„Polizeiruf 110“: Vom Zündeln, Zanken und Zögern

Es ist gefühlt schon recht lang her, dass Johanna Wokalek als aus Afghanistan nach München zurückkehrende Cris Blohm ihren Polizeiruf 110Einstieg gab und damit auf Verena Altenberger, die die Reihe auf eigenen Wunsch verließ, folgte. Im September vergangenen Jahres zeigte Das Erste die sehr interessante, schmissige, kritische und nicht zuletzt relevante Folge Little Boxes. Ein solides Dreivierteljahr später gibt’s mit Funkensommer die zweite Blohm-Episode – und womöglich zugleich ihre letzte? Das Ende jedenfalls lässt das Schicksal der meist abgeklärt lächelnden Kriminalhauptkommissarin eher offen…

Unsicherheit und Ambivalenz

…nicht, dass dieser Polizeiruf 110 – Funkensommer mit einem allzu harten Cliffhanger enden würde. Jedoch durchaus mit so mancher Unsicherheit und nicht frei von Ambivalenzen. Was zur Figur Blohm passt, die gern mal nicht nur kleine White Lies nutzt, um Aussagen oder Geständnisse zu bekommen, wie ihr unter anderem von Staatsanwältin Dr. Sertl (Jessica Kosmalla) gesagt wird. Wenn auch aus Sympathie statt aus Gründen der Drohung.

Fahrstuhhl der Sympathie I: Staatsanwältin Dr. Sertl (Jessica Kosmalla) nutzt die Gelegenheit im Aufzug, um Cris Blohm (Johanna Wokalek) wegen ihrer Gangart zurechtzuweisen und der Ermittlerin auch ihre Sympathie zu offenbaren // BR/Sappralot Productions GmbH/Alexander Fischerkoesen

Apropos Sympathie: Diese und mehr entwickelt Cris Blohm auch für den Brandermittler Hanno Senoner (Golo Euler, Tatort: Magic Mom). Diesen lernt sie unter eher… misslichen Umständen an der Fundstelle einer sehr verbrannten, noch namenlosen Leiche kennen. Abgebrannt sind Teile des ehemaligen Verwaltungsgebäudes des Autoverleihkonzerns Hechtle – einem großen Player in München, dem die Stadt viel zu verdanken habe. Das hält Blohm und Kollegen Dennis Eden (Stephan Zinner), der den Brandermittler Senoner so gar nicht mag, selbstverständlich nicht davon ab, sich einmal im Hauptsitz der Firma umzuschauen.

Fahrstuhl der Sympathie II: Hanno Senoner (Golo Euler, links), Dennis Eden (Stephan Zinner) und Cris Blohm (Johanna Wokalek) // © BR/Sappralot Productions GmbH/Alexander Fischerkoesen

Dort treffen sie auf den Inhaber Georg Hechtle (Johann Schuler), der ein wenig, nun, neben sich wirkt. Ganz im Hier und Jetzt hingegen der cholerische und scheinbar nicht sooo helle Sohnemann Sandro Hechtle (Frederic Linkemann, ähnliche Rolle im Tatort: Die Nacht der Kommissare, und fies in Der Pass und Das Boot):

Ebenso auf Tochter Gioia Hechtle (undurchsichtig: Marlene Morreis), die den Konzern im Kern zu lenken scheint, sowie den Firmenadvokaten Dr. Schaper (Norbert Heckner). Für Blohm und Eden macht’s den Eindruck, als wollten die Hechtles das Gebäude brennen sehen, um es endlich abreißen zu können – und als sie die Tote, die sich als Reinigungskraft Valentina Martinez (Veronica Santos Ruíz) herausstellen soll, lediglich ein Kollateralschaden.

Viele Sichtweisen

Alles klar und geklärt also, in diesem eher leichtfüßig beginennden und mit zunehmender Laufzeit düster werdenden Polizeiruf 110? Mitnichten, denn es gibt da noch den Wachmann Herrn Busch (Gerhard Wittmann) und die eine oder andere Verstrickung, die sich natürlich erst im Laufe der Zeit herauskristallisiert. Dieser Polizeiruf, geschrieben und inszeniert von Alexander Adolph, schafft es durchweg die Spannung hochzuhalten, die (vermeintlichen) Wendungen plausibel sein zu lassen und ebenso ein wenig die private Seite Cris Blohms zu zeigen.

