„Alle reden über Anna“

Anna wird geboren, jedoch aus unerfindlichen Gründen für einen Jungen gehalten und „Paul“ genannt. Immerhin hat die Ärztin nach der Geburt das Baby angeschaut, einen Penis gesehen und gesagt: „Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Junge!“ So geht’s also heim und Anna wird als „Paul“ großgezogen, niemandem fällt auf, dass sie ein Mädchen ist.

Eine liebevolle Geschichte…

Das ist die Ausgangslage des Kinderbuches zum Thema Transidentität Das schönste Kleid der Welt, das von dem gemeinnützigen Projekt 100% MENSCH entwickelt, umgesetzt und herausgegeben wurde. Das mit schönen Aquarellzeichnungen illustrierte Kinderbuch erzählt die Geschichte Annas von ihrer Geburt bis zur frühen Schulzeit. Dabei, und das ist das Feine, ist von Anfang an klar, dass Anna Anna ist und auch weiß, dass sie ein Mädchen ist. 

So spart die Geschichte sich quasi eine große Enthüllung am Ende, sondern zeigt uns und den Kindern, denen das Buch hoffentlich zahlreich vorgelesen und gezeigt wird, beziehungsweise die es auch selbst ansehen und lesen können, von Beginn an Anna in einer Welt, in der sie irritiert ist, dass sie als Junge gesehen wird.

Die Eltern erziehen sie als „Paul“, die Freunde der Eltern wundern sich, dass dieser „Paul“ sich manchmal wie ein Mädchen verhält und im Sportunterricht wird sie ausgelacht und vom Sportlehrer ausgegrenzt (wer kennt das nicht…), als sie sich zu den Mädchen stellt. Im Verlauf der Geschichte wird Anna auch von ihren Freund*innen ausgeschlossen, weil sie lieber Prinzessin und Tierärztin spielt als mit Bauklötzen und Autos. 

…mit wenigen Klischees…

Hier setzt dann auch ein kleiner Kritikpunkt an: Zumindest wir hier haben bei den typischen Zuschreibungen von Jungs- und Mädchen-Hobbys und typisch männlichen und weiblichen Verhaltensweisen doch ein- oder zweimal schlucken müssen. Das kann suggerieren, wenn ein Junge nicht mit Bauklötzen spielt und mal Muttis Kleiderschrank ansieht, wäre er trans*. Anna kann Anna sein, Bauklötze toll finden und Ingenieurin werden. Zumal das Buch durchaus deutlich macht, dass trans* keine Wahl ist, dass die geschlechtliche Identität von Anfang an real ist. 

Möglicherweise soll damit eher gezeigt werden, wie solche fest verankerten Sichtweisen und geprägten Muster sich erst recht negativ auf trans*Kinder auswirken. Denn, das heben auch die Macher*innen hervor, Das schönste Kleid der Welt ist in der echten Welt und nicht einer Märchenwelt angesiedelt. Dennoch legt die eine oder andere ungeschmeidige Formulierung leider auch nah, dass Texter Holger Edmaier diese stereotypen Grundannahmen für gesetzt hält, was bei der ansonsten so spannenden wie sensiblen Erzählweise irritiert. Da könnte man also nochmals ran.

…und doch vielseitig und sensibel

Davon abgesehen aber ist Das schönste Kleid der Welt eine feine und wichtige Geschichte, eben auch, da sie davon berichtet, wie Anna sich in ihrer Umwelt nicht gesehen sieht und die Umwelt mit Kopfschütteln auf diesen „seltsamen Paul“ reagiert. Auch die liebenden Eltern erkennen sie nicht, erkennen nur „Paul“. Reagieren mit Unverständnis, auch Wut, sind aber nie boshaft. Hier wird in kurzen Texten und vor allem die Emotionen perfekt vermittelnden Illustrationen (von Kai D. Janik, der selber trans* ist) vermittelt, wie Mama und Papa versuchen ihr Kind zu verstehen oder eher zu entdecken.

Überhaupt sind die Illustrationen liebevoll, gewissenhaft und detailverliebt. Und vielseitig. Wir finden sehr unterschiedliche Menschen, sei es bezogen auf Statur, Kleidung oder Hautfarbe. Ebenso gestaltet Janik Hintergrund und Farbgebung immer der Stimmung Annas oder/und der Spiegelung durch die sie umgebenden Menschen entsprechend. So haben wir im Mittelteil des bunten Buches einen starken Grauanteil, bevor uns wieder fröhliche Pastelltöne auf Seiten teils ohne Textbegleitung ins Auge springen. 

Tessa Ganserer: „Mir wäre vieles leichter gefallen“

Das schönste Kleid der Welt, was laut Angabe des Projekts „in Zusammenarbeit mit zahlreichen Menschen entstanden“ ist und „auf den Erinnerungen und Kindheitsgeschichten vieler trans* Personen“ basiert, endet zwar versöhnlich, macht aber auch klar, dass „nur“ weil Anna am Ende statt einer Hose von Mama das Kleid gekauft bekommt – nachdem Anna allen Mut und Wut zusammengenommen und sich als Mädchen artikuliert hat – und ihre Eltern sie nun sehen und annehmen, der Weg Annas und ihrer Familie kein leichter sein wird. Dies jedoch auch in einer positiven, von Zusammenhalt und Liebe geprägten Notiz.

Das bestätigt auch die Grünen-Politikerin Tessa Ganserer, Mitglied des Bayerischen Landtags und Kandidatin für den Bundestag, die in ihrem Nachwort schreibt, dass das Buch das Thema Transidentität sehr einfühlsam und auch für Kinder leicht verständlich vermittle. Und sie sagt: „Mehr noch als ein schönes Kleid hätte ich mir in meiner Kindheit ein solches Buch gewünscht.“

In diesem Sinne ist Das schönste Kleid der Welt eine weite Verbreitung – auch an Kindertagesstätten und Schulen – zu wünschen. Über die tolle und wichtige Message hinaus ist es auch ein spannendes und wunderbar illustriertes Buch, das sich deutlich von manchem Kinderbuch-Schnickschnack abhebt. 

AS

PS: Das schönste Kleid der Welt ist empfohlen ab vier Jahren. Am Ende des Buches finden sich zusätzlich noch Adressen und Anlaufstellen für transidente und intersexuelle Menschen; ebenso wird die Arbeit vom Projekt 100% MENSCH kurz vorgestellt.

PPS: Vor wenigen Tagen wurde Das schönste Kleid der Welt als Reaktion auf die queerfeindlichen Gesetze des Regimes Viktor Orbáns auch in ungarischer Sprache als kostenloses eBook veröffentlicht. A világ legszebb ruhája findet ihr hier zum Download. Teilt das gern mit euren Freund*innen und Kontakten in und aus Ungarn.

Das schönste Kleid der Welt; Text: Holger Edmaier; Illustrationen (Aquarellzeichnungen): Kai D. Janik; 1. Auflage, 2021; Hardcover, gebunden, mit Fadenheftung; 56 Seiten; Format: 21 x 21 cm; ISBN: 978-3-9819175-0-5; Eigenverlag Projekt 100% MENSCH; 12,50 €

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