Ein letztes Abenteuer

Knapp 90 Jahre und fit wie ein Turnschuh. Ok, mit Rollator, aber zumindest geistig ein Turnschuh. Jeder Turnschuh hat jedoch ein Vorleben, manch eine Schramme, Dellen, Streifspuren. Etwa so ließe sich der Gemütszustand von Bernard „Bernie“ Jordan (Michael Caine) beschreiben. Jordan lebt mit seiner Frau Irene „Rene“ (Glenda Jackson) in einem betreuten Wohnheim an der Südküste Englands, als er zu seinem letzten Abenteuer aufbricht.

Bernie ist ein Veteran des D-Day, der Truppenlandung der Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Er war unter den ersten, die an der französischen Küste anlandeten und den Weg für die Befreiung Europas bereiteten. Im Jahr 2014 beging die Welt im Lichte von Russlands Besetzung der Krim und des Donbass das 70. Jubiläum der Offensive.

Ein kleiner Stupser

Bernie wäre gerne dabei, denn die Erlebnisse belasten ihn bis heute. Doch seine Anmeldung für eine Exkursion der Veteranen lag wohl zu spät vor. Mit einem kleinen Stupser Renes beschließt er aber, sich allein auf den Weg über den Ärmelkanal zu machen. Von dieser Geschichte und Bernies letztem großem Abenteuer berichtet Oliver Parkers Film In voller Blüte, der in diesen Tagen in den deutschen Kinos anläuft.

Mehr als 60 Jahre: Eine große Liebe zwischen Bernard Jordan (Michael Caine) und Rene (Glenda Jackson) // © LEONINE Studios

Zum Inhalt ist bereits vieles gesagt: Bernie verschwindet mit dem Segen seiner Gattin aus dem Wohnheim, wird auf dem Weg zur Fähre fast noch von der erst etwas anstrengenden, aber dennoch fürsorglichen Pflegerin Adele (Danielle Vitalis) erwischt, aber mit viel Improvisationsgeschick schafft er es dennoch auf das Boot. Dort lernt er Arthur (John Standing), Veteran der Royal Air Force, kennen, der an den Luftangriffen auf Köln und andere Städte beteiligt war.

Improvisation unterwegs

Wie das bei solch spontanen Trips gerne so ist, gemeinsam mit seinem neuen, temporären Partner in Crime, lässt Bernie sich treiben, improvisiert dann und wann und erlebt das wohl letzte große Abenteuer seines Lebens. Schützenhilfe bekommt er weiterhin von Rene, die ihm einen möglichst großen Vorsprung verschafft. Unbemerkt bleibt sein Fehlen natürlich dennoch nicht lange und sowohl Heimleitung und Polizei als auch britischer Boulevard bekommen Wind von Bernies Ausbruch.

Auf seiner Reise trifft Bernie (Michael Caine) auf den traumatisierten Scott (Victor Oshin) // © LEONINE Studios

Als „The Great Escaper“ wird er in den früheren Zeiten der sozialen Medien zum gefeierten Star, was Bernie allerdings erst auf seiner Rückreise wirklich gewahr wird. Rene jedoch leidet unter der öffentlichen Aufmerksamkeit und da ihre Gesundheit ohnehin bereits angeschlagen ist, belastet sie die Situation zusehends…

Emotionen übers Alter

An dieser Stelle könnten nun viele Bewertungen hinsichtlich des Drehbuchs, der Kameraführung (Christopher Ross), der Regie oder sonstiger Dinge zur Machart des Films (Produktion: Robert Bernstein, Douglas Rae; Musik: Craig Armstrong; Schnitt: Paul Tothill) mit vielen Rückblenden in die Zeit, in der Bernie und Rene einander kennenlernten, stehen. Das sparen wir uns einmal (wie sich die Macherinnen und Macher auch manche Rückblende hätten sparen können, aber gut) und fokussieren uns auf die emotionale Ebene.

