Jetzt sind wir dran!

Henri Jakobs und Linus Giese haben zwei wunderbare Bücher geschrieben und mischen sich in die Diskussion um Selbstbestimmung ein. Der eine führt einen Dialog über brennende Fragen, der andere schreibt lieber einen Brief. Die Deutungshoheit über das trans*Sein gehört so oder so endlich uns – das ist die selbstbewusste Botschaft.

Von Nora Eckert

Wer, wenn nicht wir, weiß, wer und was wir sind! Klar, aber wir mussten selbst erst lernen, was trans*Sein alles bedeuten kann. Mit nur einer Antwort ist es jedenfalls nicht getan. Anstatt Wissen gab es lange nur Rätselraten und Krankheitsbefunde. Wir wurden von der Wissenschaft zu Fällen für den heteronormativen Reparaturservice erklärt, aber wir waren nie kaputt, nur eben anders wie es am Ende alle Menschen in ihrer Individualität sind. Die Frage des Geschlechts war seit jeher ein Teil davon, aber auch der, der offensichtlich die anderen am meisten verunsichert.

Die Wahrheitsfindung ließ sich nicht aufhalten, auch wenn das Wissen über trans* und so über die Normalität der geschlechtlichen Vielfalt bei manchen in der Mehrheitsgesellschaft noch immer sehr weit hinter unseren Lebenswirklichkeiten zurückliegt. Gleichgültigkeit wäre zu ertragen, bitter sind jedoch die Anfeindungen in jüngster Zeit. Dennoch, trotz aller bösartigen Störmanöver, hirnlosen Mustopf-Aktionen und trans*feindlicher Kakophonie – die Selbstbestimmung kommt. Sie ist kein verhandelbares, aber ein einklagbares Menschenrecht. Genau davon handeln die Neuerscheinungen, die zur rechten Zeit kommen, um auf jeweils ihre Art auf ein Grundrecht zu pochen.

Henri Maximilian Jakobs nennt sein Buch All die brennenden Fragen und führt darüber einen Dialog mit der befreundeten Journalistin Christina Wolf. Erschienen ist das Buch im Katalyst Verlag. Beide kennen sich seit der Zeit, als Henri noch nicht so hieß. Ihr Gespräch über die brennenden Fragen des trans*Seins ist offen, klug, empathisch und absolut kurzweilig. Letzteres verdankt sich Henris Naturell, der Witz und Ironie schlagfertig serviert, und so tiefste Wahrheiten auf die lockerste Art uns Leser*innen nahebringt. Das ist seine Art, auch mit Verletzungen und all der Respektlosigkeit der Normalos umzugehen. Weh tun sie trotzdem. Geschrieben ist das Buch für alle, die Wissen und Erfahrung höher bewerten als vorgefasste Meinungen.

Wenn Henri nicht gerade Gespräche über Lebensfragen führt, die sich mit dem trans*Sein stellen, macht er Musik – und so gute, dass die Ohren davon gar nicht mehr wegwollen. Er scheint noch mehr kreative Energie in sich gespeichert zu haben. Denn als Sommerlektüre wird es von ihm, wie zu erfahren ist, auch noch einen Roman geben. Wir bleiben also dran.

Und damit zurück zu den brennenden Fragen. Da geht es beispielsweise um die unerbittliche Bürokratie der endlosen Anträge für zwingend vorgeschriebene Therapien, die Verordnung von Indikationen medizinischer Art samt widerständiger Krankenkassen, für einen neuen Namen, geänderten Personenstand (Geschlechtseintrag) und ebenso endlosen Änderungen von Dokumenten, verbunden mit Warten, Warten und noch mal Warten. Das alles kafkaesk, also absurd zu nennen, kommt einer Verharmlosung gleich, und ist Satz für Satz ein Plädoyer für die längst überfällige Selbstbestimmung.

„Das Absurde an all dem bürokratischen Bohei ist, dass niemand außer man selbst betroffen ist und man trotzdem Beweis um Beweis für das Recht auf die eigene Existenz sammeln muss.“

Und dann das ewige „Staunen“ der Normalos inklusive ihrer hemmungslosen und invasiven Neugierde. Sie haben offenbar keine Vorstellung, wie es sich anfühlt, schon in den ersten Minuten einer Begegnung nach den Genitalien befragt zu werden.

