn die Golfstaaten, sich mit Europa und Deutschland einzulassen? Ja, es geht um Business und ein wenig Prestige. Aber seien wir ehrlich: Zumindest Geschäfte können auch mit anderen Staaten gemacht werden. China oder Russland. Wladimir Putin war erst dieser Tage in in den Emiraten und Saudi-Arabien. Im Westen geächtet, aber am Golf wird er hofiert.

Wenn schon Demokratien nichts von uns wissen wollen…

Und noch eine Sache sehen wir dieser Tage, selbst wenn sie eine ganz andere Weltregion betrifft: Das Handelsabkommen mit den MERCOSUR-Staaten steht vor dem Aus. Schuld sind nicht zuletzt die (zurecht) hohen Umweltstandards, die Europa ansetzt. Südamerika sagt an dieser Stelle offenbar weiterhin Nein. Handel lässt sich auch mit anderen Staaten treiben, die nicht so sehr auf ihre als neo-kolonialistisch empfundenen Werte pochen.

Caipi für Populisten

Ersetzen wir Umweltstandards einmal durch Menschenrechte: Welchen Anreiz sollten die Golfstaaten haben, sich mit Deutschland und Europa einzulassen? Richtig: nicht allzu viele. Was Sons hier also aufmacht, ist ein gut gemeintes Gedankenspiel, bei dem es aber alles andere als klar ist, ob es in der Realität auch funktioniert.

Eher Utopie als Zündstoff

Was also bleibt von Sebastian Sons‘ Streitschrift Menschenrechte sind nicht verhandelbar? Es handelt sich um eine gute Zusammenstellung von Fakten und die stringente Erarbeitung von Lücken in der deutschen Politik, vor allem der Außenpolitik sowie der Menschenrechtssituation in Katar, selbst wenn er sich an dieser Stelle leider sehr einseitig nur auf die (in der Tat prekäre) Situation der Wanderarbeiter bezieht. Frauen- oder Queer-Rechte werden mit quasi keinem Wort erwähnt.

#IDAHOBIT ist jeden Tag

Er erarbeitet einen Strategievorschlag, um die erkannten Lücken in der deutschen Außenpolitik in Hinblick auf den Umgang mit den Golfstaaten zu schließen. Auf dem Papier klingt vieles, das er adressiert, sehr gut, aber leider dürfte das in der Realität auf sehr wenig Wiederhall in der deutschen und vor allem der Politik der Golfstaaten stoßen. Katar und viele andere finanzieren wie gesagt die Hamas und andere Terrororganisationen (Afghanisrtan-Kommentar). Massenmörder wie Wladimir Putin werden heute am Golf (und zumindest hinter verschlossenen Tüten auch manchem EU-Staat) hofiert. Statt Zündstoff handelt es sich wohl leider eher um eine Utopie.

HMS

Sebastian Sons: Menschenrechte sind nicht käuflich – Warum die WM in Katar auch bei uns zu einer neuen Politik führen muss; September 2022; 128 Seiten; Taschenbuch; ISBN 978-3-85535-140-4; Atrium Verlag AG; 9,00 €

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