„Dass Politik fair wäre, wär‘ irgendwie neu – wär‘ mir jedenfalls neu“

Eine neunteilige Dokumentation über Jens Spahn. Neun Stunden Spahn. Muss mensch sich das antun? Das haben wir uns gefragt, als wir von Aljoscha Pauses Dokureihe über den früheren Bundesgesundheitsminister erfahren haben. Als Political Animals konnten wir natürlich nicht widerstehen und haben uns diese Dröhnung Spahnquasi als Binge-Watch gegeben – am Ende waren es sogar eher zwölf als neun Stunden, da die Folgen nach hinten hin länger werden. Aber sie hat uns vollauf überzeugt, fast durchgängig gut unterhalten und die fünf letzten Jahre mit einer der wohl streitbarsten und streitfreudigsten Personen des öffentlichen Lebens gut aufgearbeitet. Und das selbst bevor Spahns Nachfolger Karl Lauterbach (SPD) Cannabis legalisiert hat.

Second Move Kills – Fünf Jahre mit Jens Spahn bei RTL+ reiht sich ein in ein zuletzt neu erwachtes Interesse an jüngeren Politikerinnen und Politikern. Katharina Schiele und Lucas Stratmann begleiteten den heutigen SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert über drei Jahre und wurden für diese Reihe mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. In der bereits in der zweiten Staffel gelaufenen Reihe Macht auf Zeit begleiten Miriam Davoudvandi und Jan Kawelke ebenfalls (zumeist) junge Politikerinnen und Politiker im Bundestag. Und Journalistinnen wie Anna Sauerbrey oder Livia Gerster gehen dieses Phänomen schriftlich an.

Ein Mann will nach oben

Nun also Spahn. Der Mann, der den einen als bewährter und besonnener Krisenmanager gilt, den anderen zur Hassfigur wurde. Der in der Flüchtlingspolitik um 2015 zu einem der schärfsten innerparteilichen Kritiker der Bundeskanzlerin wurde, und als Parlamentarischer Staatssekretär bei Wolfgang Schäuble sein Handwerk weiter ausbaute. Ein Mensch mit vielen Ecken und Kanten, der es schafft, uns über ca. zwölf Stunden hinweg zu unterhalten.

Jens Spahn, Angela Merkel und Karl Josef Laumann // Foto: © RTL

Wir steigen im Juni 2017 ein, als Spahn noch Staatssekretär ist, Angela Merkel noch nicht zum letzten Mal Kanzlerin und nach der Wahl an ihm nicht vorbeikommen wird. Wir begleiten ihn im Wahlkampf, durch die Koalitionsbildung, die Arbeit als Gesundheitsminister vor Corona und später eben in der Pandemie. Alles dabei dreht sich um Spahn, seinen Mann Daniel Funke sowie die Karriere des früheren Bundesgesundheitsministers.

„Ich bin der Jens“ – „Ja, Jens gibt’s viele“ – „Ja, wie Sand am Meer

Über den Medienprofi Spahn wurden in den vergangenen Jahren viele Schlagzeilen produziert, von parteiinternen Machtkämpfen über Debatten in der Bundesregierung und Initiativen als Bundesgesundheitsminister. Und natürlich im Rahmen des Pandemiemanagements: Lockdowns, Maskenbeschaffung, Impfstoffentwicklung, Test-Chaos, Ankündigungsminister und Spendendinner sind nur einige Begriffe, die in diesem Zusammenhang genannt und in Pauses Reihe aufgegriffen werden.

Jens Spahn mit Mitarbeiterinnen (u. a. Susanne Wald am Kopfende) und Mitarbeitern während einer Telefonschalte zu Beginn der Corona-Pandemie // Foto: © RTL

Und immer wieder kommentieren Spahn selbst, aber auch sein Ehemann oder engste Mitarbeiterinnen (wie z. B. Susanne Wald) und Mitarbeiter Spahns Entscheidungen. Politische Wegbegleiter wie Carsten Linnemann, der gescheiterte Kanzlerkandidat Armin Laschet und der bislang eher glücklose aktuelle CDU-Vorsitzende Friedrich Merz bekommen das Wort. Oftmals werden die einzelnen Statements so gegengeschnitten, dass der Eindruck naheliegt, dass die Kommentierenden diese vorab gezeigt bekommen haben und direkt darauf reagieren. Sehr nette Konzeption von Aljoscha Pause und Team.