Arthur (John Standing) und Bernie (Michael Caine) werden Freunde auf der Fähre nach Frankreich // © LEONINE Studios

Denn obwohl es natürlich hier vordergründig um das Abenteuer Bernies geht, um die Aufarbeitung und Konfrontation zwischen früheren Kriegsgegnern und manch einer rührseligen Szene zwischen Deutschen und vormaligen Alliierten, es sind gerade das Alter der Hauptfiguren und ihr bevorstehendes Lebensende, die uns hier mitgenommen haben.

„Er ist ja schon mal rübergefahren. Nur wurde er beim letzten Mal beschossen.“

Rene ist vom Alter und scheinbar einer Krankheit gezeichnet, hält ihren Zustand jedoch vor ihrem Gatten geheim. Dieser soll sich seinen großen Traum erfüllen, selbst wenn dies bedeuten sollte, dass sie voneinander Abschied nehmen müssten. Bernie scheint rüstig und widerstrebend, macht sich jedoch auch mit vollem Tatendrang und klarem Köpfchen auf seine Reise, sein letztes Abenteuer.

Innig vereint: Rene und Bernard// © LEONINE Studios

Das ist unglaublich bewegend und Regisseur Parker sowie Drehbuchautor William Ivory spielen hier mit den Emotionen ihres Publikums. Caine und Jackson verkörpern ihre Figuren – die letzten ihres Schauspielerdaseins (Glenda Jackson ist im Juni 2023 verstorben und Michael Caine kündigte unlängst an, sich zur Ruhe zu setzen) – so eindrücklich und bewegend, dass einem die Tränen kommen können. Auch wenn sie ihre Situation mit viel britischem Humor erträgt, opfert sich Rene gefühlt auf, damit ihr Liebster seine letzte Aufgabe erfüllen kann. Der wiederum entdeckt ganz neue Kräfte in sich und nähert sich mehr und mehr den Schatten seiner Vergangenheit.

Ein individuelles Seherlebnis

Das mag für viele wie eine Schnulze im Alter wirken, ist aber unglaublich berührend. Vielleicht weil wir im Bekanntenkreis zuletzt eine ähnliche Situation hatten oder vielleicht auch nur, weil sich die Macherinnen und Macher von In voller Blüte solch eine Mühe mit diesem Film gemacht haben und gerade auf die emotionale Ebene dieser auf wahren Begebenheiten beruhenden Erzählung setzen.

Vielleicht auch, weil jeder und jede in diesem Film etwas sehen kann, das sie oder er sehen will. Wer mag, der kann hier einen störrischen alten Mann begleiten, wie er versucht, sich von irgendeiner Schuld reinzuwaschen. Oder eine späte Weltkriegsstory, die Fragen zu den Themen Trauma und Belastung aufwirft. Und gerade, wenn wir erst vor wenigen Tagen über einen nationalen Veteranentag hierzulande diskutiert haben, passt dieser Film mehr als gut in die Zeit.

Oder aber mensch sieht hier eben die berührende Geschichte eines alten Mannes oder vielmehr Paares, das auf ein langes Leben zurückblickt und noch letzte Rechnungen begleichen oder ein letztes Abenteuer erleben möchte. Gerade in letzterem Falle gilt: Eine Großpackung Taschentücher ist vermutlich ein gutes Mitbringsel in die Kinosäle, denn In voller Blüte ist auf vielen verschiedenen Ebenen einfach nur berührend.

HMS

In voller Blüte ist ab dem 23. November 2023 in unseren Kinos zu sehen.

In voller Blüte; UK 2023; Regie: Oliver Parker; Drehbuch: William Ivory; Bildgestaltung: Christopher Ross; Musik: Craig Armstrong; Darsteller*innen: Michael Caine, Glenda Jackson, John Standing, Danielle Vitalis, Victor Oshin, Will Fletcher, Laura Marcus, Wolf Kahler, Jackie Clune, u. v. n.; Laufzeit ca. 97 Minuten; FSK 12; ab 23. November im Kino

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