Handbuch für Putinversteher(innen) – und solche, die es werden wollen

Truppenbewegungen hinter der russisch-ukrainischen Grenze, „Friedenstruppen“ in Kasachstan oder vor einem Jahr in BergkarabachMoskau lässt zuletzt wieder die Muskeln spielen. Keine Frage, ohne das frühere Zarenreich werden in Europa keine Politik und vor allem kein dauerhafter Frieden möglich sein – zumindest nicht, solange Wladimir Putin als Staatschef im Kreml sitzt.

Nicht nur wegen der Abhängigkeit von russischem Erdgas hat Putin große Macht über Europa. Wie aber drückt sich diese aus? Worin besteht sie genau? Diese und andere Fragen würde mensch erwarten beantwortet zu bekommen, wenn sie oder er Hubert Seipels im April 2021 bei Hoffmann und Campe erschienenes Buch Putins Macht – Warum Europa Russland braucht zur Hand nimmt. Spoiler: Diese Erwartung wird nicht erfüllt.

Begegnungen mit Russland

In 22 Kapiteln zuzüglich Prolog versucht uns der Journalist Seipel darzulegen, auf welchen Feldern Europa und Russland politisch miteinander verbunden sind. Dabei geht es unter anderem um die mittlerweile berüchtigte Gaspipeline Nord Stream 2, die Verarbeitung der gemeinsamen europäischen Geschichte oder auch die Kriege in Syrien, der Ukraine und dem Irak. Und Putins aktueller „Erzfeind“ Alexei Nawalny darf natürlich auch nicht fehlen.

Vor allem geht es aber um zwei Dinge: einerseits um die USA und warum die dortige Politik vor allem unter dem früheren Präsidenten Donald Trump zwischen Russland und Europa eher Unfrieden stiftete. Und andererseits geht Seipel intensiv auf die Politik und Initiativen der deutschen Bundesregierung unter Angela Merkel ein, die aus seiner Sicht vielfach skeptisch und mit Argwohn auf Putin und sein Reich blicke, sich aber aufgrund der erratischen Politik in Washington doch zunehmend „pragmatisch bewogen hat, doch wieder mehr mit Wladimir Putin zu konferieren.“

Schauplätze ja, Akteure nein

Das klingt in Teilen erst einmal plausibel. Natürlich muss ein Buch, das dem Titel nach Putins Macht aufzuarbeiten und zu illustrieren sucht, die Schauplätze und Hintergründe der Begegnung aufarbeiten. Insofern ist es gut und sinnvoll, dass Seipel die Berührungspunkte auflistet und darlegt, wo Europa und Russland sich im täglichen Leben begegnen und Einfluss aufeinander haben.

Allerdings kommen dabei manche Punkte ein wenig kurz: Bei dem Titel Putins Macht würde man als Leserin oder Leser erwarten, auch detaillierte Informationen über Verstrickungen Moskaus zu erfahren, welche Oligarchen wo in Europa und der Welt Einfluss haben und diesen über Putin geopolitisch nutzbar machen. Man würde erwarten, mehr als nur etwa zwei Personalien aus dem innersten Zirkel um Putin kennenzulernen, die im Machgeflecht des Kremls eine gewisse Rolle spielen (und dennoch offenbar scheinbar fast vollständig von Putin abhängig sind). Diese Informationen aber sind so spärlich gesät wie große Siedlungen in Sibirien.

Bipolare Konfrontation

Was wir stattdessen bekommen, ist aber etwas ganz anderes. In zwei mehr oder weniger abwechselnden „Handlungssträngen“ mit kurzen Exkursen zu Themen wie Nord Stream, Erinnerungskultur und Nawalny geht es eher unstrukturiert im Wesentlichen um die zwei angesprochenen Themen: Amerika und Merkels Politik gegenüber Russland.

Zuerst zu den USA: Einigermaßendetailliert arbeitet Seipel auf, wie Russland vor allem durch innenpolitische Querelen unter der Trump-Regierung global diskreditiert worden sei. Stichworte: Wahlmanipulation, Sanktionen, Ukraine, etc. Im Wesentlichen lässt Seipel kein gutes Haar an den USA und er hat ja recht: Unter Donald Trump wurde das Land enorm schlecht regiert. Und selbst wenn bis heute keine russische Wahlmanipulation bewiesen werden konnte, wenn mensch sich mit den Verhaltensweisen und Methoden Moskaus auseinandersetzt, dann ist der Gedanke an Wahlmanipulation nicht von der Hand zu weisen.

Russland jedoch als das unschuldige Lamm hinzustellen, das von nichts eine Ahnung gehabt hätte, wie Seipel das suggeriert, das funktioniert auch nur bedingt. Die Interessen des früheren Vizepräsidenten und heutigen Präsidenten Joe Biden in der Ukraine müssen natürlich öffentlich dargelegt werden. Und wie Demokraten und Republikaner jeweils versuchten, Russland zu dämonisieren, birgt auch Konfliktpotential. Aber was Seipel macht, ist ein regelrechtes Verharmlosen Russlands, eine Entdämonisierung, die jeglicher Grundlage entbehrt.

Merkelverunglimpfung

Noch bemerkenswerter ist sein Vorgehen bei der „Analyse“ oder vielmehr Bewertung der deutschen beziehungsweise merkelschen Politik. Uns ist nicht erkenntlich, wo sich Merkel Putin in den letzten zehn Jahren wirklich „zugewandt“ hätte, weil sie in Amerika nicht weitergekommen wäre. Klar, man spricht miteinander, ist Nachbar und hat komplementäre Interessen. Aber Angela Merkel hat ihre Politik nie offen nach Moskaus Interessen ausgerichtet. Seipels dahingehende Einschätzung ist ein krasser Fehlschluss.

