„Wir können das Gute wählen.“

Heute findet der Bundesweite Vorlesetag bereits zum 20. Mal statt. Nun stellt sich die Frage, welche Bücher passen denn zu diesem Tag. Welches Themenspektrum soll abgedeckt werden? Niedlich, aber lehrreich? Sicherlich. Heiter, aber mit Köpfchen? Unbedingt! Von ganz klein bis nicht mehr so ganz klein? Bestimmt. Doch, und diese Frage stellen wir uns in Markus Lanz‘scher Manier „nur ganz kurz“, um dann länger drauf einzugehen: Fallen darunter auch Titel für eine Altersgruppe, die durchaus selber und selbstständig lesen kann, bei manchen Titeln aber unterstützt werden sollte?

„Wir haben alle eine Wahl“

Da wir das bejahen würden, ist ein Buch, den wir anlässlich des Vorlesetages vorstellen wollen, neben jenem, das wir heute bereits vorstellten und das eben unter „niedlich, aber lehrreich“ fällt, Hédi Frieds erstes Kinderbuch Die Geschichte von Bodri, das Stina Wirsén empathisch illustriert hat und im Bohem Verlag erschienen ist (übrigens wie unsere andere Empfehlung ebenfalls eine Schweizer Adresse).

Kurz zu Hédi Fried: Geboren wurde sie 1924 in Marmaroschsiget, Rumänien, wo sie mit ihren Eltern und später ihrer jüngeren Schwester Livia lebte. Im April 1944 wurden alle Juden und Jüdinnen aus der Stadt und den umliegenden Dörfern von den Nazis vorübergehend ins Ghetto der Stadt vebannt. Hédi Fried und Familie wurden dann am 15. Mai 1944 ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert, die Eltern dort ermordet. Sie und Livia überlebten die Schoa schließlich im KZ Bergen-Belsen, das britische Truppen im April 1945 befreiten. Im Juli desselben Jahres gelangten Hédi und Livia durch das Rote Kreuz nach Schweden, wo Hédi Fried bis zu ihrem Tod am 20. November 2022 lebte.

„Bodri war unser Wachhund“

Fried war eine der letzten Zeitzeug*innen und setzte sich zeitlebens dafür ein, dass nicht in Vergessenheit gerät, was geschehen ist. Engagierte sich dafür, jungen Menschen die Gräuel nahezubringen, appellierte an die Wichtigkeit des Erinnerns und beantwortete vor allem in aller Offenheit Fragen (was sie eindrücklich in ihrem Buch Fragen, die mir zum Holocaust gestellt werden dokumentiert hat). Getreu dem Motto, mit dem Die Geschichte von Bodri schließt: „Wir sind hier und wir erzählen jedem davon, was passiert ist. Damit es nie wieder passieren kann.“

© Stina Wirsén/Bohem Verlag

Mit Blick auf diesen Satz, mag mensch derzeit mancherorts kaum aus dem Fenster schauen und in den Fernseher nirgendwo. Das aber nur am Rande. In der Geschichte von Bodri erzählt Fried nun Teile ihrer Geschichte kindgerecht und in greifbarer Sprache. Bodri ist der Hund der Familie, vor allem aber ihrer, und gemeinsam mit ihrer nicht-jüdischen Freundin Marika und deren Hund Bandi wird sich ausgetobt und auf den Walnussbaum geklettert.

„Die Erwachsenen verschwanden“

Bis sie eines Tages im Radio der Familie „einen Mann in einer anderen Sprache schreien [hört]. Er hieß Adolf Hitler.“ Der Papa sagt noch, man brauche keine Angst zu haben, habe nichts falsch gemacht. Das spielte aber keine Rolle, denn:

Ist es bis heute nicht. Ändert bis heute nichts. Umso wichtiger ist es, dass sich Eltern gemeinsam mit ihren Kindern dieses Themas und des Buches, das im Folgenden die Okkupation durch die Nazis „mit ihren Waffen und ihren leeren Augen“, die Veränderungen in der Stadt („VERBOTEN FÜR JUDEN“), die Deportation und das Überleben im KZ beschreibt, annehmen.

„Ich dachte jeden Tag und jede Nacht an ihn“

Dabei taucht immer wieder Bodri auf, der über die Jahreszeiten hinweg der Rückkehr seiner zweibeinigen Freundin harrt, derweil Hédi beschreibt, wie der Gedanke an den geliebten Hund ihr Kraft gibt, durchzuhalten und weiterzuleben. All dies in wie erwähnt altersgerechter Sprache (das Buch ist ab acht Jahren empfohlen, dazu gleich mehr), sehr zugänglich und – da muss ich mich wiederholen – empathisch übersetzt von Christina Tüschen.