Too little, too late: Wachmann Busch (Gerhard Wittmann) steht mit seinem Feuerlöscher hilflos im Widerschein der lichterloh brennenden Hechtle-Niederlassung // BR/Sappralot Productions GmbH/Alexander Fischerkoesen

Denn ihre Zuneigung zu Hanno Senoner ist aufrichtig und geht weit über einen One Night Stand hinaus. Doch sei Obacht geboten: Oftmals war es sowohl im Tatort als auch im Polizeiruf schließlich so, dass neue, intensive Bekannt- und/oder Liebschaften entweder in den Fall involviert waren, einen unschönen Tod zu sterben hatten oder einfach mal beides. Ob das hier auch wieder so sein wird? Das lässt Adolph lange im Vagen und weiß uns damit bei der Stange zu halten.

Funken über Crisichen

Der Funke ist hier also übergesprungen, wenn auch wohl nicht ganz so heftig wie beim Brand zu Beginn, einem zweiten im Mittelteil oder jener zwischen Cris Blohm und Hanno Senoner. Gerade in diesem Zusammenhang wäre es bedauerlich, würde das wie erwähnt etwas offene und ambivalente Ende bereits das Ende der von Wokalek wirklich überzeugend charmant und wenn nötig auch pushy gespielten Figur Cris Blohm bedeuten. Warten wir mal die News zu weiteren Dreharbeiten ab.

Brandpolizistin Alya Weber (Sevda Polat, links) und Staatsanwältin Dr. Sertl (Jessica Kosmalla, Mitte) glotzen Cris Blohm (Johanna Wokalek) an, die in ein verbranntes Beweismittel gefallen ist, während Brandermittler Hanno Senoner (Golo Euler) seine Hand an den Kopf hält, und Dennis Eden (Stephan Zinner, rechts) seine Hand reicht // BR/Sappralot Productions GmbH/Alexander Fischerkoesen

Damit geht es also (sicher auch aufgrund der Leichtathletik– und FußballEM recht früh) in die Sommerpause. Dies nach dem letzten Tatort: Letzter Ausflug Schauinsland auch beim Polizeiruf 110 mit einem Finale, das viel Interpretationsspielraum erlaubt. Wir mögen’s grundsätzlich und halten fest, dass diese Saison eine recht experimentierfreudige, teils sehr unkonventionelle und überdurchschnittlich starke war. Insofern blicken wir mit Spannung und Freude auf die nächsten neuen Sonntagskrimis – und empfehlen noch unsere drei PS. Und natürlich den Polizeiruf 110 – Funkensommer.


AS

PS: Dieses wunderbar ironische Statement von Produzent Hamid Baroua möchten wir euch nicht vorenthalten. Die Lektüre lohnt sich!

„Einen Tag vor Drehbeginn für unseren Polizeiruf 110 ereignete sich etwas höchst Unvorhergesehenes. Um 9 Uhr morgens stand ich im frisch eingerichteten Büro unserer Polizeiruf-Kommissare, da erschienen drei Damen und zwei Herren in Zivil – zwei von ihnen trugen eine große Pistole am Gürtel. Sie sagten, dass der Spaß jetzt vorbei sei und dass wir unsere Arbeiten zu stoppen hätten. Sie kamen vom Morddezernat, und ich dachte, ich werde jetzt verhaftet…

Zur Erklärung dieses Ereignisses muss man wissen, dass beim Film die Dinge oft sehr, sehr schnell geschehen müssen. Und weil die ersten Drehtage im Büro der Kommissare spielten, benötigte man Leichenfotos, welche die Schauspielerin Johanna Wokalek als Ermittlerin im Film betrachten sollte. Nun war die Puppe, welche unsere Brandleiche darstellen sollte, erst am Vortag aus Berlin geschickt worden. Weswegen der berühmte SFX-Mann Schwerthelm Ziehfreund zusammen mit der Kostümbildnerin Martina Müller einen Vormittag damit verbrachte, die Puppe anzukleiden und dann wieder so zu verkohlen, dass man mit ihr Fotos machen konnte. Die Zeit drängte, und die Fotos wurden schnell im Gang unseres Produktionsbüros bei der Bavaria in Geiselgasteig gemacht.

Nun wollte es das Schicksal, dass der Fotodrucker unseres Außenrequisiteurs ausgerechnet an diesem Tag streikte. Um die Bilder in jener Hochglanzqualität noch ausdrucken zu können, welche für die Dreharbeiten am Schreibtisch der Kommissarin erforderlich waren, rannte unser Außenrequisiteur kurz vor Ladenschluss also mit seinem Speichermedium in ein Geschäft in der Nähe. Außer Atem bat er inständig darum, die Fotos bis zum nächsten Morgen in verschiedenen Formaten auszudrucken. Die Angestellte machte sich an die Arbeit, sah auf den Fotos verschiedene Aufnahmen unserer Brandleiche, dachte an den aufgeregten Mann, der sie ihr gebracht hatte – und zählte eins und eins zusammen.

