Beitragsbild: Das 1982 in Kiew aufgestellte Denkmal der russisch-ukrainischen Freundschaft im Jahr 2022 [Aus: Blackbox Ukraine: Kampf um die Geschichte] // © Imago Images
Als Wladimir Putins autokratisch geführtes Russland seinen brutalen Angriffskrieg auf Wolodymyr Selenskyjs demokratische Ukraine am Morgen des 24. Februar 2022 begann, da stockte der Welt der Atem. Schock und Unglauben allenthalben, überall. Wirklich überall? Nein – denn nicht nur in kleinen politischen und wissenschaftlichen Kämmerchen war schon lange davon ausgegangen und aus diesen heraus davor gewarnt worden, dass ein solcher Angriff bevorstünde. In diversen Publikationen, Dokumentationen, Diskussionen und Reden konnte mensch wahrnehmen was anstand.
Kriegserklärung mit der Waffe der Geschichte
Reden… Rede… da war doch was?! Ach, ja! Putin sprach bereits vor Jahren auf der Münchener Sicherheitskonferenz recht deutlich über seine Pläne, was die Expansion und das Erstarken des wahren, großen Russland anging. Wiederum Jahre zuvor, hatte er die Krim mal so annektiert, is‘ ja schließlich historisch irgendwie seine. Das ist natürlich Murks. Dass Putin sich allerdings sehr gern Elemente der Geschichtsschreibung herauspickt, diese ein wenig zu seinen Gunsten umformt oder aus dem Kontext reißt (oder auch einfach lügt), erklärt die Geschichtslehrerin und erfolgreiche Bloggerin und YouTuberin Tamara Eidelman in der Dokumentation Blackbox Ukraine: Kampf um die Geschichte, die heute Abend um 20:15 Uhr auf arte im Rahmen eines weiteren Themenabends Ukraine – Zwei Jahre Krieg zu sehen ist.
Die sehr sehenswerte Dokumentation zeichnet mit prominenter Unterstützung, unter anderem von Timothy Snyder, Andreas Kappeler, Sergei Loznitsa, Andrii Portnov oder Alexandra Goujon, nach, wie die Ukrainer*innen sich seit Jahrhunderten gegen die russische Unterdrückungskultur zu wehren bemühen beziehungsweise wissen und zeigt gleichsam auf, wie dieser Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit auch einer um die eigene Geschichte ist. Die Putin, dies wird in Blackbox Ukraine einmal mehr deutlich, nicht nur zu verdrehen, sondern gänzlich auszulöschen versucht.
Begegnungen mit einer blutigen Geschichte
Dabei geht der neunzigminütige Dokumentarfilm von Andreas Fauser und Dirk Schneider weit zurück in die Geschichte und wir beginnen mit den Wikingern (die über den Dnipro kamen), den Ursprüngen der Geschichte der „Rus“, begegnen Kosaken und erleben die Begründung des „Maidan“, erfahren viel über Polen-Litauen und den Grund der beginnenden Westorientierung des ukrainischen Volkes. Selbstredend darf auch die gebürtige Deutsche Katharina II. aka Katharina die Große nicht fehlen, die den Süden der heutigen Ukraine unterjochte – und Stalin sowie Putin als Vorbild gedient haben dürfte.
Ebenso wird vom Trauma, das Stalins sogenannte Große Wende – besser bekannt als Holodomor – bis heute in den Ukrainer*innern hervorruft, die Rede sein. In der Ukraine wird dieser seit geraumer Zeit offiziell als Genozid anerkannt und die Leugnung desselben steht unter Strafe (ähnlich wie hierzulande die Leugnung des Holocaust). Im Zuge des Überfalls Russlands auf die Ukraine vor nunmehr zwei beziehungsweise quasi zehn Jahren, kam es dabei vor allem in Europa aus guten Gründen zu einer „Anerkennungsparade“, wie es der ukrainische Historiker russischer Herkunft Georgiy Kasianov in Blackbox Ukraine nennt.
Mit dem Holodomor geht es quasi in die Bloodlands, einem Landstrich geprägt durch Krieg, Hunger, Revolutionen und Pogrome. Wir sehen, wie die Nationalsozialisten zuerst als Befreier aus den Klauen Russlands gefeiert werden. Es geht zum größten Einzelmassaker des Zweiten Weltkriegs in Europa: Nach Babyn Yar, wo am 29. und 30. September 1941, innerhalb von zwei Tagen also, 33 771 Jüdinnen und Juden erschossen wurden (Kinder unter drei Jahren wurden nicht in die Todeslisten aufgenommen), wie Regisseur Sergei Loznista (Babyn Yar. Context) erklärt. Was oft vergessen wird: Ein Viertel aller Opfer des Holocaust stammt aus der Ukraine.
Der Gipfel des Zynismus
In diesem Zusammenhang wirkt es umso widerlicher und zynischer, dass Putin bereits zu Beginn seines brutalen Angriffskrieges eine Bombe auf Babyn Yar hat gehen lassen, das zuvor ein recht belebter Ort war und natürlich finden sich dort auch entsprechende Denkmäler, die an das Massaker erinnern. Immerhin redet Putin fortwährend davon, dass er die Ukraine von Nazis befreien also „entnazifizieren“ möchte.