© Stina Wirsén/Bohem Verlag

In Kombination mit den (Tusche-, Pinsel-, Strich-)Zeichnungen von Stina Wirsén, die von gemütlich über fröhlich zu besorgt und bedrängend bis bedrückend und düster reichen, wirken die Worte umso intensiver. Was jedoch sowohl Worte wie auch Bilder aussparen, sind Grausamkeiten. Ja, wir sehen marschierende Nazis, den Deportationszug, Hitlers Konterfei das bedrohlich über mancher Szenerie wabert und die Mädchen im KZ hinter Stacheldraht. Doch wird auf Bilder von Gaskammern, Erschießungen oder Ähnlichem verzichtet; ebensowenig schreibt Fried über die Ermordung der Eltern.

„Wir froren und hatten Angst“

So würde ich, würden wir also meinen, dass das Buch zum gemeinsanem Lesen mit den Eltern, älteren Geschwistern oder auch Lehrer*innen absolut geeignet ist. Ob nun acht, zehn oder zwölf. Herrje, ich denke, ich würde es manch Mittfünfziger*in vorlesen, um die Person zum ersten Mal sensibel ans Thema ranzuführen, Fragen zu beantworten.

© Stina Wirsén/Bohem Verlag

In ihrem „Nachwort für Erwachsene“ schreibt die Literaturwissenschaftlerin und Publizistin Dr. Margret Karsch dazu: „Es liegt in der Verantwortung der Erwachsenen, die das Buch Kindern vorlesen oder es mit ihnen gemeinsam lesen, zu entscheiden, ob das Thema dem einzelnen Kind, den einzelnen Kindern zuzumuten ist. Und – das ist die große Herausforderung – so damit umzugehen, dass die Kinder zumindest eine vage Vorstellung von der nationalsozialistischen Herrschaft und der Ausgrenzung, Verfolgung, Inhaftierung, Misshandlung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Europa bekommen […]“

Dem können wir nur zustimmen und denken dabei auch an den oben zitierten Satz im Verlauf der Geschichte, dass Hitler sie hasste, obwohl der sie doch gar nicht kannte. Unschuldige Menschen, die sich in nichts von all den anderen Menschen unterschieden und unterscheiden. Nur in einem, wie auch in der Geschichte zu lesen ist: „Marika ging in die Kirche und ich ging in die Synagoge. Ich war Jüdin, Marika nicht.“

Den Blick schärfen

Es sind kleine Sätze, die stechen, die hoffentlich Fragen hervorrufen („Aber warum ist das denn schlimm?“), auf die die Erwachsenen hoffentlich Antworten finden. Die sie vielleicht selbst noch einmal vor Fragen stellen. Denn da dürften längst nicht alle beantwortet sein, wenn ich mich etwa an eine Kontrovers-Sendung im Deutschlandfunk erinnere, in der diverse (wie es klang vor allem ältere) Anrufer*innen sich wunderten, warum denn „die“ Israelis und Juden sich nun wunderten, was da gerade seit dem 7. Oktober geschehe. Quintessenz: They had it coming.

No, they did not. Heute nicht, damals nicht, in Zukunft nicht. Erinnerung allein reicht nicht, um hier zu wirken. Aber sie ist ein wesentlicher Baustein, wenn wir dieses etwas ominöse #NIEWIEDER mit Inhalten füllen wollen. Wenn wir dem „Kampf gegen Antisemitismus“ eine Grundlage geben wollen. Und da sollte möglichst früh angesetzt werden. Hédi Frieds letztes Buch war mit Die Geschichte von Bodri glücklicherweise eines, das viele junge Menschen als erstes bewusst wahrnehmen dürften und kann helfen, diese Grundlage zu schaffen. Dem Bohem Verlag ist nur dafür zu danken, dass er das 2019 in Schweden erschienene Kinderbuch im Frühjahr 2022 in den deutschsprachigen Raum gebracht hat.

AS

Hédi Fried (Text), Stina Wirsén (Illustrationen): Die Geschichte von Bodri, mit einem Nachwort von Dr. Margret Karsch; Aus dem Schwedischen von Christina Tüschen; Februar 2022; 40 Seiten, vollfarbig; Hardcover; Format: 17 x 26cm; ISBN 978-3-95939-203-7; Bohem Verlag; 15,00 €

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