Was einem beim Pinkeln so alles einfällt

Henri Maximilian Jakobs beschreibt in seinem Debütroman Paradiesische Zustände (erschienen bei Kiepenheuer & Witsch) seinen Helden als einen Langstreckenläufer zum Selbst, dem der bissige Witz über ein hindernisreiches Leben nie ausgeht und der mit dem Autor die Lust für Wortspiele teilt.

Von Nora Eckert

„Ich stehe vor der dreckigen Kloschüssel in einer Kabine irgendeines Berliner Klubs und versuche, meinen Namen zu pinkeln. Eine heroische Tat. Heute Abend feier ich. Alles und mich.“ Der da seinen Namen zu pinkeln versucht, heißt Johann. Aber den Namen musste er erst finden, und zwar so wie er seine Männlichkeit erst entdecken musste. Die ist, wie er irgendwann weiß, immer schon in ihm gewesen, aber als geschlechtliche Identität blieb sie lange der sprichwörtliche Elefant im Raum. Denn das Geschlecht, das in der Geburtsurkunde stand und mit weiblich angegeben war, ist nicht das, was für Johann an einem bestimmten Punkt seines Lebens zur Gewissheit wurde. Und von diesem Moment an vergehen schließlich 6 Jahre, 8 Monate und 21 Tage, bis er endlich alles und sich selbst feiern kann und bis er als Mensch im wahrsten Sinne authentisch geworden ist. Genau davon erzählt der Autor im Rückblick.

Die Geschichte wird trans*Menschen nur allzu vertraut vorkommen, denn ihre Biografien sind angehäuft mit unendlich vielen Déjà-vus im Guten wie im Schlechten. Für den Autor Henri Maximilian Jakobs ist die Geschichte eine Art Heimspiel, denn er ist selbst trans* und weiß deshalb, wie sich eine solche Lebensgeschichte auf und unter der Haut anfühlt, wie sie unser Herz zum Rasen bringt und unser Gehirn in selbstreflektierenden Endlosschleifen mal euphorisiert, mal deprimiert, mal zweifeln lässt, mal siegesgewiss macht. Die Rede ist von „wackligen Gefühlen“ – eine passende Umschreibung. Das Schöne ist, dass die Chancen nahezu bei hundert Prozent liegen, mit einer Transition irgendwann die Erfahrung machen zu können, sich selbst als Sieger zu sehen. Und das ist fürwahr ein Grund zum Feiern.

Und weil das trans*Sein schon immer in uns ist, tragen wir auch die Zukunft stets startklar mit uns herum. „Nicht gemurmelt, sondern deutlich gesagt. Die Zukunft ist nicht morgen, sondern jetzt in unseren ahnungslosen Köpfen.“ Und da wir unser Leben für gewöhnlich wie den Lernstoff in der Schule Lektion für Lektion lernen, stellt sich für Johann in spe die Frage, ob seine Lust auf Frauen, die ja noch ihre Lust ist, möglicherweise ein lesbisches Erwachen bedeutet.

Der Schauspielunterricht, der nach dem Schulabschluss folgt, ist jedenfalls nicht die richtige Entscheidung und provoziert die Frage: Worin der Sinn bestehen soll, ausgerechnet Prinzessinnen zu imitieren. Die nächste Lektion heißt Berlin, aber auch da gibt es erst einmal zu viele Sackgassen und Einbahnstraßen. Eine davon ist der Job in einer Würstchen-Bude. Klar, der Mensch muss leben, aber Curry-Wurst servieren hört sich eher wie eine Notlösung an und schon gar, wenn man es mit einem durchgeknallten, verkoksten Chef zu tun hat. „Ich bin seit ein paar Monaten in Berlin. Manchmal ist das Leben leicht und verständlich wie Grundrechenaufgaben. Sehr viel öfter kapiere ich es nicht.“

Was Noch-nicht-Johann als vermeintliche Lesbe auch nicht kapiert: Wie eigentlich Liebe funktioniert. Natürlich ist es bitter, einfach sitzengelassen, ausgemustert zu werden für ein Konkurrenzmodell. Bitterer wird so eine verunglückte Liebe, wenn man nicht begreifen will, dass die andere Person von vornherein einen anderen Spieleinsatz gesetzt hat. Kein Wunder also, wenn sie/er sich in Misanthropie flüchtet, aber damit zugleich doppelt leidet, nämlich nicht geliebt zu werden und an dem Leid darüber auch noch zu leiden.

Immer deutlicher wird: „Aber ich finde, ich passe nicht zusammen. Irgendwie sind das Innen und das Außen so anders.“ Die Kunst im trans*Sein besteht oft darin, die richtige Frage zu finden, für die wir eine Antwort suchen. Je länger wir suchen müssen, desto mehr besteht die Gefahr, dass die Ratlosigkeit zu einem Wust verknotet, wie es Jakobs beschreibt. Doch irgendwann steht man endlich an der richtigen Tür im Leben und weiß dazu auch noch die richtige Frage zur Antwort als Türöffner. Und so geschieht es und aus der Nicht-Frau wird Schritt für Schritt Johann.

Leider ist so eine Transition ein verdammt langwieriger, nervenaufreibender Hindernislauf voller Bürokratie mit Anträgen und Bescheinigungen und ebenso viel Psychotherapiestunden. Und Testosteron ist ebenso wenig ein Zaubermittel, das ad-hoc-Verwandlungen ermöglicht, sondern vielmehr eine Übung in Geduld vermittelt. Weshalb Johann zu der launigen Erkenntnis kommt: „Von wegen der Weg ist das Ziel. Der Weg ist im Weg und sonst nichts.“ Und schließlich die Gutachten auf dem Weg von der Frau zum Mann: „Bei Psychologen sollte man vorsichtig sein mit Scherzen. Sie häkeln aus den dünnsten Fäden eine Zwangsjacke.“

Der Autor verwandelt den Frust seines Helden in bissigen Humor und verpackt ihn in Wortspielereien und Sprachwitz. Er entwickelt eine enorme Bilderlust beim Be- und Umschreiben von Situationen, Gefühlen und Orten – zum Beispiel „Der Wind trägt Fetzen aus Alltag und Vergnügen mit sich herum.“ Oder wo es um menschliche Beziehungen geht: „Wir sind doch kein Bausparvertrag, wo man irgendwelche Felder ankreuzen muss und dann auswertet, ob sich die Anlage lohnt.“ Vor dem Spiegel: „Warum ändert sich alles ständig, nur dieses Gesicht bleibt einfach immer dasselbe?“ „Ich passe nicht in dieses Fortpflanzungs-Stillleben.“ Und in der Praxis der Gynäkologin: „Geballte Heterosexualität und Reihenhausromantik.“

Jakobs hat keine Autobiografie geschrieben, sondern erklärtermaßen einen Roman, und einen durchaus autofiktional anmutenden, sozusagen eine Parabel, mit der sich angesprochen fühlen darf, wer wie Johann den Hindernislauf mit Namen Transition startet, gerade mittendrin ist oder ihn schon als erledigt abgehakt hat. Aber eigentlich – und das wird auf jeder Seite dieses Romans deutlich – spricht er immer wieder in Richtung derjenigen, die wir Mehrheitsgesellschaft nennen, die ihre Wege mit uns kreuzen, weil sie unsere Nachbarn sind, unsere Kolleg*innen, weil sie dieselben Geschäfte und Lokale aufsuchen, am selben Strand liegen und dieselben Pommes-Buden frequentieren. Und die ruhig wissen sollten, wie normal es ist, anders zu sein – und denen hier versichert sei, wie kurzweilig Jakobs genau das erzählerisch gelingt.

Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverband Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Henri Maximilian Jakobs: Paradiesische Zustände; Juni 2023; 352 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-462-00428-1; Kiepenheuer & Witsch; 22,00 €

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