Fotografieren – eine verliebte Beschäftigung

Das KW Institute of Contemporary Art in der Auguststraße in Berlin-Mitte zeigt Fotografien von Hervé Guibert. Eine Ausstellung, die wie aus dem Nichts zu kommen scheint und uns daran erinnert, wie vergesslich wir sind, weshalb es vielleicht kein Zufall ist, wenn die Fotos immer wieder die Abwesenheit thematisieren.

Von Nora Eckert

Aufnahmen von Innenräumen dominieren die von Anthony Huberman kuratierte Ausstellung. Wir sehen Ausschnitte des Interieurs, einen Tisch, Stühle, ein Bett, ein Sofa, dazu Gegenstände aller Art, Pflanzen, Bücher, einige Bilderrahmen, angelehnt an der Wand, aber niemals diejenigen, die dort für gewöhnlich leben oder die wir uns als Bewohner vorstellen können. Nur manchmal wird uns ein Name oder eine Adresse im Titel verraten.

Sie sind nie im Bild und bei dieser so offensichtlichen Abwesenheit dennoch anwesend. Denn sie haben Spuren hinterlassen, mal mehr, mal weniger sichtbar, aber doch immer auffindbar. Einmal ist es ein Paar Schuhe, die ordentlich vor einem ebenso ordentlich aufgeräumten schmalen Bett abgestellt wurden. Ein andermal ist es ein am Boden liegendes Buch. Dazu musste Guibert mit dem Fotoapparat unter einem mit weißer Decke gedeckten Tisch schauen, um dahinter einen Liegestuhl zu sehen, neben dem das Buch am Boden liegt. Das Foto heißt sinnigerweise „Lecture“.

Hervé Guibert, Lecture (livre ouvert/fenêtre), 1979 // © Christine Guibert/Courtesy Les Douches la Galerie, Paris.

Ein anderes Foto trägt den Titel „Festival de Cannes“ (siehe die Fotografie einer Installationsansicht oben, Anm. d. Red.) und zeigt Kleidungsstücke, erkennbar ein Jackett, das über die Rückenlehne eines Stuhls abgelegt wurde – und das vorher vielleicht in offizieller Mission während eines Empfangs oder einer Filmvorführung gebraucht wurde. Aber wer es trug, wissen wir nicht. „La rêve du désert“ zeigt ein Sofa, auf dem ein kleines Foto zu sehen ist, darauf ein Dromedar in einer Wüstenlandschaft. Lehnte dieser fotografische Wüstentraum zufällig am Rückenpolster oder folgt das Arrangement einer Inszenierungsidee? Wir wissen es nicht und schon gar nicht, was es mit dem Wüstentraum auf sich habe könnte.

Hervé Guibert, Le rêve du desert, 1982 // © Christine Guibert/Courtesy Les Douches la Galerie, Paris.

All diese privaten Räumen bewahren das Geheimnis ihrer Intimität und vermitteln nur, dass es sie dort gibt. Ein besonderer ästhetischer Aspekt ist dabei der des Lichts, etwa das Sonnenlicht, das den Raum wie ein Gast betritt. Es bildet Muster am Boden, an der Wand und schafft so eine fast geisterhafte Atmosphäre. Einfallendes Licht sucht förmlich die Fotolinse, wie ja überhaupt diejenigen, die fotografieren unentwegt mit diesem „fotografischen Blick“ unterwegs sind. Über das „perfekte Bild“ schrieb Guibert: „Wenn ich mir diese Szene betrachte, habe ich bereits das Photo dieser Szene vor Augen, die automatisch erfolgte Abstraktion.“ Mit der Kamera sehen heißt, das Foto sehen, bevor es entstanden ist und die Welt zugleich mit einer fast „irren Schärfe“ zu betrachten.

Aber auch Maler scheinen ihre Umwelt als eine Ansammlung von Motiven zu betrachten. Mir fiel da spontan der dänische Künstler Vilhelm Hammershøi ein, der Ende des 19. Jahrhunderts in seinen Bildern mit ähnlichen Interieurs und dem einfallenden Sonnenlicht experimentierte.

Hervé Guibert, La bibliothèque, 1986 // © Christine Guibert/Courtesy Les Douches la Galerie, Paris.

Hervé Guibert hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, als er 1991 in Paris an AIDS starb – damals war das noch ein ziemlich sicheres Todesurteil. Was er schrieb war vor allem, wie wir heute sagen würden, autofiktional. Denn es gab kaum ein Buch von ihm, in dem er als Autor nicht erkennbar war mit dem Schwulsein als einem roten Faden darin. Ganz am Anfang gab es für ihn wohl die Überlegung, Fotograf zu werden. Doch er blieb am Ende ein verliebter Amateur, und schrieb stattdessen als Journalist über die Fotografie. Er selbst nannte das Fotografieren „eine umfassende Tätigkeit, die alles vergessen läßt, während das Schreiben […] eine melancholische Tätigkeit“ sei. Mit dem Foto wird ein bestimmtes Bild konserviert und mit ihm die Erinnerung an das Gefühl, das sich daran knüpft, als werde ihm ein abhanden gekommener Gegenstand zurückgegeben.

Hervé Guibert, Deux pieds sur banquette, 1981 // © Christine Guibert/Courtesy Les Douches la Galerie, Paris.

PS: Die kleine feine Hervé Guibert-Retro in der Auguststraße (ein im wahrsten Sinne berührendes Kammerspiel) wird ergänzt durch zwei weitere Ausstellungen im KW, wobei insbesondere im Erdgeschoß die surreal anmutenden Skulpturen des italienischen Künstlers Enrico David unbedingt sehenswert sind, sehr bizarr, sehr verstörend – ganz im Sinne des Ausstellungstitels: Destroyed Men Come and Go. Die Fotos sind im 2. Stock ausgestellt und dort, so die Empfehlung, sollte man mit dem Galeriebesuch starten.

Installationsansicht der Ausstellung Enrico David – Destroyed Men Come and Go in den KW Institute for Contemporary Art, Berlin 2023 // Foto: Frank Sperling

Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverbandes Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

Die Ausstellung Hervé Guibert – This and More ist noch bis zum 20. August 2023 zu sehen (am 19. Juli findet eine Queer Reading Night statt); Enrico David – Destroyed Men Come and Go noch bis zum 10. August 2023. Informationen zu beiden Ausstellungen findet ihr hier.

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