Freund, Feind, Parteifreund

Es sind aber nicht nur vermeintlich Spahn-Getreue, die sich vor die Kamera wagen. Spahns Duz-Freund Dietmar Bartsch (Die Linke), Annalena Baerbock und Claudia Roth von den Grünen beispielsweise tauchen immer wieder auf – und vor allem letztere fällt überaus positiv dadurch auf, dass sie gerade mit der SPD und wie diese Spahn oftmals anging, sehr hart ins Gericht geht. Roth spricht hier also eher als politische Kollegin und Mensch, denn als Grünen-Politikerin, die einen oftmals politischen Gegner zu kommentieren hat.

Parteivorsitzender der FDP Christian Lindner (l.) und Jens Spahn (r.) im Gespräch vor einer hart aber fair-Sendung (damals noch mit Frank Plasberg) // Foto: © RTL

Stichworte SPD und Gegner: Der bereits genannte Kevin Kühnert gehört nahezu zu den einzigen SPD-Politikern, die Statements abgeben (und in seinem Fall sind sie meist eher selbstverklärend). „So ein Typ wie Spahn“ jedenfalls würde in der SPD nicht gehen. Aha. Und auch aus der CSU gibt es erstaunlicherweise niemanden, der oder die sich auf einen Kommentar einlässt. Auch aus der FDP taucht nur der Parteivorsitzende Christian Lindner an einigen, wenigen Stellen auf.

Kommentator*innen kommentieren

Das wird jedoch wettgemacht durch eine Reihe von Journalistinnen und politischen Beobachtern: Eva Quadbeck (anfangs noch stellvertretende Chefredakteurin Rheinische Post, dann stellvertretende Chefredakteurin und Leiterin der Hauptstadtredaktion Redaktionsnetzwerk Deutschland), Stefan Niggemeier (Übermedien), Robin Alexander (stellvertretender Chefredakteur Welt und Buchautor, u. a. Die Getriebenen) und Jacques Schuster (Die WELT), Stephan-Andreas Casdorff (Herausgeber Der Tagesspiegel) oder Markus Feldenkirchen (DER SPIEGEL, Autor Die Schulz-Story und mancher Dokumentation) kommentieren meist wohlwollend – und mit der (nachvollziehbaren) Ausnahme Feldenkirchens ist es erstaunlich, wie einig sich diese größtenteils für eine unterschiedliche Ausrichtung stehenden Kommentator*innen sind, dass die politische Illustrierte DER SPIEGEL zeitweise eine unbotmäßige und vielfach auf Hörensagen beruhende Kampagne gegen Spahn gefahren hat.

Aljoscha Pause im Gespräch mit Jens Spahn // Foto: © RTL

Um diesen unvollständigen Namensblock einmal kurz abzuschließen: Second Move Kills arbeitet zwar viel mit Originalmaterialien, auch mit vielen aufwändigen (und manchmal einen Ticken zu langen) Drohnensequenzen, aber die Dokumentationsreihe lebt vor allem von den vielen, diversen, qualifizierten und hochwertigen Kommentaren, die oftmals Positionen zeigen, die hinter die Kulissen der veröffentlichten Meinung blicken.

„Betondeckel namens Kauder“

Manche Kommentierende allerdings disqualifizieren sich auch selbst vollends. Volker Kauder beispielsweise, der frühere Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, versteigt sich zu der Aussage, dass er noch einmal mit Spahn hinsichtlich Konversionstherapien reden müsse, da es „schon ein gewisses Problem“ sei, etwas zu verbieten „was nicht wirklich die Menschen schädigt.“ Herr Kauder, vielleicht sollten Sie mal zum Exorzisten gehen. Oder einfach einer Schwulenberatung.

Nicht ganz zu Unrecht bezeichnete der omnipräsente Journalisten Hajo Schumacher Kauder als „Betondeckel“, dessen sich die Union entledigen musste. Und trotz dieser Aussage: Wieso bekommt Schumacher hier quasi die Rolle des Hauptkommentators? Die meisten seiner Einlassungen fallen eher in die klamaukige Ecke eines Tatort: Münster (womit sie ja schon wieder fast passen – ist Spahn doch ein Kind des Münsterlandes).

Homosexualität als Wettbewerbsvorteil

Aber egal, die wichtigsten Einordnungen geben nämlich Spahn selbst und sein Mann. Nicht nur die Bilder vom gemeinsamen Spaziergang und Wanderurlaub am Tegernsee geben einen Einblick ins Private, sondern auch manch eine Einlassung der beiden. Gerade in der ersten Hälfte – und das finden wir äußerst löblich – wird das Thema Homosexualität in fast jeder Folge thematisiert, und zwar unaufgeregt, undogmatisch und dennoch mit einer gebotenen Ernsthaftigkeit. Auch die Vereinbarkeit mit dem katholischen Glauben, mit der konservativen Prägung und die Widersprüche, die sich für Spahn hier in der Glaubenslehre auftun, werden gleich zu Beginn thematisiert.

Warum Homosexualität ohnehin nichts Schlimmes ist oder warum sie für Politikerinnen und Politiker sogar ein kleiner Vorteil sein kann, wird tatsächlich in Ausführlichkeit behandelt und das freut uns umso mehr, als dass gerade Spahn immer wieder vorgeworfen wird, dass er nicht oder kaum für die Community einstehe. Mit solchen Maßnahmen – wir sehen in einer Einstellung übrigens Matthias Herzbergs Andersrum in die Chefetage auf dem Schreibtisch liegen – leistet er für die Community deutlich mehr als manche sich selbst aufplusternde Influencerinnen und Influencer, die oder der sich über vermeintliche Homofeindlichkeit echauffiert.

Karriere und Loyalität vereint

Was die weiteren Kommentare vor allem Spahns angeht, sei vor noch einmal auf das bereits Geschriebene verwiesen: Auch seine Einordnungen sind vielfach sehr erhellend und zeigen, dass er beides kann, seine eigene Karriere befördern – auch mit der Gefahr, einmal Fehler zu begehen (und zu erkennen) –, aber sich eben auch einordnen. Seinen Tandempartner für den CDU-Vorsitz, Armin Laschet, beispielsweise unterstützte er nach außen ohne Vorbehalt.

Jens Spahn (l.) auf dem Weg zu einem seiner vielen Termine // Foto: © RTL

Im Hintergrundgespräch, von dem er wusste, dass es erst später veröffentlicht würde, bekannte er aber schon früh, dass die Teambildung mit Laschet nicht optimal gewesen sei, aber die Loyalität es gebiete, weiterhin dem Aachener die Treue zu halten. Das zeugt von Rückgrat und Verbindlichkeit, aber auch von einem gesunden Menschenverstand und einer realistischen Einordnung der Tatsachen. (Ein Gruß geht an dieser Stelle an Markus Söder – bewusst offensichtlicher als der von Jens Spahn.) Und das sind auch Eigenschaften, die Deutschland von einem Bundeskanzler erwarten darf.

Ein Talent, das Richtige zu tun?

Was bleibt zu sagen? Die Dokumentation Second Move Kills – ja, auch der eigenwillige Titel wird erläutert – kann einige Abende füllen und jeder und jede muss sich die Frage stellen, ob sie oder er sich dem aussetzen möchte. Unsere Empfehlung ist klar: ja. Selten gab es ein so eindrückliches Portrait eines Mannes (wie auch es des Politbetriebs und des Medienbetriebs drumherum), der bereits lange dabei ist, aber noch lange nicht am Ende seiner Karriere angekommen ist. Um es mit Hajo Schumacher zu sagen: „Friedrich Merz hat ein unfassbares Talent, immer im richtigen Moment das Falsche zu tun.“ Auch Spahn macht Fehler, aber wenn es drauf ankommt, ist er in der Regel präsent und lernt aus seinen Fehlern.

