Europa erlebt eine neue Zeit der „starken Männer“. Nein, Olaf Scholz ist hiermit nicht gemeint, sondern eher eine Welle des Autoritarismus, dessen sich der Mann, der Führung versprochen hat, wenn jemand sie bestelle, bislang nicht verdächtig gemacht hat. Stattdessen sind es zwei andere „starke Männer“, die Europa bereits seit mehr als einem Jahrzehnt prägen, aber auf ganz verschiedene Weisen.
Putin und Orbán – ein „Dreamteam“
Wladimir Putin herrscht seit etwas mehr als 22 Jahren über Russland und Teile der von ihm besetzten Nachbarstaaten – zuletzt kam bekanntermaßen der Osten der Ukraine hinzu und heute Nacht begann Putin seinen Krieg gegen die Ukraine – und dürfte der wohl mächtigste Mann in Europa sein. Viktor Orbán ist seit mehr als einem Jahrzehnt in Ungarn an der Macht und hat sich zu so etwas wie einem Korrektiv – oder, präziser ausgedrückt: einem Bremsklotz – in der Europäischen Union entwickelt.
Beide haben Europa primär durch Gestaltung (Putin) oder Verhinderung (Orbán) in den letzten Jahren ihren Stempel aufgedrückt und meist sah der für ein fortschrittliches, aufgeklärtes und solidarisches Europa nicht gut aus. Um berechtigte Interessen beider Akteure einerseits nicht auszublenden, andererseits vielleicht aber doch Einfluss auf ihre jeweilige Position zu nehmen, ist es essentiell, beide Persönlichkeiten, ihre Geschichte und ihr Handeln zu kennen.
Putin – Der Bär
Zu beiden Männern finden sich aktuell empfehlenswerte und doch völlig unterschiedliche Dokumentationen in der arte Mediathek. Putin – Die Rückkehr des russischen Bären des französischen Regisseurs Frédéric Tonolli aus 2021 erzählt vom neuen Großmachtstreben des Zaren in Moskau. Der Wiederaufstieg Russlands ins Konzert der Großmächte, auf Augenhöhe mit den USA und China, ist sein Interesse.
Angefangen beim Zusammenbruch der Sowjetunion und deren Auswirkungen auf den früheren KGB-Mann Putin begleiten wir ihn durch seine Amtszeit. Der Fokus liegt dabei auf den internationalen Aktivitäten Russlands, auf den Konflikten, die Russland nutzte, teils schürte. Von den „bekannten“ Kriegen, die viel Aufmerksamkeit bekommen haben – die Ukraine und Syrien – bis hin zu weniger beachteten geostrategischen Manövern – Russlands Engagement in Afrika und speziell der Zentralafrikanischen Republik dürfte den wenigsten geläufig sein – wird seitens der Macherinnen und Macher dargelegt, wo Putin und Russland sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten Einfluss gesichert haben.
Erstaunlich ist eher, was fehlt: Belarus und dessen Gefolgschaft wird quasi nicht behandelt und auch innenpolitische Aspekte und Motivationen Putins werden kaum angesprochen. Der Terror im Inneren, zum Beispiel durch die Kriege in Tschetschenien sowie einige prägende Terroranschläge in Russland, wird nicht erwähnt. Ebenso wenig geht es um Korruption und Gesellschaftspolitik. Diese Aspekte sind zwar nicht essentiell für die hohe Qualität und Abgeschlossenheit von Tonollis Film, hätten aber doch noch eine gute Perspektive geboten, um Putins und Russlands Motivation und innere Zwänge zu verdeutlichen. Die lange Zeit unter- oder falsch eingeschätzte Rede Putins 2007 auf der Münchener Sicherheitskonferenz hingegen wird dankenswerterweise erwähnt und sei allen ans Herz gelegt.
Orbán – der „Diktator“
Bereits aus 2020 ist die Dokumentation „Hallo, Diktator“ Orbán, die EU und die Rechtsstaatlichkeit des Regisseurs Michael Wech über den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Wech behandelt vor allem das titelgebende Thema der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn, eines der wesentlichen Probleme, das die europäischen Partner mit Budapest haben und die Beziehungen des letzten Jahrzehnts prägte.
