Sozialist bis heute

Willy Brandt war gerade einmal viereinhalb Jahre Bundeskanzler und obwohl er einmal wiedergewählt wurde, ist das im Verhältnis zu anderen Kanzlern relativ kurz. Von vielen seiner damaligen Anhänger 1974 vom Hof gejagt, ist er heute Ikone der deutschen Sozialdemokratie und weißgottwer beruft sich auf den Übervater der SPD.

Gleichzeitig mit Brandt amtierte in einem südamerikanischen Land ein Mann, ebenfalls aus dem linken Spektrum, der dieses als Präsident und Mensch in noch kürzerer Amtszeit, nämlich gerade einmal knapp drei Jahren, bis heute massiv prägte. Auch dieser Mann wurde vom Hof gejagt – allerdings nahm er sich das Leben und was nach ihm folgte, war eine brutale Diktatur, die bis heute dem Land seinen Stempel aufdrückt.

Strahlkraft bis heute

Die Rede ist von Salvador Allende, der 1970 bis 1973 Präsident Chiles war und in einem Militärputsch unter Augusto Pinochet gestürzt wurde. So weit, so gut. Bis hierhin dürfte die Geschichte vielen mehr oder weniger bekannt sein. Was aber hatte jener Allende an sich, dass er bis heute eine solche Strahlkraft auf Chile, Lateinamerika und überhaupt linke Bewegungen in der ganzen Welt hat?

Das – so meine Hoffnung – würde die Lektüre von Günther Wessels Buch Salvador Allende – Eine chilenische Geschichte, das im Ch. Links Verlag erschienen ist, zumindest ein wenig beantworten. Auf rund 220 Seiten zuzüglich informativer Zeittafel, politischer Forderungen von Allendes Unidad Popular, Quellenverzeichnis etc. arbeitet sich Wessel durch das Leben und Wirken von Allende und sehr politischen Familie.

Putsch, Vergangenheit, Erbe

Beginnend beim Putsch am 11. September 1973 sowie anschließend Allendes Herkunft bekommen wir eingangs einen Einblick in die frühe Geschichte Chiles und somit die Startbedingungen, die Salvador Allende bei seiner Geburt 1908 vorfinden sollte. Chile ist ein Land, das reich an Rohstoffen ist: Kupfer und Salpeter zuvorderst, Lithium dürfte ein Stoff der Zukunft sein. „Der Westen“ und allen voran US-amerikanische Firmen haben sich an diesen Bodenschätzen lange bedient.

Über die Jugendzeit und Politisierung, das Familienleben und politische Wirken bis zu seiner Präsidentschaft – Allende wurde erst im vierten Anlauf zum Präsidenten gewählt – arbeitet Wessel die Details des Lebens des Protagonisten heraus. Die Präsidentschaft selbst nimmt nur ein kurzes Kapitel ein, dafür ist die Nachbetrachtung umso ausführlicher. „Die Allendes im Exil“ oder „Der Weg zurück in die Demokratie“ heißen die Kapitel des letzten Drittels etwa. Es geht Wessel hier wohl eher darum, das politische Erbe Salvador Allendes zu illustrieren.

Eine Ikone, ein Mythos

Das nämlich ist, wie eingangs angedeutet, sehr, sehr groß. Von seinen Anhängern wird Allende noch 50 Jahre nach seinem Tod wie eine Ikone gefeiert, für seine Gegner ist er die Hassfigur schlechthin, was wohl auch zu der starken Polarisierung des Landes beiträgt (oder aus dieser resultiert?). Allende, das wird bei Wessel sehr deutlich, war und ist eine umstrittene Figur, aber jemand, der die chilenische Gesellschaft in vielen Punkten entscheidend geprägt hat.