Diesem Zynismus begegnen wir erneut in einer weiteren sehr sehenswerten Dokumentation des Themenabends Ukraine – Zwei Jahre Krieg: In Vincent De Cointets Hunger als Waffe – Russlands Getreidekrieg (arte zeigt diese um 23:00 Uhr), erfahren wir, wie Putin, wenige Tage nach Zustandekommen des Getreideabkommens im Sommer 2022, das Haus Oleksiy Vadaturskys, Gründer des Agrar- und Binnenschifffahrtsunternehmens Nibulon, in Mykolajiw bombardieren lässt und diesen wie seine Frau im Schlaf so ermordet.
Stimmen über Stimmen
Ebenso können wir sagen, dass Putin mit Blick auf seinen Getreidekrieg wohl auch von Stalins Planwirtschaft gelernt hat. Die fünfzigminütige Dokumentation zeigt im ersten Viertel einige Hintergründe auf, die für jene, die sich schon ein wenig mit dem Thema befasst und in den letzten paar Jahren Nachrichten gelesen haben, nicht viel Neues bieten dürften.
Spannend(er) wird es im weiteren Verlauf, wenn Stimmen aus der Ukraine, wie etwa der ukrainische Botschafter in Deutschland, Vertreter der ukrainischen Regierung sowie Handelskammer zu Wort kommen aber auch deren „Pendants“ aus Russland. So wird etwa gesagt, dass Putin diesen Krieg nicht nur militärisch führe, sondern auch „mit politischen, sozialen und wirtschaftlichen Mitteln“ und seit längerem darauf hingearbeitet habe, einer der, wenn nicht der größte, Getreideexporteur der Welt zu werden.
Andrej Maslow, Direktor des Zentrums für Afrika-Studien an der Wirtschaftshochschule Russland, meint allerdings, die Wurzeln all dessen lägen im Westen: Sanktionen, Wirtschaftskrisen und zuletzt Covid – all dies hätte dazu geführt, dass Russland sich neu orientieren und seine Wirtschafts- und Produktionskapazitäten stärken musste, eben weil der Westen schuld an der Nahrungsmittelkrise sei. Diese Gegenüberstellung und teils Einordnung durch Historiker und Wissenschaftler, zeichnet Hunger als Waffe aus.
Gut zu füllende Lücken
Dabei bleibt vor allem der Satz, der Krieg sei „auch Indikator für die Kluft zwischen dem reichen Westen und dem Rest der Welt, auch als Globaler Süden bekannt“ hängen. Dass es hier zu großen Versäumnissen seitens der Westeuropäer und der USA kam, ist unbestreitbar. Dass ein brutaler, ruchloser, aber auch sehr intelligenter (wenn scheinbar auch immer erratischer werdender) Machthaber wie Putin dies nutzt, ist so naheliegend wie sinnvoll. Stichwort: Checkbuch- oder auch Erpressungs-Diplomatie.
Beide Dokumentationen eint, dass sie das Damals mit dem Heute verknüpfen, gekonnt Bezüge herzustellen verstehen und nicht davor zurückschrecken auch mit der eigenen, also westlichen, Wahrnehmung kritisch umzugehen (zudem greifen sie wunderbar ineinander). Natürlich gibt es hier und dort Lücken, die sich aber auch dank reichlich weiterführender Lektüren und Filme füllen ließen. Informativ, stark gefilmt sowie aufklärend aufbereitet und kommentiert sind sie allemal.
AS
PS: Natürlich darf bei Blackbox Ukraine auch Iwan der Schreckliche nicht fehlen. In diesem Zusammenhang geht es auch kurz um Wolodymyr Selenskyjs Serie Diener des Volkes, in der dessen Charakter Wassyl Petrowitsch Holoborodko einem fantasierten Iwan während einer TV-Debatte begegnet und über den Wert der Geschichte, Eigenständigkeit und derlei debattiert. Diese Szene wird wunderbar analysiert. Mehr zur Serie lest ihr hier und hier.
PPS: Die Überschrift „Henker, Henker, Menschenfresser“ stammt aus einem Gedicht von Taras Schewtschenko, Maler und einer der bekanntesten Lyriker der Ukraine, dessen Denkmäler von russischen Soldaten während des Kriegs teils zerstört oder beschädigt werden. Was diese nun wiederum zu einem Zeichen des Widerstands macht.
PPPS: Zwischen den beiden erwähnten Dokumentarfilmen zeigt arte ab 21:45 Uhr den Dokumentarfilm Ukraine – Krieg den Verrätern von Gwenlaouen Le Gouil. Dieser wirft einen einzigartigen Blick auf die Rolle von Kollaborateur*innen in den „Grauzonen“ der Ukraine während des russischen Angriffskrieg. Ebenfalls sehr sehenswert, darauf weiter einzugehen hätte hier nun aber den Rahmen gesprengt.
Der Themenabend Ukraine – Zwei Jahre Krieg beginnt am heutigen Dienstag, 20. Februar 2024, um 20:15 Uhr auf arte mit dem Dokumentarfilm Blackbox Ukraine: Kampf um die Geschichte, gefolgt um 21:45 Uhr von Ukraine – Krieg den Verrätern und abgeschlossen mit Hunger als Waffe – Russlands Getreidekrieg. Alle drei Filme sind bereits in der arte-Mediathek zu finden.
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