Alle Jahre wieder… Wobei Bahnchaos nicht im Zwölf-Monats-Rhythmus kommt, sondern gefühlt deutlich häufiger. Zum Beispiel bei Unwettern wie „Herwarth“, das Deutschland in dem Film 791 km von Regisseur Tobi Baumann und Drehbuchautor Gernot Gricksch heimsucht. Die Bahn stellt daraufhin den gesamten Verkehr ein und Tausende Reisende stranden an den Bahnhöfen der Republik.
Ein Quintett reist nach Norden
Vier davon lernen wir am Münchener Hauptbahnhof kennen: Die emeritierte Professorin der Soziologie und Linguistik Marianne (Iris Berben) und die ambitionierte Jungunternehmerin Tiana (Nilam Farooq) müssen nach Hamburg, weil sie dort am nächsten Tag Termine haben. Tianas Freund Philipp (Ben Münchow) begleitet seine persischstämmige Partnerin und die nicht nur dezent schrullige Susi (Lena Urzendowski) hat sich bereits im Taxi von Josef (Joachim Król) eingenistet, als die anderen drei sich mit ihren Taxi-Gutscheinen noch kabbeln.
Josef wiederum fährt nur so halb freiwillig. Taxi und die Meute. Ursprünglich war er mal Spielwarenhändler, musste sein Geschäft aber aufgeben – und damit seine Altersvorsorge. Deshalb jetzt Taxi. Und Hamburg liegt für ihn tatsächlich auf dem Weg, denn er hat einen wichtigen Termin in Bad Bramstedt, nochmal etwas nördlich der Hansestadt. Die Taxigutscheine seiner „Gäste“ über jeweils 350,00 Euro kommen ihm da überaus gelegen.
Differenzen im Kastenstand
Wie das so ist, wenn auf engstem Raum so unterschiedliche Charaktere wie die Schweine im Kastenstand zusammengepfercht sind, natürlich gibt es a) Austausch und b) Differenzen. Die ehrgeizige Tiana zum Beispiel hat noch im Bahnhof mit ihrem allzu gechillten Freund Schluss gemacht und das muss jetzt ausgeräumt werden. Marianne mit ihrer locker-flockigen Hippie-Art verkörpert schön die An- und Widersprüche der Boomer-Generation und Susi, nun, die ist halt einfach irgendwie meschugge, wie es nicht nur Tiana scheint.
Auf engstem Raum prallen hier ganz unterschiedliche Welten, Wertevorstellungen und Lebensentwürfe aufeinander und der Stress, mit dem die vier Gäste plus Fahrer die 791 km nach Hamburg bewältigen wollen, könnte kaum besser in die Vorweihnachtszeit passen. In diese Zeit passt auch, dass der Film eine gewisse Gefühligkeit an den Tag legt, die viele gerade in diesen Wochen zeigen – und die beispielsweise im Sommer deutlich weniger passen würde als beispielsweise Lutz Heineking, jrs. sarkastischer Nicht-Film Der Pfau.
Individualismus trifft auf Universalismus – und Kommerz
So bekommen wir ohne große Gender-Gaga-Keule einen Sinn für die verschiedenen Bedürfnisse und Erwartungen unterschiedlicher Gruppen oder eine Reihe von gesellschaftlichen Problemen charmant präsentiert. Josefs Altersarmut beispielsweise, ähnlich wie Susis „Besonderheiten“, Mariannes Alt-Hippietum oder Philipps entspannte Schlurfigkeit wären zu nennen. Jeder und jede von ihnen hat eigene Motive, eine eigene Geschichte und andere Prioritäten.
Das hier so kompakt zu sehen und dennoch zu erkennen, dass alle irgendwie auf Ausgleich bedacht sind (was mit Demokratie?) oder die Position des oder der anderen (mal mit und mal ohne angezogene Handbremse) anzuerkennen, ist etwas, was 791 km sehr gut zu vermitteln weiß. Bildungsauftrag also erfüllt, denn neben wiederholt zu sehenden Logos eines großen Discounters (oder vielmehr zwei Discounter, die durch einen nach ihnen benannten „Äquator“ geteilt sind) und eines Tankstellenkonzerns ist hier auch die Filmförderung einiger Länder sowie des Bundes an der Finanzierung beteiligt. (Eine große Supermarktkette mit vier weißen Buchstaben auf rotem Grund wollte offenbar kein Geld geben.)
Gesellschaftskritisch vorhersehbar…
Jeder und jede der fünf Hauptcharaktere bekommt dabei ihren oder seinen Moment, ein kleines Solo. Marianne ist anfangs herrlich überdreht, Tiana bitcht rum, Philipp kann zeigen, dass er nicht nur hart chillen, sondern auch anpacken kann, Susi ist… naja, halt Susi und bei und in Josef endet dann die ganze Tragik. Vieles davon baut sich früh auf, ist aber teils auch sehr vorhersehbar, zumindest wenn mensch mit den typischen Dynamiken solcher unterhaltsamen und dennoch gesellschaftskritischen Filme bekannt ist – selbst wenn es so humorvoll ist, wie hier an vielen Stellen.
Das führt dazu, dass der Film a) etwa zu Beginn des letzten Drittels arg in Kitsch verfällt und b) am Ende etwa eine Viertelstunde zu lang ist. Es hätte einen Zeitpunkt gegeben, an dem die Fahrt und somit der Film ein natürliches Ende gefunden hat. Leider wurde das von den Macherinnen und Machern in einer Art lebensverlängernden Maßnahme eher unnötig hinausgezögert, nur um noch eine so vorhersehbare wie melodramatische Pointe zu setzen.
Ein Film für die Festtage
Das heißt nicht, dass es sich nicht dennoch lohnen würde, 791 km zu gucken. Nein, gerade für die Vorweihnachtszeit oder auch die Feiertage ist es ein Film, der mit Freunden, Dates, Familie oder im Zweifel auch allein durchaus Freude und auch ein paar nachdenkliche Momente bietet. Das Ensemble ist sehr passend und allen fünf Hauptcharakteren nehmen wir die von ihnen verkörperte Rolle gern ab.
Und auch die Themen, die in 791 km angesprochen werden – Altersarmut, Klimawandel, gesellschaftliche Missstände – sind von hoher Relevanz und werden hier zumeist doch recht charmant verpackt. Und nicht zuletzt: Die beiden Polizisten, die das Quintett Infernale irgendwo in Hessen aufhalten, gehören mit zum Größten, was die Sidekick-Box zu bieten hat. Jungpolizist Kevin (Langston Uibel, Roter Himmel) ist herrlich naiv, aber vor allem Barbara Philipp – bekannt aus den Wiesbadener Tatorten – scheint eine grandiose Streifenpolizistin zu sein, die weiß, welche Kämpfe sie ausfechten sollte und wo sie mit Augen zudrücken vielleicht ein besseres Werk tut.
HMS
791 km läuft am 14. Dezember 2023 in unseren Kinos an.
791 km; Deutschland 2023; Regie: Tobi Baumann; Drehbuch: Gernot Gricksch; Bildgestaltung: Philipp Kirsamer; Musik: Tobias Kuhn, Philipp Steinke; Darsteller*innen: Iris Berben, Joachim Król, Nilam Farooq, Ben Münchow, Lena Urzendowski, Barbara Philipp, Langston Uibel; Laufzeit: 103 Minuten; FSK: 12; Gefördert von: FilmFernsehFonds Bayern, Film- und Medienstiftung NRW, Filmförderungsanstalt, Deutscher Filmförderfonds, Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien
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