Das liegt aus heutiger Sicht vielleicht gar nicht so sehr an den Reformen, die er angepackt hat. Ein halber Liter Schulmilch oder ein dennoch eher bescheidener Mindestlohn (von der anschließenden Diktatur wieder abgeschafft oder zumindest verwässert) mögen aus heutiger Sicht nicht gerade revolutionär wirken, waren es aber vielleicht vor 50 Jahren. Es scheinen eher die Person und der Mythos Salvador Allendes zu sein, die seinen Einfluss auf Land und Gesellschaft beschreiben.

Familienkult

Oder anders: Es ist ein gewaltiger Personenkult, der um Allende bis heute offenbar gemacht wird und Günther Wessel führt diesen in fast schon hagiografischer Form fort. Auch wenn er sich persönlich überwiegend zurücknimmt, der Bewunderung, der viele erliegen, scheint auch er nicht widerstehen zu können. Kaum ein kritisches Wort gibt es über Allende und die ganze Familie des Präsidenten wird hier einbezogen.

Das fällt nämlich auf: Salvador Allende ist vielleicht Bezugspunkt dieses Buchs, aber Wessel geht deutlich über seinen Protagonisten hinaus. Dessen Frau, Kinder und Enkelkinder, die in sonstigen Biografien eher in kurzen Absätzen oder teils nur Nebensätzen erwähnt würden, erfahren hier sehr viel Aufmerksamkeit. Die Enkeltochter Maya Fernández Allende ist heute beispielsweise Verteidigungsministerin und steht damit ausgerechnet der Institution vor, die für den Putsch gegen ihren Großvater verantwortlich ist.

Heimlicher Star aber ist die Nichte des früheren Präsidenten, die Schriftstellerin Isabel Allende. Sie und ihre Perspektiven tauchen an erstaunlich vielen Stellen auf und ihr allein ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Das ist interessant, wird durch den Titel des Buches doch suggeriert, dass es eigentlich um Salvador gehen solle. Doch was Günther Wessel in diesem an Informationen dicht gepackten Buch eigentlich vorhat, müssen sich die Leserinnen und Leser bar eines einordnenden Vorworts oder einleitender Zeilen doch selbst erschließen.

Unter falschem Titel

Dazu gehört auch, dass es wie gesagt weniger um Allendes tatsächliches Wirken, sondern eher um seine Rolle in der Geschichte Chiles geht. Anders als andere Biografien geht Wessel stark auf die politischen Entwicklungen in den Jahrzehnten nach der Diktatur ein und wie Salvador Allende noch heute dort präsent ist.

Das ist interessant und aufschlussreich, keine Frage, aber irgendwie geht es doch deutlich an dem vorbei, was mensch von einem Buch mit dem Titel Salvador Allende – Eine chilenische Geschichte erwarten würde. Im Gegenteil, nach der Lektüre von Günther Wessels Buch würde ein Vertauschen von Titel und Untertitel deutlich mehr Sinn ergeben: Die neuere Geschichte Chiles – unter besonderer Würdigung des Wirkens des Allende-Clans scheint mir ein Titel zu sein, der viel treffender beschreibt, was der Autor hier macht.

Wie gesagt, inhaltlich ist das überaus informativ und lehrreich und zumindest mir als jemand, der durchaus etwas Kenntnis über Lateinamerika und seine jüngere Geschichte besitzt, hat sich hier ein deutlich intensiveres Verständnis über Chile, die Rolle (der) Allendes für das kollektive Gedächtnis einer ganzen Nation und die Herausforderungen, vor denen diese aktuell steht erschlossen. Aber da ich eine „typische“ Biografie über einen sozialistischen Anführer, der zu Zeiten Fidel CastrosChe GuevarasTitos oder Nikita Chruschtschows lebte und agierte, erwartete, bin ich umso erstaunter, was ich bei der Lektüre von Salvador Allende – Eine chilenische Geschichte tatsächlich vorfand.

HMS

Günther Wessel: Salvador Allende – Eine chilenische Geschichte; August 2023; 256 Seiten, mit Abb.; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-96289-196-1; Ch. Links Verlag; 25,00 €

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