Der Kommunismus ist abgesa(u)gt

„Leningrad? Hörst du Jakob, so ist das heutzutage, erwürge mich nachts im Schlaf und vielleicht wird man morgen das Dorf nach dir benennen!“

Im Grunde genommen ist mit diesem Zitat schon beinahe alles zu Julian Radlmaiers Blutsauger, der seine Premiere 2021 auf der Berlinale in der Sektion Encounters hatte und am heutigen Mittwoch als TV-Premiere auf arte gezeigt wird, gesagt. In seiner „marxistischen Vampirkomödie“ enlässt Radlmaier, der auch das Drehbuch schrieb, Karl Marx‘ Metapher aus Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, dass Kapitalisten Blutsauger seien, einfach mal aus dem metaphorischen Raum und in einem sehr gegenwärtigen Jahr 1928 Realität werden.

„Du bist eine echte Romanfigur“

In diesem trifft die Fabrikanten-Erbin Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stangenberg) gemeinsam mit ihrem Butler Jakob (Alexander Herbst) am Ostseestrand auf einen vermeintlichen sowjetischen Baron (Alexandre Koberidze), der sich allerdings schnell als ein in der stalinistischen Sowjetunion in Ungnade gefallener Schauspieler namens Ljowuschka entpuppt. Der (noch) semi-lebensfrohen, bourgeoisen Erbin macht das nichts: Sie behält Ljowuschka als Gast in ihrer Villa und gibt ihn auch vor ihrer anreisenden Tante Erkentrud (Corinna Harfouch), dem herrlich schnöseligen Familienfreund Bonin (Daniel Hoesl) sowie dem Rest des Ortes als Baron aus.

Der in der Sowjetunion unter Stalin in Ungnade gefallene Schauspieler Ljowuschka (Alexandre Koberidze) träumt an der Ostsee von seiner Überfahrt nach Amerika. Dort will er seine Karriere neu aufbauen // © Faktura Film / Foto: WDR

Wovon auch dieser profitiert. Will er doch einen Film drehen, um in Hollywod Fuß zu fassen. Doch dann kommen nach und nach Gefühle für Salon-Marxistin Octavia ins Spiel. Ebenso werden die Fabrikarbeiter irgendwie unruhig, denn nach marxkritischer (!) Marx-Lektüre fühlen sie sich ausgebeutet, irgendwie, und wollen revoltieren, irgendwie. Außerdem scheint ein Vampirwesen umzugehen, das des nächtens Arbeiter*innen und Anwohner*innen aussaugt. Oder sind es doch nur chinesische Flöhe, wie der Bürgermeister Dr. Humburg (Andreas Döhler) behauptet? Immerhin findet sich ein chinesischer Algensammler (Kyung-Taek Lie) im Ort…

„Die Revolution hat ihn wohl recht mitgenommen“

Natürlich handelt es sich bei dem Film, den Ljowuschka, Octavia, Jakob und Co. drehen, um einen VampirfilmNosferatu lässt grüßen. Keine Frage, dass Ljowuschka aus der Sowjetunion geflohen ist, weil Sergei Eisenstein ihn in Oktober als Leo Trotzki besetzt hatte. Selbstredend bezeichnet die Erbin ihren hoffnungslos in sie verliebten Butler Jakob, dem seine Proust-Lektüre zum Verhängnis werden soll, konsequent als ihren „persönlichen Assistenten“ und fordert ihn zum „Du“ auf. Natürlich ist sich der marxkritische (!!) Marx-Lesekreis in den Dünen nicht so recht einig, wie es mit der Vampir-Metapher zu halten sei und ganz klar wissen die nach den oder der wahren Blutsauger*in suchenden Arbeiter*innen nicht so recht, ob sie nun marxistisch-sozialistisch oder marxistisch-kommunistisch oder einfach nur klassisch betrunken unterwegs sind. Logisch fragt sich Tante Erkentrud, ob denn die revoltierende Belegschaft nicht einfach erschossen werden könne? Überschaubare Grausamkeit für das große Ganze. Mit Faschisten könne man wenigstens reden, aber Kommunisten!?

