Von Schrottplätzen, Jugendherbergen und Käse-Igeln

„Früüüüü-heeer war alles schöhöhöneeeer“, wusste schon Catherina Schöllack aus dem mittlerweile nicht mehr im Theater des Westens, sondern durch Deutschland tourenden Musical Ku’damm 56. Nein, wir hören es in dieser Form immer wieder, von jungen wie (vor allem) von alten Leuten. Aber eigentlich von jedem. Denn früher war ja alles besser. Oder?

Früher war weniger Gaga

Mensch müsste einfach einmal zurückblicken und dann vielleicht neu urteilen. Ach, das hat schon einmal jemand getan? Ok – und? Nun, das liegt wohl im Auge der Betrachter*innen. Wobei, als das Buch Früher war alles besser – Ein rücksichtsloser Rückblick 2010 erstmals erschien (was eigentlich auch schon fast „früher“ ist), da waren Debatten um „Gender-Gaga“ noch kein großes Ding. Hm, obwohl es zwar wichtig ist, dass hier ein neues Bewusstsein entstanden ist, die Debatte, die primär von Friedrich Merz, Christoph Ploss und der AfD geführt wird, ist auf jeden Fall schon mal etwas, was es früher nicht gab und was wir heute auch nicht vermissen würden.

Aber egal, zurück zum Buch und seinen vermutlich nicht nur männlichen Lesern. Dieses wurde 2020 (das war ja fast vor Corona – also auch schon „früher“) als Genehmigte Sonderausgabe im Bassermann Verlag erneut aufgelegt und hat uns so manch unterhaltsame Klolektüre geboten. Früher gab es Lustiges Taschenbuch, jetzt halt Früher war alles besser.

Perfekte Klolektüre

Als Klolektüre eignet sich dieses Buch nämlich hervorragend. Auf rund 220 Seiten führen uns die Autoren durch die Geschichte der letzten Jahrzehnte, primär der Bundesrepublik. Von A wie Adenauer bis Z wie Zigarettenspitze lesen wir in Abschnitten von wenigen Zeilen bis mehrere Seiten über so manches, was früher besser gewesen sein soll. Dass gerade Adenauer zu seinen Hochzeiten schon abschätzig als „der Alte“ tituliert wurde, scheint dem Postulat, dass früher ja alles besser gewesen sei, irgendwie auch nicht zu widersprechen. Warum auch?

Anyway, A bis Z. Also nur so halb. So essentielle Buchstaben wie Q, X oder Y haben keine Einträge vorzuweisen. Da sag ich nur: Früher war es wirklich besser, da haben sich die Leute wenigstens noch angestrengt und für jeden Buchstaben was gefunden, was früher besser gewesen sein soll. Klar, Paternoster oder Fondue (hä, gibt’s doch jedes Weihnachten und/oder Silvester), Ehre (sag das mal den Leuten mit den „Familientragödien“) oder Briefverkehr, Onanieren (ja, gibt’s heute auch noch, war auch früher nicht schlechter – also hab ich von einem Freund gehört) und junge Bäume (Böse Bäume) (hä? Aber mit Y nix finden – da ham‘ wir’s mal wieder) – das und noch viel mehr gab es früher und das soll auch alles besser gewesen sein.

Gut, dass nicht mehr 1923 ist

Manche Dinge jedenfalls gibt es nicht mehr. Das ist vielleicht auch ganz gut so. Farbröhrenfernseher (wobei ich beim Umzug letztens noch einen gesehen habe) oder Milch in Plastiktüten (wieso?) zum Beispiel. Ketwurst (ja, findet mensch auch hin und wieder, vor allem in Ostdeutschland) oder beschrankte Bahnübergänge (ja, die sterben aus – go home Tunnel). Oder das „Fräulein“. O Gott, gut, dass nicht mehr 1923 ist.

Jedenfalls, manche Dinge sterben aus oder sind das schon. Und anders als beim Dodo oder vielen Insektenarten oder manchen Ländern, die es nicht mehr gibt, ist das bei vielen Dingen und Gepflogenheiten auch gut. Schließlich ist es ein Zeichen des Fortschritts, dass wir alte Dinge und Mechanismen ablegen, weil wir merken, dass neue Technologien und der Fortschritt Einzug halten. Manches wird auch besser. Sex im Alter angeblich auch. Ich berichte dann in dreißig Jahren, versprochen.

Mit dem Fax in den Park?

Freuen wir uns doch, dass wir imstande sind, binnen weniger Monate einen mRNA-Impfstoff zu entwickeln, der uns gegen ein gefährliches Virus schützt. Oder dass wir klobige Faxgeräte durch E-Mails oder Messengerdienste ersetzen konnten. Letzteres ist ohnehin praktischer, denn es war schon immer doof, so ein klobiges Gerät am Wochenende beim Feiern durch den Park zu schleppen und Mutti noch schnell zu faxen, dass mensch doch etwas später heimkommt.

Hab ich jetzt was vergessen (und nein, kein Kater vom Saufen oder Faxschleppen)? Ach ja, die Autoren von Früher war alles besser. Die verdienen nämlich selbstredend genannt zu werden: Michael Miersch, Henryk M. Broder, Josef Joffe und Dirk Maxeiner haben dieses zwar etwas simple, aber dennoch unterhaltsame Buch verfasst. O weh, lauter alte, weiße Männer – wie sie übrigens selbst in ihrem kurzen Vorwort feststellen.

Alter-weißer-Männerhumor?

Aber muss das jetzt wirklich, ein Buch von alten weißen Männern? Das ist doch so 2000, Digga. Aber erstens arbeite ich selbst jeden Tag selbst daran, ein Vertreter dieser Spezies zu werden (das „alt“ fehlt mir noch). Und, das müssen wir den Autoren zugutehalten: Als das Buch vor 13 Jahren erstmals erschien, waren sie noch nicht ganz so alt, Bro (weiße Männer trotzdem).

Außerdem: Wenn diese alten weißen Männer jetzt zurückblicken auf ihre eigene Kindheit und das, was damals besser gewesen sein soll, dann waren sie damals ja selbst noch Kinder oder zumindest jung. Also damals waren sie die Zukunft. Und das ist doch eigentlich auch das, was wir vielfach wollen: Stimmen von jungen Menschen, die die Zukunft sind. Da sollten wir auch einmal denen zuhören, die selbst mal jung und die Zukunft waren.

Mist und Witz

Das ist nicht cringe, sondern respektvoll. Denn wir sollten uns gewahr sein: Wir alle werden älter. Wir alle leben mit den Dingen, die uns umgeben. Und unser aller Gesellschaft verändert sich von Tag zu Tag. Da gehört es dazu, auch mit der Zeit zu gehen, alte Dinge mal zu entsorgen, wenn sie nichts mehr taugen (Recycling nicht vergessen, ist gut für die Umwelt und hilft uns, unseren Planeten zu retten).

Das hin und wieder an Dingen oder Gewohnheiten festzumachen, die es heute eben nicht mehr gibt, kann manchmal nerven, aber auch unterhaltsam und humorvoll sein. Dieses Buch bietet eine Mischung aus alldem. Und was kann es auf dem Klo Besseres geben als eine Mischung aus Mist und Witz?

HMS

Michael Miersch, Henryk M. Broder, Josef Joffe, Dirk Maxeiner: Früher war alles besser. Ein rücksichtsloser Rückblick; November 2020; Pappband, gebunden; 224 Seiten, 4 s/w-Abb.; ISBN 978-3-8094-4363-6; Bassermann Verlag; 7,99 €

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert