Trauriger Vögeln

An einer Stelle in Pornomelancolía beklagt sich der 34-jährige Lalo im Whirlpool bei einem Fuck-Buddy darüber, dass er sich für eines seiner selbstgedrehten Semi-Amateur-Pornovideos einen ganzen Tag Zeit genommen habe, um es zu schneiden. Redundanzen und allzu technisch anmutende Bewegungen zu vermeiden, dafür ein wenig Dramatik und Artistik reinzubringen. Doch das bringe ihm kaum mehr Follower auf JustForFans oder Twitter (wie es damals noch hieß). Nein, die Menschen würden dann eher beklagen, dass er nur ein statt mehrere Videos hochgeladen habe. Also ein paar 5- bis 10-Minüter, einfach rough. Das wollen die Leute. Am Ende springen sie doch eh schnell vor bis zum Cumshot, meint er.

Angst und Sicherheit

Ganz unrecht mag der in Oaxaca, Mexiko, lebende Lalo damit nicht haben. Wer guckt schon noch Pornos mit Storyline? Es findet sich doch „das Wesentliche“ mit wenigen Klicks im Internet und durchscrollen mit Vorschaubildchen geht ganz fix. Wenn Lalo solche Sachen anmerkt, mögen die geneigten Zuschauer*innen sich fragen, ob hier die Filmfigur Lalo spricht oder der echte Lalo Santos, der im realen Leben so ziemlich genau das macht, was er auch in Manuel Abramovichs freizügigem Film tut.

Bilder und Videos für eine große Followerschaft produzieren, online daten, mal einen Pornofilm drehen. In Pornomelancolía (ab 2. November 2023 im Verleih von GMfilms im Kino) kommt er zu diesem Dreh durch einen Casting-Aufruf via Instagram. Da Lalos Job in einer Metallwerksatt kaum etwas abwirft und er sich als HIV-positiver Mann ohnehin um finanzielle und soziale Absicherung sorgt, zudem was von Schwänzen und Ärschen, Posen und Ficken versteht, meldet er sich und wird genommen und nimmt von nun an seine Co-Darsteller.

Dokumentation und Fiktion

Abramovich, Jahrgang 1987, dessen letzter Kurzfilm Blue Boy sich mit aus Rumänien stammenden Berliner Stricherjungs beschäftigte und den Silbernen Bären im Kurzfilmwettbewerb der Berlinale gewann, ist dabei immer nah dran an Lalo. Es gibt lange Passagen, in denen außer Atmen Stille herrscht. Zu Beginn des Films sehen wir einen langsam zusammenbrechenden Lalo an einer belebten Straße. Umgeben von vielen Menschen und doch ganz allein. Einsam.

© GMfilms

Einsamkeit ist auch eines der zentralen Motive in Pornomelancolía, dieser äußerst eigenwilligen Mischung aus Dokumentarfilm und Fiktion, Beobachtung und Iszenierung (wie übrigens auch Blue Boy). Manuel Abramovich sagt im Interview im Presseheft, dass es genauso wenig darum gegangen sei, einen Film über die Pornoindustrie zu drehen, wie darum eine Doku über Lalo Santos. Vielmehr wollte er einen Film mit ihm drehen.

Missbraucht und ausgenutzt

Das scheint gelungen: Santos gibt alles, entblößt sich hier nicht nur körperlich; legt nicht nur seine eindrückliche Physis offen. Umso verstörender ist es, dass, nachdem bekannt wurde, dass Pornomelancolía in den Wettbewerb des San Sebastián Filmfestivals geht, der Darsteller in einem langen Thread auf Twitter erklärte, dass er es bereue, am Film mitgewirkt zu haben. Dass er sich während des Drehs verletzt oder gar vergewaltigt („violated“) und vom Filmteam nicht geschützt gefühlt habe.

Der argentische Filmemacher Manuel Abramovich beschreibt die Zielsetzung seines auf Festivals durchaus gern gesehenen Films (ab morgen auch auf dem Pornfilmfestival Berlin) folgendermaßen:

„The film addresses many issues on which he had been researching, as scenarios for exploring many political and personal questions: the performative aspect of masculinity, the use of the body and erotic capital as a source of income, national identity, colonization, the exploitation of bodies, racism, HIV, depression, sex, loneliness, intimacy in the virtual era, power relations in cinema, work in the contemporary world and technocapitalism.“

Es gehe ihm also darum, neben Männlichkeitsbildern und deren performativen Aspekten, die Ausbeutung von Körpern, Rassismus, Klassismus, Depression, Einsamkeit, Intimität im virtuellen Zeitalter und nicht zuletzt die Machtverhältnisse in der Kino-/Filmindustrie zu thematisieren und zu ergründen. Wenn wir nun an Lalos Thread denken, dann scheint es, als habe Abramovich den Dreh selbst als solch einen Prozess empfunden.

Stille und Traurigkeit

Dazu passt es dann auch, dass eine der schmerzhaftesten Szenen im Film auf fiktionaler (?) Ebene nur noch recht wenig mit Einvernehmen zu tun hat und sehr deutlich zeigt, wer die Macht hat. Der Dreh des Films im Film – der Emiliano Zapata und die mexikanische Revolution als Rahmenhandlung fürs Geficke nutzt – öffnet uns Zuschauer*innen jedenfalls eine Perspektive, die mensch so nicht oft oder gar noch gar nicht gesehen hat.

© GMfilms

Im Kontrast dazu haben wir teil an Gesprächen, in denen es um Zugehörigkeit, Familie, echte Intimität, HIV und Klischees und Vollkornsperma geht. Auch hier ist natürlich die Frage interessant, was Skript, was ein wenig Improvisation und was freies Sprechen ist. Einige der Nebendarsteller (Frauen tauchen so gut wie gar nicht auf) kommen selber aus der Industrie, was dieser experimentellen Mischung also noch mehr Metaebene gibt.

Diese Mischung, die sehr spezielle Tonalität, nicht selten voll von Stille und Traurigkeit, das wird nicht allen gefallen. (In diesem Zusammenhang: Wenn Lalo sich beschwert, dass die Menschen ihn und sein Profil sähen und dächten, er wäre nur zum Ficken da… Naja, wenn diese Accounts eben nur vom Ficken erzählen, dann… uhm… duh. Die Stelle ist seltsam melodramatisch.) Ebenso dürfte Pornomelancolía manchen zu explizit sein, anderen wiederum nicht hart genug, aber womöglich zu düster. Mensch achte hier auf den sehr deutlichen Filmtitel. Als Hilfestellung übersetzen wir das mal: Pornomelancholie. Die muss mensch erfahren und aushalten wollen.

AS

Pornomelancolía ist ab dem 2. November 2023 im Kino zu sehen und wird in Berlin anlässlich des Pornfilmfestivals an jedem Abend bis einschließlich 8. November 2023 zu sehen sein.

Pornomelancolía; Brasilien, Argentinien, Frankreich 2022; Regie, Buch und Kamera: Manuel Abramovich; Co-Autoren: Pio Longo, Fernando Krapp; Darsteller: Lalo Santos, Adrián Zuki, Diablo, Brandon Ley, El Indio Brayan, Netito, Lothar Muller, Juan Ro, Turko, Chacalito Regio, Delmar Ponce; Laufzeit ca. 95 Minuten; FSK: 18

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