Beim Dreh eines Vampirfilms haben sich die Rollen gedreht: Die eigentlich blutsaugende Octavia (Lilith Stangenberg) spielt nun das Opfer, das vom eigentlich unschuldigen Dorfbewohner (Kyung-Taek Lie) gebissen wird… //© Faktura Film / Foto: WDR

Blutsauger ist also ein sehr diskursiver Film, der, in all seiner Absurdität nicht nur sehr zeitgemäß daherkommt (ein Eindruck, der dank Coladosen, Kite-Surfer, Paketlieferungen und manchem Modestück – Kostüme: Sara Wendt – nur noch verstärkt wird), sondern einen humorvollen Ausflug in die Geistesgeschichte des Marxismus erlaubt. Für jene, denen Julian Radlmaier ein Begriff ist, dürfte das wenig verwunderlich sein. Andere mögen etwas brauchen, um mit dem eigenwilligen Blutsauger warm zu werden. Auch, weil es sich hier eben nicht um eine klassische Vampirgeschichte mit Blut, Fledermäusen und Fliegen handelt, eher tangiert Radlmaier das Genre, um letztlich den Marxismus zu diskutieren.

„Nebukadnezar!“

Ist mensch aber erst einmal warm geworden mit Stil und Story, so fällt es leicht, den teils hervorragend steril und dann wieder sehr lebendig agierenden Protagonist*innen an den erstaunlich unblutigen Lippen zu hängen. Das liegt sowohl am Spiel, hier sind Stangenberg, Herbst und Koberidze hervorzuheben, der Inszenierung (die manch Wes-Anderson-Fan gefallen dürfte) sowie am Drehbuch Radlmaiers, das aus gutem Grund bereits 2019 in der Kategorie Bestes unverfilmtes Drehbuch mit dem Deutschen Drehbuchpreis ausgezeichnet wurde.

Die blutsaugende Fabrik-Erbin Octavia (Lilith Stangenberg) und der ehemalige Schauspieler Ljowuschka (Alexandre Koberidze) haben unterschiedliche Gründe, warum sie so viel Zeit miteinander verbringen… //© Faktura Film / Foto: WDR

Wohl aus diesem Grund dürfte dieses zum Kinostart von Blutsauger im Frühsommer 2022 als Buch im August Verlag erschienen sein. Neben dem Drehbuch (basierend auf der achten Fassung vom 23. Mai 2019, wie die editorische Notiz uns wissen lässt), das sich genüsslich lesen und manch einen der gern einmal mehr als doppelbödigen Dialog- und Inszenierungseinfälle Radlmaiers nachfassen lässt, finden sich im hochwertig aufgemachten Band noch zahlreiche Illustrationen von Comickünstler Jan Bachmann, die manches Mal schon beinahe Grosz‘sche Assoziationen wecken sowie ein Essay von Sulgi Lie, der die hundertjährige Geschichte des deutschen Vampirfilms behandelt oder besser behandeln will.

Kein blutleeres „Form-Begehren“

Der Essay namens „Zahnweh. Vitalismus und Melancholie im deutschen Vampirfilm“ öffnet passend zum Film direkt mit dem Klassenkampf, wenn Lie klarmacht, dass dank „Zusatzleistungen“ Dentalhygiene „wieder zu einer Frage des Klassenprivilegs geworden“ sei. Ganz korrekt ergänzt der Filmwissenschaftler: „Während viele günstige Fertiggerichte und übermäßige Zuckerzufuhr schnell kariöse Spuren hinterlassen, ist ein strahlend weißes und ebenmäßiges Gebiss unmissverständlicher Ausweis von Geld und Glamour […]“. Lebensmittelindustrie und Zahn-Medizin – alles Blutsauger!