Das wird untermauert durch die übertrieben harte Sprache. Christoph Heusgen, hoch angesehener Diplomat und Merkels langjähriger außenpolitischer Berater, UN-Botschafter und demnächst auch Vorsitzender der Münchener Sicherheitskonferenz (Seipel hatte ihn schon in den Ruhestand verabschiedet) wird als „russophober Transatlantiker“ deklassiert. Merkel selbst wird in der größten humanitären Krise, der Flüchtlingskrise 2015, unterstellt, auf kritische Nachfragen „mit der Nonchalance einer beleidigten Königin“ reagiert zu haben (der Merkel-Biograf Ralph Bollmann bewertet dieselbe Situation übrigens weit angemessener als eine der stärksten in ihrer gesamten Kanzlerschaft). Darüber hinaus schließt Seipel sich damit einem Narrativ sowohl ihrer als auch der erbittertsten Einwanderungsgegner an, die einst forderten, Merkel müsse „entthront werden“.

Nun kann man viele Sachverhalte unterschiedlich einschätzen und das ist das gute Recht einer/s jeden. Was Seipel aber macht – und übrigens seinen früheren Kolleginnen und Kollegen der von uns ebenfalls häufig kritisch beäugten politischen Illustrierten „Der Spiegel“ sehr regelmäßig vorwirft – das sind krasse Fehleinschätzungen, fast Verunglimpfungen. Von jemandem, der für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten arbeitet, sollte man doch bitte mehr Verantwortungsbewusstsein und politische Einordnung erwarten dürfen.

Viele nicht nur „politische Fehleinschätzungen“

Schlimmer als Fehleinschätzungen sind aber fehlerhafte Wiedergaben von Tatsachen. So ist es nicht ausschließlich zutreffend, dass Deutschland und große Teile EuropasUngarn und Polen in der EU für ihre harte Haltung in der Flüchtlingsfrage bestrafen wollen, indem sie ihnen mittels Rechtsstaatsmechanismen die Gelder kürzen wollen. Die beiden Länder haben ihren Rechtsstaat weit jenseits der europäischen Werte ausgehöhlt oder sind noch immer dabei, das zu tun – teils bereits vor 2015, eine Information, die Seipel unterschlägt. Oder wenn China als das „wohl erfolgreichste Land bei der Bekämpfung der Krankheit“ [Corona, Anm. d. Red.] bezeichnet wird, ohne dabei auf die Verschleppung und Vertuschung zu Beginn oder die rigorosen Freiheits- und Menschenrechtsverletzungen einzugehen (womit er in den Öffentlich-Rechtlichen allerdings nicht der einzige ist), dann sind das über krasse und unreflektierte Fehleinschätzungen hinaus eben schlicht unzureichend tatsachenbasierte Wiedergaben.

Noch krasser folgende Passage: „Der Westen [Europas] profitiert von seiner Wirtschaftskraft und blickt mit Verachtung herab auf die Länder in Osteuropa, in denen nicht Schlagworte wie ‚Multikulti‘, ‚Säkularismus‘ und ‚Homoehe‘ hoch im Kurs stehen, sondern traditionell konservative Begriffe wie Vaterland, Kirche und Familie“. Dem folgt ein vollkommen unreflektiertes Zitat Putins u. a. zu LGBT-Rechten in Russland. Und zwar ohne Erläuterung, Einordnung oder der Erwähnung, dass LGBT-Rechte Menschenrechte seien (denen sich übrigens auch Russland im Rahmen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder des Rechtsrahmens des Europarats verpflichtet hat). Das ist wirklich nur zum Schämen, genau wie weitere falsche Einordnungen, beispielsweise zum Krieg in Syrien und dessen Ursachen. Die Frage, wer solch krudes Zeug schreibt, drängt sich auf.

Putin-Verstehen und -Verklären

Nun,Hubert Seipel brüstet sich damit, dass er einer Journalisten mit dem besten Zugang zu Putin sei, mit Treffen um die Jahreswende 2019/20 und danach, mit einer Einladung, Putin nach Syrien zu begleiten. Gepaart mit der Putin verherrlichenden Sprache und manch kruden Einschätzungen drängt sich der Eindruck auf, dass Seipel sich richtig geil dabei vorkommt, so nah an Putin dran zu sein und das bitte alle wissen dürfen und sollen. 

Sein Bedürfnis, Putin zu verstehen und anderen zu erklären, ist nachvollziehbar und nicht ganz falsch. Was er aber in Putins Macht daraus macht, ist vollkommen abwegig – Putin-Verstehen und -Verklären vom Feinsten. Es ist ein Handbuch für alle, die Putin verherrlichen wollen, eine unreflektierte und unter Fehlinterpretationen und Faktenmangel leidende Abrechnung mit den USA und der Politik Angela Merkels. Aber es ist auf keinen Fall ein Buch, das mensch lesen oder ernst nehmen sollte. Besser wäre es, es im Giftschrank hinter dem Nowitschok verschwinden zu lassen.

HMS

Hubert Seipel: Putins Macht – Warum Europa Russland braucht; April 2021; Gebunden mit Schutzumschlag; 352 Seiten; ISBN: 978-3-45500-286-7; Hoffmann und Campe; 24,00 €

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