Am nächsten Morgen wurde unser Außenrequisiteur, als er seine Fotos abholen wollte, von zwei Zivilbeamten in einen Nebenraum geführt und verhaftet. Und kurz darauf erschienen die Beamten der Münchner Mordkommission, um auch noch den Verantwortlichen aus der von unserer Szenebildnerin Gabi Pohl super-authentisch ausgestatten Polizeikulisse mitzunehmen.

Auflösen konnte alles unser Regisseur Alexander Adolph, der sich immer so freut, wenn echte Polizisten ans Set kommen: ‚Wir drehen einen Krimi!‘ Und unser Außenrequisiteur hatte glücklicherweise die Herstellung der Brandleiche als Making-Of dokumentiert.

Als Produzenten sind Christoph Menardi und ich sehr stolz darauf, dass wir für den Bayerischen Rundfunk einen Münchner Polizeiruf 110 herstellen durften. Großer Dank geht an unsere tollen Darsteller und alle Gewerke – ganz besonders den großen Kameramann Alexander Fischerkoesen und an Regisseur und Drehbuchautor Alexander Adolph. Größter Dank an die BR-Redaktion, Claudia Simionescu und Tobias Schultze, die uns vertraut und ermöglicht haben, eine ganz besondere Geschichte zu erzählen, in deren Mittelpunkt das Feuer steht.“

Cris sieht einen alten Tatort, Hanno einen Sonnenuntergang – passt // BR/Sappralot Productions GmbH/Alexander Fischerkoesen

PPS: Die aktuelle Sonntagskrimi-Saison geht nun in ihre Sommerpause. Kommende Woche zeigt Das Erste den Münchener Tatort: Wunder gibt es immer wieder mit Corinna Harfouch als Nonne; am 9. Juni 2024 werden die Leichtathletik Europameisterschaften gezeigt (kann ja auch spannend sein). Einen älteren Polizeiruf aus Rostock und somit ein Wiedersehen mit Bukow gibt es am Sonntag darauf. Dann wieder Sport mit der Fußi-EM – es spielen Deutschland vs. Schweiz und schließlich am 30. Juni 2024 den Tatort: Hubertys Rache aus Köln, in dem ein Schiff und mit ihm diverse Passagier*innen entführt werden. Gibt also immer was zu sehen – oder doch mal Die Zweiflers in der ARD-Mediathek? Oder Disko 76? Oder Player of Ibiza? Oder Borders (Review folgt) in der ZDF-Mediathek?

PPPS: Es scheint eher unwahrscheinlich, dass ein Teilzeit-Wachmann sich eine Haushälfte in der Schönberger Str. leisten kann (wenn’s auch eine recht solide Erklärung gibt). Liegt diese doch in der Nähe des Herzogsparks oder auch des Hanser Verlags. Eine eher teure, elitäre, edle (?) Ecke. Die RTL+Serie Herzogpark ist übrigens auch sehr gut!

Von links: Stephan Zinner (Rolle: Dennis Eden), Alexander Adolph (Regie), Johanna Wokalek (Rolle: Cris Blohm) und Golo Euler (Rolle: Hanno Senoner) // BR/Sappralot Productions GmbH/Alexander Fischerkoesen

Polizeiruf 110 – Funkensommer läuft am 26. Mai 2024 um 20:15 Uhr im Ersten, um 21:45 Uhr auf ONE und ist anschließend für zwölf Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.

Polizeiruf 110 – Funkenssommer; Deutschland 2024; Drehbuch und Regie: Alexander Adolph; Bildgestaltung: Alexander Fischerkoesen; Musik: Musik: Christoph Maria Kaiser, Julian Maas; Darsteller*innen: Johanna Wokalek, Stefan Zinner, Golo Euler, Gerhard Wittmann, Marlene Morreis, Frederic Linkemann, Jessica Kosmalla, Veronica Santos Ruiz, Sevda Polat, Lena Baader, Johann Schuler, Norbert Heckner, Petra Berndt, Peter Weiß, u. v. a.; Eine Produktion der Sappralot Productions (Hamid Baroua, Christoph Menardi) im Auftrag des BR für die ARD

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert