„Denk ich an Russland in der Nacht…

…dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ – Frei nach Heinrich Heine dürfte es vielen Menschen in Deutschland, Europa und vor allem der Ukraine spätestens seit Wladimir Putins Überfall oft schwerfallen, nachts einzuschlafen. Die Gräuel, die Putins Armee und die von ihm beauftragten Söldner in der Ukraine anrichten, sind zu abscheulich.

Wie konnte es so weit kommen? Eine Frage, die seit mehr als einem Jahr die Welt bewegt und die Antwort ist relativ simpel: Wladimir Putin. Innerhalb von etwas mehr als zwei Jahrzehnten hat er Russland von einer jungen und angeschlagenen Demokratie in eine knallharte Autokratie mit Zensur und Unterdrückung von Oppositionellen verwandelt.

Ein Mann sinnt auf Vergeltung

Nochmal: Wie konnte es so weit kommen? Dieser Frage geht der ZEIT-Journalist und Autor Michael Thumann nach, der in Moskau lebt und seit über 25 Jahren aus Osteuropa berichtet. Sein Buch liegt im C.H. Beck Verlag in der mittlerweile siebten Auflage vor und heißt Revanche – Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. Und ist für die Leserinnen und Leser überwiegend sehr aufschlussreich.

Thumann geht von der These aus, dass sich Russland und auch Putin persönlich seit dem Zerfall der Sowjetunion in vielerlei Hinsicht durch den Westen gekränkt fühlen und nun Vergeltung wollen. Das vermeintlich herablassende Verhalten Westeuropas, der USA und der NATO seien – so argumentieren auch viele Putin-Verklärerinnen und -Verklärer – mitursächlich für die Herabsetzung dieses so stolzen Landes. Das entlarvt Thumann zurecht als eine Lüge oder zumindest ein Narrativ, das Russland, dieses immer noch so stolze Land, kleinmache und damit noch mehr beleidige. 

Krieg à la Putin

In insgesamt 15 Kapiteln erläutert Thumann die wesentlichen Schritte und Bausteine, die Russland zu der Autokratie gemacht haben, die wir heute kennen. Er geht unter anderem auf den Zerfall der Sowjetunion und die für viele Menschen traumatischen 1990er-Jahre ein und zeigt, wie sich das Narrativ herausgebildet hat, dass der Westen Russland ausgenutzt habe. Er zeigt, wie sich unter Putin ein neuer Nationalismus im Einklang mit den Bolsonaros, Erdogans, Orbáns, Trumps und Xis dieser Welt bilden konnte und wie Tschetschenien zum Versuchslabor des Kriegs à la Putin wurde.

Er zeigt, wie Putin langsam die Demokratie aushöhlte, wie er die Geschichte für seine öffentlichen Erzählungen umdeutet, wie das Lagersystem die Opposition im eigenen Land zum Schweigen bringt und seine Propagandamaschinerie die Russinnen und Russen gegen „den Westen“ aufhetzt. Und er illustriert, wie Putin Rache nehmen will und welche Rolle die schon fast regelmäßigen Atomdrohungen in diesem Zusammenhang spielen.

Lücken, die nicht schmerzen

Das ist eine ganze Menge und eigentlich fällt an Revanche eher auf, was nicht so präsent ist. Das sind beispielsweise Russlands Stellvertreterkriege in Syrien oder Afrika, die Kriege im Kaukasus, die nur peripher behandelt werden, aber deutlich zeigen, wie das geopolitische Denken im Kreml bereits seit rund 15 Jahren aussieht. Es fehlt auch ein wesentlicher Bezug zur Kleptokratie um den Staatskonzern Gazprom und die finanziellen Gebärden der Clique, die Putin um sich versammelt hat. Auch das Thema Religion behandelt Thumann im Prinzip gar nicht.

Das heißt allerdings nicht, dass Revanche dadurch unvollständig wäre oder unter diesen Lücken leiden würde. Im Gegenteil, Thumann fokussiert sich auf die genannten (und einige weitere) Punkte und verbindet diese zu einer sehr stringenten und in sich halbwegs abgeschlossenen Analyse, die sich auch für Nicht-Fachleute sehr gut lesen lässt. Erfahren wir auf den ersten rund 80 Seiten mit dem historischen Rückblick zwar erst einmal nicht viel Neues – zumindest nicht viel, was wir nicht bereits an anderer Stelle hätten lesen können – nimmt Revanche vor allem ab dem Kapitel zu Tschetschenien deutlich an Fahrt auf.

