Portraits von Wasserlilien, Mädchenbanden, Tomboys und Zeitreisen: Die Regisseurin Céline Sciamma

Im vergangenen Jahr freuten wir uns sehr, dass zum fünften Geburtstag der queeren Sommerfilmreihe rbb Queer, die der rbb gemeinsam mit dem Verleih Salzgeber kuratiert, auch der Bayerische Rundfunk mit BR QUEER einstieg und unter anderem solche Perlen wie Eine total normale Familie oder Xavier Dolans Sag nicht, wer du bist ins Free-TV brachte. 2023 kommt sogar noch ein dritter Dritter der ARD hinzu: Der WDR zeigt ab dem heutigen Donnerstag im Rahmen von WDR QUEER in einer Werkschau alle fünf Langfilme der queerfeministischen, 1978 geborenen Regisseurin Céline Sciamma.

„Eine interessante Filmemacherin und eine wichtige Stimme, die wir unserem Publikum in diesem Rahmen ausführlich vorstellen möchten. Céline Sciamma rückt in ihren Filmen Figuren in den Mittelpunkt, die zwischen den geläufigen Zuordnungen nach ihrem eigenen Weg suchen. Und sie entwickelt eine Filmsprache, die gängige Ideen des Filmemachens auf subtile Weise unterläuft. Ihre Werkschau bereichert und vervollständigt die Sommerfilmreihe von rbb und BR ganz ausgezeichnet.“

Alexander Bickel, Leiter WDR Programmbereich Fiktion

Genau an- und hinsehen

Den Anfang dabei macht um 23:45 Uhr, sicherlich aus Gründen, ihr wohl auch beim nicht-queeren Publikum bekanntester Film Portrait einer jungen Frau in Flammen, der bei den Filmfestspielen in Cannes für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde und 2020 immerhin der weltweit meistgesehene französische Film war. Das Drama spielt im 18. Jahrhundert und stellt die Malerin Marianne (Noémie Merlant) in den Mittelpunkt. Diese soll ein Hochzeitsportrait der Adeligen Héloïse (Adèle Haenel, 120 BPM) anfertigen. Was die wiederum nicht will. Die beiden gehen miteinander spazieren, hierbei beobachtet Marianne sie aufmerksam und beginnt zu zeichnen. Ebenso beginnt eine vorsichtige Annäherung…

Marianne (r, Noémie Merlant) gibt Héloise (Adèle Haenel) die Anweisung, wie sie sich für das Portrait positionieren kann // © WDR/Alamode Film

…diese darf natürlich nicht sein. Neben einer aufkeimenden lesbischen Liebe erzählt Sciamma, die für all ihre Filme die Drehbücher selbst verfasst, noch von den den Frauen zugewiesenen Rollen, Unterdrückung sowie einer Gesellschaft, die sich ihre Abgründe selbst schafft und einigem mehr. In Ermangelung einer ausführlichen Rezension: Es gibt gute Gründe dafür, dass das Portrait einer jungen Frau in Flammen sooft angesehen wurde.

Personen, keine Figur-Schablonen

Marie und Floriane // Foto: © WDR/Alamode Film

Im Anschluss um 01:30 Uhr zeigt der WDR das Erstlingswerk Sciammas: Water Lilies aus dem Jahr 2007. In einem nicht näher erörterten, beinahe zeitlos wirkenden Vorort von Paris lebt die 15-jährige Marie (Pauline Acquart). Sie ist fasziniert von den grazilen Bewegungen der Synchronschwimmerinnen – oder hat es ihr doch primär die Kapitänin der Gruppe, Floriane (erstmals von Sciamma besetzt: Adèle Haenel) angetan? Diese hat ihren Ruf als „Schlampe“, die mit allen Jungs und Typen schläft, weg. „Niemand mag sie“, sagt Maries beste Freundin Anne (Louise Blachère) an einer Stelle. Louise wiederum ist irgendwie in François (Warren Jacquin) verknallt und will unbedingt ihr erstes Mal mit ihm haben. Der allerdings ist mit Floriane liiert…

…nun könnte mensch meinen: Fein, wieder so eine die Pubertät aufarbeitende Coming-of-Age-Geschichte mit ein wenig lesbischem Verlangen und derlei. Das allerdings ist bei Water Lilies eher weniger der Fall, was nicht zuletzt auch an Sciammas zurückhaltendem Drehbuch und der beobachtungsfreudigen Kamera von Crystel Fournier liegt (der von unter Wasser gezeigte Tanz der Synchronschwimmerinnen ist famos). Ebenso wirft uns Céline Sciamma keine fertigen Schablonen von Figuren hin, sondern ambivalente Personen, die sich selber erst einmal kennen- und irgendwie verstehen lernen müssen… Von einander einmal ganz abgesehen.

Den Rücken zugewandt

Marie wendet sich mehr und mehr Floriane zu und von Anne ab, die wiederum ihrer Mission treu bleibt, François zu erobern und dafür beinahe Ketten verschluckt und einen BH vergräbt. Wenn es in Water Lilies auch manch ironisch-witzigen Moment gibt („Die Länder, wo sie die Mädchen mit 14 verheiraten, find‘ ich cool.“), ist der Film an keiner Stelle eine Pubertäts-Komödie. Der Humor ist immer hintergründig und sagt, gern still vorgetragen, sehr viel über die Gesellschaft von vor 15 Jahren und im Grunde auch noch heute, denn viel geändert hat sich nicht: „Als ob ein Steifer in kaltem Wasser anmacht.“ – „Eklig.“ – „So ist das Leben.“

Héloise (Adèle Haenel) schaut traurig und nachdenklich auf das Meer // © WDR/Alamode Film

Was wohl auch einer der Gründe ist, warum Haenel, die bis 2018 in einer Beziehung Céline Sciamma gewesen ist, sich kürzlich entschloss, der Filmindustrie den Rücken zu kehren: „Wenn ich heute in dieser Kinobranche bleiben würde, würde ich zu einer Art feministischer Garantie für diese männliche und patriarchalische Industrie. Mein Traum ist es, klar zu machen: Diese Industrie verteidigt eine kapitalistische, patriarchalische, rassistische, sexistische, generell strukturelle Welt der Ungleichheit“, sagte sie im Mai 2022 in einem Interwiew mit Wurmdobler Christopher für das FAQ Magazine.

Das Spiel mit Rollenbildern und Klischees

Sie wolle sich dem Theater zuwenden und bleibt für die Zusammenarbeit mit aktivistischen Regisseur*innen wie eben Sciamma – beide sind einander nach wie vor freundschachftlich verbunden – offen. Hoffen wir also, dass wir Adèle Haenel womöglich in einem der kommenden Sciamma-Filme sehen werden.

Apropos freundschaftlich verbunden: Mit Mädchenbande aus dem Jahr 2014 (in der Nacht vom 10. auf den 11. August 2023, 01:30 Uhr) begibt die Regisseurin sich in die Pariser Banlieues und folgt Marieme (Karidja Touré), die vor allem eines nicht will: So sein wie alle anderen. Bloß nicht normal sein. Das allerdings ist so einfach nicht, denn zu Hause muss sie sich um ihre jüngeren Schwestern kümmern, weil die Mutter Überstunden als unterbezahlte Putzkraft schiebt. Außer Haus ist es auch nicht besser. In der Nachbarschaft geben Jungs den Ton an und die Schule ist eine Sackgasse. Doch dann wird sie Teil einer Mädchengang, die sich Freiheiten nimmt, von denen Marieme bislang nur träumte. Fortan heißt sie Vic und das Leben macht Spaß: Vic schwänzt den Unterricht, verändert ihr Äußeres und legt sich mit rivalisierenden Banden an. Das neue Leben soll Mariemes Weg in die Unabhängigkeit sein.

Die Mädchebande, v.l.n.r.: Fily (Marietou Toure), Adiatou (Lindsay Karamoh), Marieme (Karidja Touré), Lady (Assa Sylla) // © WDR/Alamode Film

Dabei spielt sie mit Rollenmodellen, eignet sich diese an, verwirft sie wieder, nutzt Klischees und konterkariert sie. Was somit also auch Regisseurin Céline Sciamma tut, die hier, im Gegensatz zu vielen Kolleg*innen, kein Sozialdrama erzählt, sondern einen Film über das Sosein, die Individualität und das Streben nach dem Eigenen. Eine ausführliche Rezension lest ihr am kommenden Donnerstag, 10. August 2023.