Jens Spahn 2022 im Interview // Foto: © RTL

Spahn hat sich nach dem Ausscheiden aus der Regierung eine gewisse Auszeit gegönnt und scheint nun zurück. Die aktuelle mediale Offensive, die er gestartet hat, kann kaum übersehen werden: Im September erschien sein Buch über die Pandemie (das sich sehr gut mit Second Move Kills ergänzt, teils aber auch fast wörtlich wiederholt), welches er auf der Frankfurter Buchmesse vorstellte, Ende Oktober war er bei Kurt Krömer und in den Talkshows der Republik ist der „stellvertretende Oppositionsführer“ auch wieder zunehmend zu sehen. Es scheint, dass Spahn wieder da ist, wieder auf Attacke setzt und dass der Weg ins Kanzleramt künftig nur über ihn führt. Wie er sich seine Meriten hierfür in den letzten Jahren verdient hat, das illustriert Second Move Kills mehr als eindrücklich und für alle Political Animals ist die Serie Pflichtprogramm.

HMS; Mitarbeit AS

PS: Ein Nachtrag zu Wolfgang Schäuble: Sollte Spahn – wovon auszugehen ist – noch mehrere Jahrzehnte die Politik der Bundesrepublik prägen – egal, ob als Kanzler oder nicht –, dann hätte Schäuble die Politik Deutschlands für fast ein Jahrhundert geprägt. Immerhin hat er die deutsche Einheit vor mehr als 30 Jahren verhandelt (ich war damals noch ein Baby) und war zu jener Zeit bereits seit fast 20 Jahren im Bundestag. Wenn Spahn als so etwas wie Schäubles Vermächtnis gesehen wird, dann ist Schäuble der Bismarck des 20./21. Jahrhunderts. Wie zahlreiche Interviewteile in Second Move Kills aber beweisen, macht ihn das nicht unbedingt zu einem sympathischeren Menschen.

Second Move Kills – 5 Jahre mit Jens Spahn ist eine Doku-Reihe auf RTL+ // Foto: © RTL

Second Move Kills ist seit dem 2. November 2022 auf RTL+ verfügbar

Second Move Kills – Fünf Jahre mit Jens Spahn; Deutschland 2022; Buch und Regie: Aljoscha Pause; Kamera: Sebastian Uthoff, Robert Schramm; Drohnenaufnahmen: Andrea Schmidt; Musik: Roland Meyer de Voltaire; Produzent: Aljoscha Pause; Produktion RTL+: Frauke Neeb, Sebastian Daul; mit: Jens Spahn, Robin Alexander, Annalena Baerbock, Dietmar Bartsch, Gerhart Baum, Stephan-Andreas Casdorff, Markus Feldenkirchen, Daniel Funke, Bettina Gaus (✝️ 2021),  Max Giermann, Franz-Josef Große-Berg, Olav Gutting, Hubertus Heil, Markus Jasper, Volker Kauder, Katja Kipping, Annegret Kramp-Karrenbauer, Kevin Kühnert, Armin Laschet, Karl Lauterbach, Christian Lindner, Carsten Linnemann, Friedrich Merz, Mai Thi Nguyen-Kim, Stefan Niggemeier, Frank Plasberg, Stephan Pusch, Eva Quadbeck, Julia Reuschenbach, Claudia Roth, Wolfgang Schäuble, Hajo Schumacher, Jacques Schuster, Tino Sorge, Edmund Stoiber, Frank Überall, Susanne Wald, Marcus Weinberg, Oliver Welke, Lothar H. Wieler, Heike Wissing; 9 Folgen jeweils ca. 65-95 Minuten; Eine Pausefilm Produktion im Auftrag von RTL+ und RTL

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert