Wissen, was du willst – und ab dafür

Nicht selten ist es so, dass bei vielen (guten) Comediennes und Comedians der Witz von Erfahrungen und Erlebnissen genährt wird. Durchaus auch der Humor aus Schmerz geboren wird. Sehr gute Beispiele dafür sind die Australierin Hannah Gadsby oder der in Südkorea geborene Amerikaner Joel Kim Booster (Fire Island), der neben einem homophoben Umfeld auch seine bipolare Störung in seine Werke einbaut. Hierzulande können – und müssen – wir den legendären Hape Kerkeling erwähnen (gerade bei RTL+ mit Mini-Serien-Fortsetzung Club Las Piranjas zu sehen; unsere Rezension folgt).

Die Kern-Kerkelings (v. l. n. r.): Heinz Kerkeling (Sönke Möhring), Hans-Peter (Julius Weckauf), Margret Kerkeling (Luise Heyer) und Matthes (Jan Lindner) // © 2018 UFA Fiction GmbH/Warner Bros Entertainment GmbH /Julia Terjung

Der verlor als Kind zuerst seine geliebte Oma Änne und wenig später seine unter Depressionen leidende Mutter Margret. Einschneidende Erlebnisse, tiefe Traumata. Der junge Hans-Peter verarbeitet diese schon als Kind mit blickigem Humor; wird von seiner Familie mit Vater, Oma und Opas sowie Tanten und Co. gestützt und geschützt, so gut es eben geht. Hape Kerkeling hat sein Aufwachsen im eher konservativen Ruhrpott der 1970er Jahre in seiner erfolgreichen Autobiografie Der Junge muss an die frische Luft – Meine Kindheit und ich festgehalten, die 2014 im Piper Verlag erschienen ist.

Von Hans-Peter zu Hape

Gemeinsam mit Drehbuchautorin Ruth Toma nahm sich die ausgezeichnete Regisseurin Caroline Link (Jenseits der Stille, Exit Marrakech, Als Hitler das rosa Kaninchen stahl) an und schaffte so den erfolgreichsten deutschen Kinofilm des Jahres 2018 und den dritterfolgreichsten in der Jahresgesamtwertung. Die Buchverfilmung ist so heiter und locker-flockig wie sie berührend und tieftraurig sein kann. Spaß und Sentimentalität wechseln sich in einem lebensnahen Fluss ab und niemals wird Der Junge muss an die frische Luft klamaukig oder melodramatisch.

Im Laden: Margret Kerkeling (Luise Heyer), Oma Änne (Hedi Kriegeskotte) und Hans-Peter Kerkeling // © 2018 UFA Fiction GmbH/Warner Bros Entertainment GmbH

Mit Julius Weckauf (zuletzt als Justus Jonas in Die drei ??? – Erbe des Drachen zu sehen gewesen) wurde die ideale Besetzung des jungen Hans-Peter gefunden. Es fällt leicht sich vorzustellen, dass Hape Kerkeling als Kind genau so war und wohl etwa so ausgesehen haben dürfte. Weckauf spielt die Rolle wenn nötig mit der erforderlichen Verve, um an anderer Stelle durch Stille und kleine Mimikveränderungen zu beeindrucken.

Herz und Humor am rechten Fleck

Überhaupt ist Der Junge muss an die frische Luft ein authentischer Film der Zwischentöne, die das Ensemble – u. a. Luise Heyer (Polizeiruf 110: Sabine) als Mutter, Hedi Kriegeskotte als Oma Änne und Joachim Król (791 km) als Opa Willi, Ursula Werner (Tatort: Lenas Tante) als Oma Bertha oder Maren Kroymann und Diana Amft in kleinen Auftritten – perfekt zu vermitteln und tragen wissen. Apropos Töne: Der von Niki Reiser komponierte Soundtrack trägt ebenso zum stimmungsvollen Gesamtbild bei, wie die Bildsprache von Kamerafrau Judith Kaufmann (Tatort: Borowski und der gute Mensch, Corsage, Das Lehrerzimmer).

Oma Bertha Kerkeling (Ursula Werner), Hans-Peter Kerkeling (Julius Weckauf) und Opa Hermann Kerkeling (Rudolf Kowalski) // © 2018 UFA Fiction GmbH/Warner Bros Entertainment GmbH /Julia Terjung

Herz und Humor sind hier am rechten Fleck. Es bereitet eine große Freude, dem kleinen Hans-Peter dabei zuzusehen, wie er seine Umgebung beobachtet und diese Beobachtungen in seine kleinen Humoreinlagen für und vor der Familie einfließen lässt. Wie er als Prinzessin zum Karneval geht oder einen Brief an Loriot, den aus‘m Fernsehen, schreibt. Die zwar nicht immer reibungslos funktionierende, immer aber warmherzige Familie, lässt uns beinahe ein wenig neidisch sein.

Ein schöner, interessanter und, um mal mit Saskia Esken zu sprechen, unser Herz anfassender Film.

AS

PS: „Wenn de weißt, wat de willst, dann machet einfach, Hans-Peter. Und kümmer dich nich drum, wat die anderen sagen.“ – Ich hätte auch gern eine Oma Änne gehabt.

PPS: Sätze, die mensch nicht oft hört: „Genau so schön wie in Bocholt.“

PPPS: Anderer Satz, den mensch nicht oft hört: „Hans-Peter, willste ein Pferd haben?!“

DER JUNGE MUSS AN DIE FRISCHE LUFT, am Freitag (29.12.23) um 20:15 Uhr im ERSTEN. Plakat – Hans Peter (Julius Weckauf) // © 2018 UFA Fiction GmbH/Warner Bros Entertainment GmbH

Der Junge muss an die frische Luft läuft am 29. Dezember 2023 um 20:15 Uhr im Ersten. (Und kann aus rechtlichen Gründen leider weder im Livestream noch in der Mediathek gezeigt werden – also einschalten! Um 23:30 Uhr zeigt Das Erste übrigens Der Vorname, den wir hier rezensiert haben.)

Der Junge muss an die frische Luft; Deutschland 2018; Regie: Caroline Link: Drehbuch: Ruth Toma, nach der gleichnamigen Autobiografie von Hape Kerkeling; Bildgestaltung: Judith Kaufmann; Musik: Niki Reiser; Darsteller*innen: Julius Weckauf, Luise Heyer, Sönke Möhring, Jan Lindner, Ursula Werner, Joachim Król, Hedi Kriegeskotte, Rudolf Kowalski, Elena Uhlig, Birge Schade, Maren Kroymann, Diana Amft, Kathrin von Steinburg, Eva Verena Müller, Katharina Hintzen, Hape Kerkeling, u. v. a.; Laufzeit ca. 100 Minuten; FSK: 6; Prädikat besonders wertvoll

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