Panzerlieferung, Ringtausch, Taurus-Marschflugkörper und Zeitenwende. Vor etwas mehr als zwei Jahren hätten wohl nur die Wenigsten gedacht, dass diese Vokabeln die öffentliche Debatte wesentlich prägen würden. Die Ampel war doch eigentlich so verheißungsvoll gestartet. Aber mit Putins Angriff auf die Ukraine kam es eben anders.
Seither diskutieren wir wieder über Krieg und Frieden in Europa, darüber dass unser westliches Wertesystem in Gefahr ist und Russlands Angriff auf die Ukraine eben weit mehr als ein Konflikt „irgendwo im Osten“, der uns nichts angeht. Das tut er sehr wohl, denn Putin stellt mit seiner Propaganda, seiner Aggression und seiner Clique das in Frage, was uns im Westen als Lebensgrundlage dient: die liberale Demokratie.
Schluss mit Glückseligkeit
Dagegen müssen wir uns verteidigen. Viel zu lange jedoch waren wir in Deutschland der Überzeugung, dass so etwas wie der Zweite Weltkrieg oder jeglicher andere bewaffnete Konflikt uns nicht mehr treffen könnte.Was für ein Trugschluss. Diese vermeintliche Glückseligkeit hat uns ermattet und Putin hat diese Schwäche gnadenlos offenbart.
In den Worten des seit Kriegsbeginn schlagartig an Bekanntheit gewonnenen Politikwissenschaftlers und Militärexperten Carlo Masala ist klar, wir sind – wenn überhaupt – Bedingt abwehrbereit. So lautet der Titel eines im vergagnenen August bei C.H. Beck erschienenen Bandes mit dem prägnanten Untertitel Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende. (Randnotiz: Der Titel ist ein Verweis auf eine SPIEGEL-Story aus den 1960er-Jahren, wie in den einführenden Worten erläutert wird.)
Ein langes Interview
Anders als dies von einem Militärexperten und Professoren an der Universität der Bundeswehr in München zu erwarten wäre, handelt es sich aber hier nicht um ein lineares Lehrbuch, das den Zustand der deutschen Verteidigungskräfte analysiert und am Ende zu einem (mehr oder weniger vernichtenden) Fazit gelangt. Das geschieht in diesem Buch zwar auch, aber die Struktur ist etwas anders.
Es ist als Frage-und-Antwort-Buch aufgebaut. Die Fragen stellen an dieser Stelle Sebastian Ullrich und Matthias Hansl, also der Cheflektor (Ullrich) und der Programmleiter (Hansl) des Beck-Verlags, die in der Regel deutlich ausführlicheren Antworten gibt der Experte Masala. Direkt zu Beginn legen die drei Herren ihre Motivation für diese doch eher besondere Struktur des Buches offen – eine Struktur, die es wie ein sehr langes Interview wirken lässt, das die Leserinnen und Leser an jeder Stelle guten Gewissens unterbrechen können.
Viele Herausforderungen
In drei wesentlichen Teilen befassen sich die Fragesteller und Masala mit dem Zustand der deutschen Abwehrfähigkeit. Teil eins betrifft vor allem den Zustand der Bundeswehr, Teil zwei den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und was er für Deutschland, Europa und die westliche Wertegemeinschaft bedeutet.
Teil drei schließlich beleuchtet die Entwicklung des internationalen Systems und welche Lehren Deutschland für seine Verteidigung hieraus ziehen sollte. Der Aufstieg Chinas und die wachsenden Spannungen mit den USA spielen hier ebenso eine Rolle wie auch eine Reihe von weiteren Herausforderungen wie Migration oder Klima, vor denen Deutschland und Europa stehen.
Fachwissen leicht erklärt
Es ist an dieser Stelle mehr als müßig, auf jedes Detail einzugehen, das Masala und seine Gesprächspartner aufwerfen, dafür steckt in Bedingt abwehrbereit schlicht und einfach viel zu viel Detailwissen. Masala brilliert mit seinen Fachkenntnissen und fundierten Einschätzungen, die einerseits denen eine gute Einordnung geben, die sich bereits seit Längerem mit der Außen- und Verteidigungspolitik Deutschlands und Europas befassen.
Andererseits ist dieser Gesprächsband jedoch auf einem sehr niedrigschwelligen Niveau verfasst, sodass die Leserinnen und Leser nicht Internationale Beziehungen studiert haben müssen, um den Ausführungen Masalas folgen zu können. Im Gegenteil, gerade für Laien und Interessierte dürfte mit Bedingt abwehrbereit ein recht aktueller Überblick vorliegen, der die wesentlichen Konfliktlinien, Herausforderungen und Problemlagen analysiert und mögliche Handlungsoptionen für Politik und Gesellschaft darlegt.
Wünsche werden wahr
Es versteht sich trotzdem von selbst, dass sich einige Punkte eines bereits im Mai 2023 geführten und schließlich im August 2023 veröffentlichten Gesprächs zwischenzeitlich ein wenig überholt haben. Erst im Februar beispielsweise eröffnete Bundeskanzler Olaf Scholz eine Munitionsfabrik in Niedersachsen – Masala fordert in diesem Buch beispielsweise, dass Deutschland hier für mehr Autarkie in der Versorgung sorgen müsse und nennt beispielsweise den Aufbau einer industriellen Produktion von Munition in Deutschland. So schnell können Wünsche in Erfüllung gehen.
Und noch ein Punkt fällt auf: Manche der Fragen wirken seitens der Fragesteller doch eher wie Bälle, die der Befragte gut und sicher verwandeln kann. Vermutlich ist das besonders im Redaktions- und Lektoratsprozess entsprechend glattgezogen worden und das ist ja auch nicht weiter schlimm. Immerhin handelt es sich bei Bedingt abwehrbereit um eine eindeutig wissenschaftliche Einschätzung eines Experten und nicht beispielsweise um ein langes Interview mit einem AfD-Politiker, dessen Lügen es zu entlarven gilt.
Nichts für militante Pazifisten
Bedingt abwehrbereit ist also eine sehr aktuelle Zusammenstellung, die die Herausforderungen, vor denen Deutschland und Europa Mitte der 2020er-Jahre stehen, prägnant und sachkundig zusammenfasst. Natürlich werden militante Pazifisten (ein wunderbares Oxymoron) mit diesem Gesprächsband wenig anfangen können, lehnen sie doch jede Form militärischer Gewalt ab.
Allen aber, denen bewusst ist, dass Deutschland und Europa vor Herausforderungen stehen, die auch militärische Gewalt oder vor allem Abschreckung erfordern, bietet dieser Gesprächsband von Carlo Masala mit Sebastian Ullrich und Matthias Hansl einen sehr guten Überblick über genau diese Punkte.
HMS
Eine Leseprobe findet ihr hier.
Carlo Masala: Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende; Oktober 2023; 207 Seiten, 3 Karten; Klappenbroschur; ISBN: 978-3-406-80039-9; C.H. Beck Verlag; 18,00 €
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