Die Wurzeln des Hungers

Von verschiedenen Seiten war zuletzt zu hören, dass die Ukraine drohe, in eine Art diktatorisches Regime abzurutschen. So wir Putin Glauben schenken mögen, sind dort ohnehin seit Jahren Nazis und Faschisten an der Macht, aber dass wir diese Propaganda nicht ernst nehmen sollten, steht hoffentlich außer Frage.

Dass die für kommendes Frühjahr turnusmäßig anstehenden Wahlen verschoben wurden, ist aus demokratischer Sicht in der Tat bedauerlich, aber aufgrund des russischen Angriffskriegs nachvollziehbar. Und dennoch – Präsident Wolodymyr Selenskyjs Führungsstil soll recht autoritär sein (ebenfalls nachvollziehbar) – das Abgleiten in Diktatur und Autoritarismus ist ein gradueller Prozess für Individuum und Gesellschaft.

Wenig Brot und grausame Spiele

Davon erzählt auch die am vergangenen Donnerstag in die Kinos gekommene Buchverfilmung Die Tribute von Panem: The Ballad of Songbirds and Snakes von Regisseur Francis Lawrence und den Drehbuchautoren Michael Arndt und Michael Lesslie. Der Film ist ein Prequel zur vierteiligen Erfolgssaga, deren erster Teil vor etwa zehn Jahren mit Jennifer Lawrence und Josh Hutcherson in die Lichtspielhäuser kam.

© 2022 Lionsgate/ LEONINE Studios

Zentraler Charakter des in drei Teile gegliederten Films ist der junge Coriolanus „Coryo“ Snow (Tom Blyth), von dem wir aus den früheren Filmen wissen, dass er Panem mit harter Hand regiert und sein Volk in Kapitol und den zwölf umliegenden Distrikten mit wenig Brot und grausamen Spielen… sagen wir bei Laune hält. Der jugendliche Coryo hingegen ist zwar von Krieg und Hunger des zehn Jahre zuvor niedergeschlagenen Aufstands der Distrikte gezeichnet, vereint aber sowohl eine (noch) gesunde Portion an Idealismus, Machstreben und schon fast zu viel Anspruchsdenken in sich (ein Gruß geht an alle Drachenmütter dieser und anderer Welten).

Stärke und Köpfchen

Seit zehn Jahren gibt es also die Hunger Games, eine Erfindung von Coryos totem Vater und (eigentlich) Dekan Casca Highbottom (GoT-Import: Peter Dinklage). Was sie sind und welchem Zweck sie dienen, dürfte hinlänglich bekannt sein. Entscheidend an dieser Stelle ist, dass für den jungen Coryo mit dieser Ausgabe eine entscheidende Weichenstellung verbunden ist – zumal das populäre Interesse in Panem zuletzt offenbar stark nachgelassen hat: Der Mentor des siegreichen Tributs hat die besten Chancen auf den Plinth Prize, ein Stipendium, das Coryo ein Studium an der Hochschule finanzieren sollte.

Lasset die Spiele beginnen! // © 2022 Lionsgate/ LEONINE Studios

Coryo bekommt wenig zufällig Lucy Gray Baird (Rachel Zegler) aus Distrikt 12 „zugelost“, die sich jedoch bereits bei ihrer Präsentation ins Rampenlicht züngelt. Coryo schafft es, einerseits aus ihr einen Publikumsliebling zu machen, andererseits aber die Spiele durch einige Modifikationen wieder zu einem Zuschauerhit zu machen. Die Oberste Spielemacherin Dr. Volumnia Gaul (grandios: Viola Davis) jedenfalls ist überaus angetan von Coryos Performance – kann jedoch nicht verhindern, dass dieser nach Ende der Spiele des Betrugs überführt und nach Distrikt 12 zur Freiheitsgarde geschickt wird.

Der Moderator der Hungerspiele, Lucretius ‘Lucky’ Flickerman (Jason Schwartzman), weiß sich in Szene zu setzen // © 2022 Lionsgate/ LEONINE Studios

Dort wiederum lernt Coryo das Leben „draußen“ kennen – und seinen vormaligen Tribut auch von einer ganz anderen Seite. Das Leben in diesem ärmsten Distrikt ist ein ganz anderes, die Regeln auch. So ist es wenig überraschend, dass Coryo diese übertritt und in der Folge in Schwierigkeiten kommt. Mehr als noch im Kapitol gilt hier das Recht des Stärkeren – eine Erfahrung, die Coryo für den Rest seines Lebens prägen wird.

