Beitragsbild: Paulino hält eine Regenbogenfahne // © NDR
Deutschland 2022 – superbunt, in Regenbogenfarben und mehr; total inklusiv und progressiv. Yay! Also alles easy-peasy-hunky-dory? Hm, naja… „Warum ist nur ein Drittel der queeren Menschen im Job geoutet? Warum gibt es so viel Hasskriminalität gegen sie wie nie? Und warum versuchen queere Jugendliche so viel öfter als andere, sich das Leben zu nehmen?“ Das sind die Fragen, mit denen Klaas-Wilhelm Brandenburg die Dokumentation Jeder Tag ein Kampf? – Queere Menschen in Deutschland einleitet, die Das Erste heute Abend um 22:50 Uhr zeigt.
Diskriminierung hat kein Verfallsdatum…
Auch das oben stehende Zitat stammt aus dieser Story im Ersten. Es ist eine Beleidigung, die die 17-jährige, lesbische Greta aus Altenkirchen in Rheinland-Pfalz sich vor gar nicht einmal allzu langer Zeit an ihrer Realschule von einem vermeintlichen – ehemaligen – Kumpel von ihr anhören musste. Wenn eben auch „nur“ in dritter Person. Denn ihr in die Augen gesehen und dabei etwas gesagt, das habe niemand. Hallo, Deutschland!
Die aufschlussreiche Dokumentation fokussiert sich ausschließlich auf die Protagonist*innen, verzichtet gänzlich auf erklärende Einordnungen Außenstehender sowie auf professorale Einlassungen zu Bevölkerungsstruktur und einem Stadt-Land-Gefälle. Erläuterungen kommen hier vom oben erwähnten Wilhelm, wie er sich im Film schlicht nennt, der gemeinsam mit Alex Grantl für Jeder Tag ein Kampf? verantwortlich ist. Und der selber schwul ist; aufgewachsen in einem Dorf mit 70 Einwohner*innen in Mecklenburg-Vorpommern, zur Schule gegangen in Greifswald – was er gehasst habe.
…und kein Alter
Es habe dort schon gereicht, überhaupt anders zu sein – schwul war er damals noch nicht, beziehungsweise war sich dessen nicht bewusst. Das entdeckte er erst Jahre später in Berlin. Achso, Wilhelm ist Jahrgang 1991. Allzu lang liegt also auch dessen Schulzeit noch nicht zurück. Dass Alter aber nichts mit mehr oder weniger Diskriminierung zu tun hat, wird über die Dreiviertelstunde Laufzeit mehr als deutlich.
Heidi Neumann ist 69, lebt nach einem Schlaganfall in einem Pflegeheim und ist auch dort mit manchem Vorurteil konfrontiert. Dass die Welt Mitte der 70er-Jahre, als sie ihr Lesbischsein entdeckte, noch eine andere war, zeigt der Film anhand von Videoausschnitten aus der damaligen Zeit. Oder auch mit Blick auf Paulino aus Ulm, der sich schon früh bewusst gewesen ist, trans* zu sein. Etwas, das seine Familie nicht akzeptierte und das Jugendamt nicht verstand, denn die schickten ihn nach manchen Suizidversuchen ausgerechnet in ein Mädchenheim. Well done! Paulino ist heute 21.
Zahlen belegen Worte
Apropos Suizidversuche: Auch hier spricht die Dokumentation noch einmal genauer die im Vergleich zu nicht-queeren Menschen höheren Raten an. Ebenso werden Studien herangezogen, die bestätigen, dass queere Menschen sich öfter diskriminiert fühlen (duh) und ebenso häufiger unter Depressionen, Herzkrankheiten und Asthma leiden. Die Fülle an Studien ist wirklich hoch, was neben einer anfänglichen, recht kompakten und griffigen Erläuterung Wilhelms, was „queer“ eigentlich bedeute, auch dazu führt, dass der Film wunderbar für ein Publikum funktioniert, das womöglich nicht allzu viele Berührungspunkte mit queeren Lebenswelten hat.
Insbesondere ist es zu wünschen, dass manche Eltern von Teeangern die NDR-Dokumentation sehen, denn es wurden sowohl die 16 Landesschüler*innenvertretungen wie auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) befragt. 13 der 16 Bundesländer sagen, es werde an Schulen nicht genug für queere Jugendliche getan. Laut GEW vor allem nicht dafür, dass queere Jugendliche eine angstfreie Schulzeit haben könnten – siehe Greta, möchten wir anfügen, die sich wunderte, dass kein*e Lehrer*in mal jemanden für eindeutig diskriminierende und teils bedrohliche Kommentare sanktionierte.
Die Verantwortung der Schulen
„Queerfeindlichkeit, Homophobie, Transphobie und Diskriminierung sind in der Schule leider immer noch Alltag”, sagt Julius van der Burg von der Landesschüler*innenvertretung NRW. Gerade in den unteren Klassenstufen sei das Thema stark tabuisiert und ein Coming-out ohne negative Konsequenzen oft nicht möglich, äußert er sich im Rahmen der Studie (die Kommentare liegen uns vor, finden so in der Dokumentation aber nicht alle statt).