Auch hier wird der Machthaber, Ministerpräsident Orbán, in das Zentrum der Dokumentation gestellt. Während es bei Putin viel um die militärische Macht, die dieser auszubauen versucht, geht, arbeitet Orbán eher an einer strengeren innenpolitischen Agenda. Es geht um die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit, die Wissenschaftsfreiheit und die vertriebene Central European University. Etwas vermisst wird hier die schwierige Situation von LGBTIQ*-Personen in Ungarn, auch wenn die bisherige „Blütezeit“ der Repressionen gegen diesen Kreis erst in den letzten beiden Jahren, also nach Erscheinen von „Hallo, Diktator“ erreicht wurde.
Orbán versucht sein System der „illiberalen Demokratie“ zu etablieren, was die anderen EU-Staaten zu verhindern versuchen. Zu welchen juristischen Kniffen Orbán hier greift, wird in der Dokumentation sehr gut deutlich. Etwas irritierend ist, dass Viktor Orbáns erste Amtszeit von 1998 bis 2002 auch hier nicht erwähnt wurde. Diese Zeit wird häufig vergessen und umso wichtiger wäre es gewesen, auf diese zumindest kurz hinzuweisen, selbst wenn sie aus heutiger Perspektive vielleicht eher eine Fußnote denn prägende Epoche war. Das System der vermuteten Vetternwirtschaft und Korruption unter Orbán wird hingegen sehr gut illustriert.
„Die starken Männer“ verstehen
Beiden Dokumentationen geben einen wesentlichen Einblick in zwar unterschiedliche, aber für das Verständnis der jeweiligen Regime doch essentielle Perspektiven. Neben Archivaufnahmen kommen dabei jeweils auch wichtige und wohl ausgewählte Stimmen zu Wort, beispielsweise der frühere französische Außenminister Hubert Védrine oder der mit dem Friedensnobelpreis 2021 bedachte Journalist Dmitry Muratow von der russischen Zeitung Novaya Gazeta in Putin – die Rückkehr des russischen Bären.
In dem Film über Viktor Orbán begleiten wir hingegen den jungen Europaabgeordneten Daniel Freund (Bündnis 90/Die Grünen), was eher wie eine PR-Show für den mit Sicherheit dennoch talentierten Politiker wirkt. Der frühere SPD-Vorsitzende Martin Schulz wartet mit den üblichen Plattitüden auf, die leider auch zu so mancher Dokumentation dazugehören zu scheinen (wobei manche, wie Torsten Körner jüngst mit seiner Merkel-Dokumentation beweisen, dass es auch anders geht). Hier war die Auswahl der Gesprächspartnerinnen und -partner also nicht ganz so gelungen wie bei dem Film über Wladimir Putin, auch wenn die frühere EU-Justizkommissarin Viviane Reding oder der frühere Kabinettschef von Reding oder später Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Martin Selmayr, hier vieles rausreißen.
Alles in allem sind aber beide Dokumentationen nicht nur aus aktuellen Anlässen sehr sehenswert. Beide liefern sie Einblicke in die Vorhaben von zwei Männern, die Europa in den letzten Jahren mehr prägten und leider an manchen Stellen mehr ausbremsten, als wir uns wünschen können und sollten. Putin verleibt sich immer mehr Teile des früheren Sowjetreichs ein, weshalb es für uns von höchstem Interesse sein dürfte, seine Motivation zu kennen. Und Viktor Orbán steht Anfang April vor einer entscheidenden Parlamentswahl. Auch hier lohnt es sich, noch einmal aufzuklären, wer der Mann in Budapest eigentlich ist und was ihn antreibt. Beide Filme sind also aus unserer Sicht äußerst empfehlenswert, um die aktuelle politische Lage in Europa etwas besser einordnen zu können.
HMS
Update, 3. April 2022: Am heutigen Sonntag finden in Ungarn Wahlen statt. Jan Böhmermann hat sich im ZDF Magazin Royale am Freitag u. a. damit befasst. Sehenswert! Das in der Dokumentation erwähnte Märchenland für alle, das wegen eines schwulen Prinzenpaares in Ungarn so semi-verboten ist, wird übrigens unser Autor Frank Hebenstreit für uns besprechen.
Putin – Die Rückkehr des russischen Bären; Frankreich 2021; Regie: Frédéric Tonolli; Laufzeit ca. 55 Minuten; bis zum 16.3.2022 in der Mediathek
„Hallo, Diktator“ Orbán, die EU und die Rechtsstaatlichkeit; Deutschland 2020; Regie: Michael Welch; Laufzeit ca. 89 Minuten; bis zum 3.5.2022 in der Mediathek; TV-Ausstrahlung am 30.3. um 00:10 Uhr
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