Alles gut, bis die Eltern kommen

Zuvor, wieder um 23:45 Uhr, strahlt der WDR jenen Film aus, der Sciamma auch in Deutschland große Aufmerksamkeit innerhalb der LSBTIQ*-Community brachte und der als Eröffnungsfilm der Panoramasektion auf der Berlinale 2011 zu sehen war. Die Rede ist natürlich von Tomboy.

Im Mittelpunkt des hochgelobten Films steht die 10-jährige Laure (Zoé Héran), die nicht unbedingt wie ein typisches Mädchen aussieht – und auch nicht unbedingt eines sein möchte. Laure trägt die Haare am liebsten kurz, die Hosen weit. Eine Chance sich auszuleben bekommt Laure, als die Eltern umziehen. Am neuen Ort stellt sich Laure als Michael vor, spielt Fußball, verliebt sich in Lisa. Die Familie bekommt davon nichts mit… erstmal.

Laure/Michael (Zoé Héran, l) trifft beim Baden am See auf Lisa (Jeanne Disson), die sich in Michael verliebt hat // © WDR/Alamode Film

Spannend an den Filmen von Céline Sciamma ist, dass Familien bis hierher entweder gar nicht auftauchen (Water Lilies, überhaupt sehen wir da kaum so genannte Erwachsene) und/oder als Verhinderer, als Sperren und Störfaktoren auftreten. So nimmt niemand an Michael Anstoß, bis die Eltern sich einmischen. Damit sind die Filme wohl sehr nah an der Realität.

Und zum Schluss: Magischer Trost

Den Abschluss der Werkschau bildet am 17. August um 23:40 Uhr Petite Maman – als wir Kinder waren. Mit diesem Film war Céline Sciamma inmitten der Hochzeit der Corona-Pandemie erstmalig in den Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele Berlin aka der 71. Berlinale 2021 eingeladen. In Deutschland startete der Jugendfilm, in dem ein achtjähriges Mädchen namens Nelly (Joséphine Sanz) nach dem Tod ihrer geliebten Großmutter durch eine Zeitschleife zur Freundin ihrer eigenen Mutter Marion in Kindheitstagen wird, am 17. März 2022 in den Kinos.

WDR Fernsehen PETITE MAMAN – ALS WIR KINDER WAREN (Petite Maman) Nelly (l, Joséphine Sanz) und Marion (Gabrielle Sanz) auf dem Weg zum großen See // © WDR/Alamode Film

Der Film behandelt so sensibel wie magisch das Themenfeld um Tod und Verlust, Trauer und Trost, ohne dabei ein großes Melodrama abzuziehen – was bei Céline Sciamma wohl auch eher verwunderlich wäre. Sie selber sagt über Petite Maman: „Die Zeitreise findet nur in uns statt. Ich wollte die Zuschauer dazu bringen, ihre eigene Zeitmaschine anzuwerfen, die sich in ihrem Körper, in ihrem Geist befindet.“ Das kann je nachdem, in welcher Verfasstheit sich die Zuschauer*innen befinden, eine sehr gute oder eben sehr harte Erfahrung sein. Auch zu diesem Film gibt es unsere ausführliche Rezension noch vor der Ausstrahlung.

QR/PM

Héloise (l, Adèle Haenel) schaut Marianne (gegenüber) tief in die Augen // © WDR/Alamode Film

Alle Filme sind nach der Ausstrahlung für 30 Tage in der ARD-Mediathek verfügbar.

Water Lilies; Frankreich 2007; Buch und Regie: Céline Sciamma; Bildgestaltung: Crystel Fournier; Musik: Para One; Darsteller*innen: Pauline Acquart, Louise Blachère, Adèle Haenel, Warren Jacquin, Christel Baras, Alice de Lencquesaing, Marie Gili-Pierre, Yvonne Villemaire; Laufzeit: 81 Minuten; FSK: 12

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