Octavia lädt den angeblichen Baron Ljowuschka auf ihr Anwesen ein. In der ersten Nacht erwischen sie und ihr Diener Jakob (Alexander Herbst, Mi.) den „Baron“ jedoch beim versuchten Diebstahl // © Faktura Film / Foto: WDR

Aber putzen sich Vampire die Zähne? Vor allem die so dringend benötigten Fang- also Eckzähne („Eckzähne sind meine Lieblingszähne“, wie August Wittgenstein in Höllgrund sagen darf)? Diese Fragen beantworten sowohl der Film wie auch der gehaltvolle Essay, sie sei an dieser Stelle jedoch nicht vorweggenommen. Vorweggenommen allerdings sei, dass Lies Essay sich hervorragend zur Analyse des Films eignet, zur Einordnung dessen, wieso Blutsauger eben kein blutleerer Essayfilm ist und woran sich Radlmaiers „Form-Begehren“ nach Roland Barthes entzündet.

„Diese Vampire labern fast lieber als dass sie Blut trinken“

Darüber hinaus erfahren wir eine Interpretation von Bram Stoker, laut derer er sich als „marxistischer Vampir-Theoretiker lesen“ ließe und Dracula zu ständiger Akkumulation verdammt sei. Da der Autor dieser Zeilen hier noch eine Dracula-Schmuckausgabe aus dem Coppenrath Verlag zu liegen hat, wird er die Gelegenheit beim Eckzahn packen und sich der Geschichte mit diesem Gedanken im Hinterkopf erneut annehmen.

Im Weiteren begegnen wir im Zahnweh-Essay unter anderem noch Sigmund Freud, Werner Herzog, natürlich F. W. Murnau, Kaspar Hauser und Ernst Bloch. Lesen, passend zum zeitlichen Setting des Films mit Blick auf den aufkeimenden Faschismus, eine Gegenüberstellung von „richtiger“ Kunst und „falscher“ Politik und wünschen uns schlussendlich eine Welt, „die allen Menschen eine vernünftige Zahnbehandlung zugesteht“.

Der Essay, der einem Pasolini sicherlich zugesagt hätte, ist ein schönes Stück Analyse wie auch Gedankenspiel, entfernt sich in seiner freundschaftlichen Betrachtung der Arbeit(en) Radlmaiers allerdings vergleichsweise weit von seinem Titel. Und darüber, ob manch Anhänger*innen Marx‘scher Ideen wirklich gut darin sind, Ambivalenzen auszuhalten, ließe sich trefflich debattieren.

„Schwarzseherinnen dulde ich nicht!“

Dessen unbenommen ist er so lesenswert wie auch das Drehbuch es ist beziehungsweise der Film sehenswert. Ein Film, sehr slow, irgendwo zwischen Essayfilm, poetischer Satire, Klassenkampf auf Sparflamme, ironischer Brechungen, die sich als sehr wahrhaftig herausstellen sollen und dabei frei von Misanthropie (wie auch eigentlich Blut und Nacktheit). Wer‘s mag, wird‘s genießen und mit sich tragen.

AS

PS: „Oh Mann, jetzt geht das wieder los! Jedes Mal nervt ihr alle mit euren Scheißfragen! […] Bruno jetzt halt doch mal dein Maul. Ich hab echt keinen Bock mehr auf diese Deppengruppe.“ – Arbeiter Schnösl hat recht, geh‘n wir heim.

Blutsauger wird am Mittwoch, 6. September 2023, um 22:45 Uhr auf arte ausgestrahlt und ist bis zum 4. Dezember 2023 in der arte-Mediathek verfügbar. Das Buch zum Film mit Illustrationen und Essay liegt im August Verlag vor.

Blutsauger; Deutschland 2021; Buch & Regie: Julian Radlmaier; Bildgestaltung: Markus Koob; Darsteller*innen: Aleksandre Koberidze, Lilith Stangenberg, Alexander Herbst, Corinna Harfouch, Andreas Döhler, Kyung-Taek Lie, Daniel Hoesl, Darja Lewin, Bruno Derksen, Christopher Kane, Anton Gonopolski, u. v. a.; Laufzeit ca. 128 Minuten; FSK 12

Julian Radlmaier (Text), Jan Bachmann (Illustrationen): Blutsauger; mit einem Essay von Sulgi Lie; Mai 2023; Hardcover, gebunden; 256 Seiten; ISBN 978-3-7518-9004-5; August Verlag; 25,00 €

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