Das Problem liege, so die Ergebnisse der Befragung, auch darin, dass queere Themen selbst im Sexualkunde-Unterricht kaum stattfänden. So sagt etwa Janina Glaeser aus dem GEW-Hauptvorstand: „An den Schulen liegt immer noch der Fokus auf gegengeschlechtlicher heterosexueller Liebe, oftmals gebunden an traditionelle Rollenklischees.“ Die Sprecherin des bayerischen Landesschülerrats Fabia Klein ergänzt: „Leider ist es für viele Schülerinnen und Schüler lediglich Glück, auf engagierte Lehrkräfte zu treffen, die diese Themen ansprechen und sich für Vielfalt an ihrer Schule einsetzen.“
Moritz Eichelmann, Vorsitzender des Landesschülerrats Sachsen-Anhalt, fordert „dringend Workshops, Fortbildungen und weitere Aufklärungskampagnen für die Lehrer*innenschaft“; auch Lehrpläne und Schulbücher müssten auf den neuesten Stand gebracht werden. In diesem Zusammenhang mag die Reaktion eines Sprechers der Kultusministerkonferenz (KMK) hier ernüchtern, bezeichnet er die Kritik doch als „Bewertungen zur Praxis in den Schulen, auf die die KMK nur schwer reagieren kann“ – und verweist auf die einzelnen Länder.
„Meine Identität kann nicht fremdbegutachtet werden“
Bündnis 90/Die Grünen und auch die FDP fordern bereits seit längerer Zeit einen Aktionsplan Queer – auch mit Blick auf die Schulen. Möglicherweise vermag der erste Queerbeauftragte Deutschlands, der Grünen-Politiker Sven Lehmann, hier ja doch noch etwas anzustoßen. Natürlich wird auch er in der Dokumentation erwähnt, wie auch die geplante Abschaffung des unsäglichen so genannten Transsexuellengesetzes (TSG), die wohl frühestens Ende 2022 komme.
Wenn mensch sich hier das, nennen wir es mal pathetisch Schicksal, von Finn aus Delmenhorst anschaut, können wir gar nicht anders, als zu sagen, dass es nicht früh genug kommen, oder viel eher gehen, kann. Im Rahmen einer beantragten Vornamens- und Personenstandsänderung musste auch er diesen entsetzlich entmenschlichenden Gutachterprozess über sich ergehen lassen, in welchem es den Befragenden offen steht, sich auch nach dem Masturbationsverhalten zu erkundigen. Das zu verkraften, dafür braucht es schon einen sehr speziellen Humor, wie Nora Eckert beispielsweise in ihrer Autobiografie schreibt.
Bewusstwerdung und Erinnerung
Auch das ist natürlich eine Form der Diskriminierung. Wenn Finn auch nicht wortwörtlich ins Gesicht gespuckt wurde, wie der nicht-binären Jasmin am S-Bahnhof Ostkreuz (!) im ach so liberalen Berlin-Friedrichshain. Nach so manchem Beispiel aus Jeder Tag ein Kampf? wundert es beinahe, dass laut der Die geforderte Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung nur 8,7 % der Deutschen meinen, es sei „ekelhaft, wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen“ oder lediglich 11 %, dass es albern sei, wenn „ein Mann lieber eine Frau sein will oder eine Frau lieber ein Mann.“
So ist es ein großer Gewinn der Dokumentation, dass sie – wie oben erwähnt – sicherlich auch dazu taugen kann, Menschen entweder erstmalig ins Bewusstsein oder wieder in Erinnerung zu rufen, welchen Herausforderungen sich queere Menschen auch in dem ach so offenen und fortschrittlichen Deutschland ausgesetzt sehen. Und für uns Queers ist sie ein Reminder, dass auch wir immer die Augen offen halten sollten, wie es den Menschen in unserem Umfeld geht.
QR
PS: Im Übrigen gibt es eine ähnlich angelegte Dokumentation aus der Schweiz, auf die hier verwiesen sei.
PPS: Was Diskriminierung an Schulen angeht, das thematisiert auch die inzwischen in Deutschland angekommene Comic-Reihe Heartstopper recht sensibel- in den Büchern ebenso wie in der Serie (beides besprechen wir zeitnah).
Die Dokumentation Jeder Tag ein Kampf? – Queere Menschen in Deutschland läuft heute um 22:50 Uhr im Ersten und ist bereits vorab und bis einschließlich 30. Mai 2023 in der ARD-Mediathek verfügbar.
Die Story im Ersten: Jeder Tag ein Kampf? – Queere Menschen in Deutschland; Deutschland 2022; Ein Film von Klaas-Wilhelm Brandenburg und Alex Grantl; Redaktion: Christian von Blockhausen; Laufzeit ca. 44 Minuten; Eine Produktion des NDR; in der Mediathek bis zum 30. Mai 2023
Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!
Comments