Eine lupenreine Autokratie

Das ist an dieser Stelle bereits eine sehr lange Zusammenfassung, aber immerhin läuft The Ballad of Songbirds and Snakes auch mehr als zweieinhalb Stunden. Es wäre somit äußerst bedenklich, wenn es nicht einiges zusammenzufassen gäbe. Denn in der Tat passiert hier auf nicht ganz so engem Raum unglaublich viel. Die Handlungs- und Actiondichte ist extrem hoch und es gibt für uns kaum einen Moment, in dem wir als Zuschauerinnen und Zuschauer einmal durchatmen können. Von Coryo und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern einmal ganz zu schweigen…

Coriolanus Snow (Tom Blyth) präsentiert Dr. Volumnia Gaul (Viola Davis) seine Ideen für die Hungerspiele // © 2022 Lionsgate/ LEONINE Studios

Panem geriert sich zu dieser Zeit als lupenreine Autokratie. Besonders die Spieleleiterin Dr. Gaul scheint in Joseph Goebbels ihr Vorbild gefunden zu haben und nutzt ihr mächtigstes Schwert – die Hunger Games – um das Volk unter ihre Kontrolle zu bringen. Viola Davis verkörpert diesen weiblichen Bösewicht mit so großer Authentizität, dass der junge Coryo ihr einfach erliegen muss.

Die Dramatik des Abgleitens

In ihm spielt sich nämlich die ganze Dramatik dieses Abgleitens ab: Anfangs noch erhaben und Ansprüche stellend, wird er von Highbottom und eben Gaul in seinem Temperament eingebremst. Anders als viele seiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter zeichnet er sich durch Köpfchen, die Fähigkeit zuzuhören und zu reflektieren aus und bringt auch einen gewissen Mut zum Risiko mit, wenn er seine Ambitionen erfüllen will. Tom Blyth geht in dieser Rolle auf wie eine weiße Rose.

Brechen Coriolanus Snow und Lucy Gray Baird zusammen in ein neues Leben auf?// © 2022 Lionsgate/ LEONINE Studios

Lucy Gray hingegen wirkt wie die Getriebene, der Spielball, der einfach das mitmachen muss, was äußere Mächte ihr aufzwingen. Sie agiert mit Hinterlist und ebenfalls mehr als klug, womit sie dem Schönling aus dem Kapitol ähnelt. Allerdings startet sie von einer weit weniger privilegierten Position als Coryo und die Klassenunterschiede – von den Macherinnen und Machern sowie der Autorin der Buchvorlage Suzanne Collins mit großer Wahrscheinlichkeit beabsichtigt – treten immer wieder zutage.

Ein Regenbogen – nicht nur grau

Natürlich erfreuen wir uns an den vielen Spezialeffekten, an ausgeklügelten Kameraeinstellungen, -fahrten und -flügen (Jo Willems), an manchen Hinweisen auf die anderen Filme (und Bücher von Suzanne Collins) der Reihe und natürlich an der grandiosen Musik (James Newton Howard), die sich wesentlich, aber nicht ausschließlich auf den Gesang von Lucy Gray stützt. Das Herzstück ist aber die charakterliche Entwicklung des Coriolanus Snow, die uns durch diesen trotz (oder gerade wegen) mancher Regebogenfarben düsteren Film führt.

Anfangs noch strahlender Sympathieträger und Held im Wartestand wird Coryo Schritt für Schritt korrumpiert, muss lügen, betrügen und verraten. Und selbstverständlich macht das etwas mit dem Charakter eines Menschen. Das dreht an manchen Stellen vielleicht die eine oder andere unnötige Schleife (vor allem im zweiten Teil und zu Beginn des dritten), aber es fesselt dennoch ungemein.

Ich ist ein anderer // © 2022 Lionsgate/ LEONINE Studios

Aus einem strahlenden Helden wird hier ein sinisterer Charakter, der in den mindestens 65 darauffolgenden Jahren vollkommen in den totalitären Wahnsinn abgleiten soll, wie wir aus den ersten Filmen (und erneut: Büchern!) der Serie wissen. Manches (Charakter-)Drama, das später Katniss, Peeta und all ihre Kompagnons mitmachen müssen, ist hier bereits angelegt. Die Tribute von Panem: The Ballad of Songbirds and Snakes ist aus dieser Perspektive die perfekte Vorgeschichte für die drei Bücher und vier Filme, die die eigentliche Saga ausmachen.

HMS

PS: Das Buch von Suzanne Collins ist im Verlag Oetinger erschienen und kostet 26,00 Euro. Eine Besprechung auch hierzu folgt.

Die Tribute von Panem: The Ballad of Songbirds and Snakes ist seit dem 16. November 2023 in unseren Kinos zu sehen.

Die Tribute von Panem: The Ballad of Songbirds and Snakes; Regie: Francis Lawrence; Drehbuch: Michael Arndt, Michael Lesslie nach dem Roman von Suzanne Collins; Bildgestaltung: Jo Willems; Musik: James Newton Howard; Darsteller*innen:Tom Blyth, Rachel Zegler, Hunter Schafer, Jason Schwartzman, Peter Dinklage, Viola Davis, Josh Andrés Rivera, Burn Gorman; Laufzeit ca. 157 Minuten; FSK: 12

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