Russland verstehen

Von „Putin-Verstehern/-Versteherinnen“ oder vielmehr „Verklärern/-Verklärerinnen“ haben die meisten Menschen hierzulande mittlerweile die Nase voll. Waren sie zu Beginn von Putins Krieg gegen die Ukraine noch fleißig in Talkshows unterwegs, dürften mittlerweile die meisten verstanden haben, dass deren Erklärungsansätze für Putins Verhalten viele nicht mehr überzeugen.

Russland kennen

Dabei ist es heute wichtiger denn je, Putin und Russland zu verstehen. Das gilt nicht nur für die Politik, sondern auch und vor allem für die Kultur – zumal in einem medial gleichgeschalteten Land. Der deutsche Publizist Jens Siegert ist jemand, der zwar selbst „nur“ in Russland eingewandert ist, dort mit seiner russischen Frau lebt und das Land in nunmehr knapp 30 Jahren gut kennengelernt hat. Ihn könnten wir also in der Tat als „Russlandversteher“ bezeichnen.

Unmittelbar nach Putins Einmarsch in die Ukraine stand er uns für ein sehr angenehmes Interview zur Verfügung und berichtete kurz zuvor über die Lage aus Moskau. Darüber hinaus aber hat er bereits im vergangenen Jahr in der Edition Körber einen kleinen Überblick veröffentlicht, der uns Russland ein wenig näher zu bringen vermag. Im Prinzip Russland – Eine Begegnung in 22 Begriffen erläutert so manchen Brauch, Gegebenheit oder besondere Verhaltensweisen, die vielen im Umgang mit Russinnen und Russen oder eben für Russland im Ganzen weniger geläufig sein dürften.

Russland ergründen

Siegert beschäftigt sich mit historischen Fakten, die bis ins Heute wirken. Die Bedeutung der Kiewer Rus und des orthodoxen Glaubens sagen uns beispielsweise viel darüber, was die Ukraine für Russland bedeutet – und dass Putin eben nicht (nur) hinter „Lebensraum im Westen“ oder Rohstoffen her ist, daher auch mit auf diese zielende Maßnahmen wohl nur schwerlich gestoppt werden kann.

Überhaupt erhalten wir viele Informationen, die uns in unserem heutigen Handeln und unseren Antworten auf Putins Einmarsch anleiten sollten, etwa der (nicht neuen, aber in pazifistischen Kreisen dennoch immer wieder gerne ausgeblendeten) Feststellung, dass Gegenwehr und allgemein Wehrhaftigkeit nichts Schlechtes sein müssen. Im Gegenteil, erst sie führt dazu, dass sich das Gegenüber Respekt erwirbt und sich nicht durch Kapitulation als – in Putins und vieler Russen Augen –„schwach“ entpuppt (eine Leseempfehlung geht an dieser Stelle somit an Richard David Precht). Russland – und jenseits dessen natürlich auch die Ukraine – ist trotz der schieren Größe ein europäischer Staat und die europäische Kultur endet damit nicht hinterm Ural, sondern an der chinesischen Grenze.

Russland erfahren

Wir erfahren aber auch vieles mehr aus dem riesigen Reich: Welche Rolle die bereits erwähnten schieren Weiten Sibiriens im nationalen Bewusstsein haben, wie sie dieses prägten. Dazu trugen auch die (nicht nur) in der Stalinära besonders kultivierten Arbeitslager bei, staatlicher Terror, Überwachung und ein tiefes Misstrauen prägen das Verständnis vieler Menschen im Verhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten.

Jenseits dieser wichtigen Aspekte widmet sich Siegert aber auch bedeutenden Punkten, die uns helfen, den Alltag vieler Menschen zu verstehen: Die gesellschaftliche Bedeutung der mit anderen Familien bewohnten Zwangs-WG Kommunalka beleuchtet er sehr anschaulich – ähnlich wie die jüngste „Einzelfallstudie“ einer fiktiven Kommunalka in Katerina Poladjans Roman Zukunftsmusik –, aber auch über manch andere Gewohnheit lernen wir viel.

Essen ist beispielsweise wichtig, das Schlange stehen dafür und für viele andere Güter war es lange auch. Und vieles ist – im titelgebenden „Prinzip“ (und einem eigenen Kapitel hierzu) – auch verfügbar, wenn auch ein paar Scheinchen mehr hierfür die Besitzverhältnisse wechseln müssen. Was es aber zu fast jeder Gelegenheit gibt und in einer solchen Zusammenstellung auf keinen Fall fehlen darf: Wodka! Auch dem widmet Jens Siegert ein eigenes, sehr erhellendes Kapitel. Und auch die typisch russische Datscha, in der so manches Tröpfchen getrunken werden dürfte, darf natürlich nicht fehlen.

Russland finden

Fehlen – im Sozialismus war das Alltag. Und vermutlich fehlt auch in Im Prinzip Russland noch so mancher Begriff. Ein Land in gerade einmal 22 Begriffen zu erfassen und zu beschreiben, das dürfte kaum möglich sein. Und doch schafft es Jens Siegert in seinem Buch, das er mit denkwürdigen Anekdoten, eigenen Erfahrungen und so manchem von ihm nicht ausgelassenen Fettnäpfchen in der russischen Gesellschaft garniert, sehr gut, uns einen Einblick davon zu geben, wer oder was Russland ist. Es ist kein monolithischer Block, sondern eine ganz spezielle Kultur, die zu verstehen zu den Schlüsselelementen gehören dürfte, um einen Ausweg aus dem System Putin und all seinen Grausamkeiten zu finden.

Wie bereits angedeutet, manche Sprachen sprechen und manche Kulturen verstehen wir nicht und wenn wir uns mit ihnen auseinandersetzen wollen oder müssen, ist es gut, sie zu lernen – wir müssen auch nicht alles gutheißen, was wir dort vorfinden. Aber Russland ist und bleibt unser Nachbar und hier gilt es, ein Verständnis zu entwickeln, wollen wir Konflikte lösen. Jens Siegert gibt mit seinem sehr anschaulichen, gut leserlichen und in der Tat mitnehmenden Buch Im Prinzip Russland einen guten und wichtigen Einblick, den er als Deutscher in Russland über die dortigen Gepflogenheiten gewinnen konnte. Gerade in diesen Tagen, aber auch in einer hoffentlich nicht allzu fernen, friedlichen Zukunft, ist sein Buch ein wichtiger Einstieg, ein kleines Nachschlagewerk für alle, die Russland ein wenig verstehen oder ihr Verständnis erweitern wollen.

HMS

Hinweis: Am 17. Juni 2022 fand in der Heinrich-Böll-Stiftung die Veranstaltung „Russland – im Prinzip? Staat und Gesellschaft Russlands in der deutschen Wahrnehmung – vor und seit dem Aggressionskrieg gegen die Ukraine“ statt. Jens Siegert sprach hier über sein Buch und mehr; ebenfalls zu Gast Irina Scherbakowa und Svetlana Müller (PANDA platforma e. V.), moderiert wurde der Abend von Walter Kaufmann. Hier findet ihr das Video; zum Ende stellt unser Herausgeber eine Frage.

Eine Leseprobe findet ihr hier

Jens Siegert: Im Prinzip Russland. Eine Begegnung in 22 Begriffen; Juli 2021; 232 Seiten; Klappenbroschur; ISBN: 978-3-89684-288-6; Edition Körber; 19,00 €; auch als eBook erhältlich

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