Denk ich dann doch an Deutschland…

Ein Punkt, der gerade für uns Deutsche von Bedeutung ist, ist das leicht romantisierende Bild, das viele über Russland und Putin lange hatten und teils immer noch haben. Dazu zählt selbstverständlich auch, dass Putin uns von seinem Gas abhängig und somit erpressbar gemacht hat (wie gesagt, ganz raus ist Gazprom hier nicht, aber die tiefere Rolle des Gasriesen ist anderswo besser dargestellt).

Auch dieser Problematik widmet sich Thumann dankenswerterweise an einigen Stellen und mit großer analytischer Schärfe. Auffällig ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass er besonders am früheren Umwelt-, Wirtschafts- und Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) kaum ein gutes Haar lässt und einige von dessen Entscheidungen (zurecht) als strategische Fehler entlarvt. Die früheren Regierungschefs Gerhard Schröder (SPD) und Angela Merkel (CDU) kommen bei ihm eher milde davon. Im Falle von Merkel ist das wohl berechtigt, aber gerade Schröder hat wiederholt bewiesen, dass ihm sein moralischer Kompass irgendwo zwischen Bratwurst und Wodka verlorengegangen sein muss.

Ein Präsident schweigt und genießt

Einer jedoch – und das irritiert uns sehr – kommt in diesem Buch nur an einer Stelle vor und zwar in der Danksagung. Es handelt sich um Frank-Walter Steinmeier, heute Bundespräsident, aber zuvor zweimal Außenminister und Schröders bester Gehilfe als Kanzleramtsminister. Steinmeier wird gerade in der Ukraine sehr kritisch gesehen, denn einerseits war er als Außenminister an führender Stelle an den Minsk-II-Verhandlungen beteiligt (ebenso wie Merkel), aber gleichermaßen gab es von ihm die eine oder andere streitbare und arg relativierende Äußerung mit Blick auf Russland. Wir erinnern uns an den letzten Sommer, als die Ukraine Steinmeier – nicht grundlos – von einem Besuch auslud und unser Staatsoberhaupt erst einmal als beleidigte Leberwurst erschien.

Steinmeier hätte also in Thumanns Analyse durchaus ein oder zweimal Erwähnung finden können, ja sogar müssen. Das geschieht aber kein einziges Mal. Dass Steinmeier in Thumanns Dank als „wichtiger Gesprächspartner“ firmiert, seine Rolle jedoch an anderer Stelle nicht kritisch beleuchtet wird, hat den Beigeschmack von abgestandenem Kwas. Wenn die anderen genannten Lücken verzeihlich sind, diese ist es eigentlich nicht.

Putins unnötiger Zorn

Ansonsten jedoch ist Revanche von Michael Thumann ein überaus informiertes und informierendes Buch, das uns genau darlegt, wie Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion zu dem wurde, was es heute ist – nämlich ein von einem Despoten gelenkter Atomstaat, der seine Nachbarn und seine eigene Bevölkerung terrorisiert. Die wesentlichen Elemente dieser Entwicklung arbeitet der Autor ebenso gut heraus wie die wenigen zentralen Bruchstellen der jüngeren russischen Geschichte.

Auch die deutsche Perspektive auf Russland und die spätestens seit Katharina der Großen recht besondere Beziehung, die wir zu dem Riesenreich pflegen lässt Thumann dabei nicht unbeachtet. Sein Buch gehört auf jede aktuelle Leseliste, denn er stellt sehr schön dar, was der Westen Russland wirklich angetan hat (nämlich nicht so viel) und was die Erzählung der ewigen Kränkung durch den Westen für einen Schaden auf allen Seiten anrichtet. Barack Obama mag Russland als Regionalmacht verspottet und Putins Zorn auf sich gezogen haben. Aber dass Putin allein deshalb Revanche sucht, ist zu kurz gegriffen.

HMS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Michael Thumann: Revanche — Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat; Januar 2023; 288 Seiten, 15 Abbildungen; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-406-79935-8; C.H. Beck Verlag; 25,00 €

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