„Ich für meinen Teil käme im Leben nicht darauf, eine mir fremde Person nach der Situation in ihrer Unterwäsche zu fragen und beleidigt zu sein, wenn sie daraufhin das Weite sucht.“

Nicht besser sieht es bei Dating Apps und Partys aus, die wohl noch nie was von trans*Menschen gehört haben, mutmaßt Henri, zumindest denken sie sie nicht mit. Ebenso übel, wenn trans*Menschen zum „Punching bag für alle miesen Witze“ gemacht werden. Oder wenn trans* als Lücke gesehen wird, „in die andere ihr Mitleid, ihren Hass oder ihre Faszination pflastern können“. Nervend auch das ewige Coming-out-Game und das Einfordern von Erklärungen, „die die meisten cis Leute über sich selbst mit Sicherheit gar nicht parat hätten. Wie zum Beispiel, woher man denn nun weiß, wer man ist.“

Nicht unerwähnt sei eine längere und spannende Passage, in der es um Fragen der Nicht-Binarität geht. Henri und Christina haben sich dafür Louie Läuger eingeladen – ihr gemeinsames Gespräch ist Aufklärung pur und liefert eine Menge Basics in Sachen Sensibilisierung.

Und nun zu Linus Giese. Er hat sein kleines, handliches Büchlein mit Lieber Jonas überschrieben und es trägt den „Wunsch nach Selbstbestimmung“ ebenfalls im Titel. Es ist ein etwas längerer Brief an einen trans*Jugendlichen – wie überhaupt trans*Kinder und Jugendliche vor allem angesprochen sind mit zwei klaren Botschaften: „Ihr seid gut so, wie ihr seid“ und „Niemals aufhören anzufangen!“

Angesprochen sind natürlich auch alle anderen, beispielsweise Eltern, von denen sich Kinder Unterstützung wünschen, und überhaupt Menschen, die wissen möchten, was Einfühlungsvermögen bedeutet und die zu Solidarität und Akzeptanz fähig sind. Ja, Linus ist ein Meister im Mut-Machen und sein Brief ist einfühlsam und findet immer den richtigen Ton, um dennoch alles offen auszusprechen. Erschienen ist das kleine Buch im Kjona Verlag und eröffnet zugleich eine neue Buchreihe, die überschrieben ist mit Briefe an die kommenden Generationen.

Großen Erfolg erntete Linus bereits mit dem autobiografischen Buch Ich bin Linus, wo er den hindernisreichen Weg der Transition beschreibt, um doch immer wieder zu betonen, wie wichtig es sei, sich selbst anzunehmen und welches Glück es bedeutet, der Mensch sein zu können, der man ist. Ich bin Linus wurde für viele zur „Identifikationsfläche“, denn Vorbilder und Beispiele der Lebbarkeit von trans* sind wichtig. Die gab es auch für Linus, wenn auch nur selten – beispielsweise mit „Darling Days“, wo es „ganz viel Raum für Umwege, Irrwege und Zweifel“ gebe. Genau das kennenzulernen ist hilfreich, weil trans*Personen zu oft mit allzu engen Erwartungen konfrontiert werden, wo immer es um Geschlechterrollen und -bilder gehe.

Linus kritisiert deshalb zu Recht die gesellschaftlich zementierten Normen, die trans*Menschen ihr Frau- und Mannsein erschweren. Denn die Lebenswirklichkeiten stehen wie die persönlichen Selbstverständnisse für ein unendliches Spektrum an Möglichkeiten. Wir brauchen viele, sehr viele „Serviervorschläge“, wie wir unser Leben einrichten. Das alles vermittelt Linus in einer Sprache, die die jungen Menschen als Zielgruppe nie aus dem Blick verliert. Sie dürfen sich alle so persönlich angesprochen fühlen wie jener beneidenswerte Jonas, an den der Brief adressiert ist.

Das Schlusswort hat Linus und es sind lauter wichtige Merksätze:

„Ich bin, was ich bin – auch wenn es mir nie erklärt, gezeigt oder vorgelebt wurde. Dass in meiner Jugend Erklärungen, Vorbilder und Repräsentationen fehlten, hat mich nicht davor ‚bewahren‘ oder ‚schützen‘ können, der zu werden, der ich heute bin.“

Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverbandes Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

Henri Maximilian Jakobs mit Christina Wolf: All die brennenden Fragen. Ein Gespräch über trans Erfahrungen; Februar 2023; 120 Seiten; Klappenbroschur; ISBN 978-3-949-31528-2; Katalyst Verlag; 19,00 €

Linus Giese: Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung; Februar 2023; 80 Seiten; gebunden, fester Einband mit Fadenheftung; ISBN 978-3-910372-07-8; 13,99 €; ein Hörbuch ist bei Argon erschienen

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