„Polizeiruf 110“: „Jetzt machen Sie aber mal nicht so‘n Drama hier, ja?!“

„Warum sollen wir uns so was ansehen?“ Dies fragte eine Zuschauerin laut Drehbuchautorin Astrid Ströher wohl nach Vorführung des neuen Polizeiruf 110: Nur Gespenster auf dem Filmkunstfestival Schwerin und schob die Antwort sogleich selbst hinterher: „Na ja, es ist ja schon wichtig.“ Das ist wohl so und doch dürften sich diverse Zuschauer*innen an diesem Sonntagabend fragen: Muss das denn sein? Und auch noch in der Vorweihnachtszeit?

Wo‘s wehtut

Dass diese gar blutig zugehen kann, ist bekannt – nicht nur aus Tatort, Krimi-Anthologien und Co., sondern auch der Presse aus dem echten Leben. Spielt hier aber keine Rolle, denn dieser weitgreifende Polizeiruf, der einen Mordfall mit einem Cold Case, den Blick in die Vergangenheit mit Familiendramen und die Gegenwart mit einem möglichen Racheengel verknüpft, spielt eher im Herbst oder so. Und geht dahin, wo es wehtut (was schon der letzte Brasch-Polizeiruf eindrücklich tat).

Die Ermittlerinnen Melly Böwe (Lina Beckmann, l.) und Katrin König (Anneke Kim Sarnau, m.) untersuchen zusammen mit Maria (Dela Dabulamanzi, r.) den Tatort // © NDR/Christine Schroeder

Nachdem ein Arzt ermordet aufgefunden wird, führen intakte DNA-Spuren zu einem Cold Case: dem der seit über 15 Jahren vermissten Jessica Sonntag. LKA-Profilerin Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Kommissarin Melly Böwe (Lina Beckmann) suchen die kindlich-fragil wirkende Mutter Evelyn Sonntag (Judith Engel) auf, um ihr davon zu berichten. Diese war sich in ihrem lichtdurchflutenden Haus sowieso sicher, dass die Tochter noch leben würde. Auch wenn Vater Robert (Holger Daemgen) sie vor einiger Zeit für tot erklären ließ und endlich abschließen möchte.

Ihre Ermittlungen führen Katrin König (Lina Beckmann, r.) als ungebetenen Gast auf eine Feier unter Freunden. (mit Michelle Carstensen (Senita Huskić, M.)) // © NDR/Christine Schroeder

Schwerer zu greifen ist Jessicas Bruder Henrik (sehr erwachsen: Adrian Grünewald, Sløborn, Bester Mann, Im Westen nichts Neues), der sich selten in Rostock aufhält und nach dem Verschwinden der Schwester zu seiner Tante nach München gegeben wurde. König und Böwe haben so ihre Probleme, das Puzzle zu vervollständigen und zu ergründen, wie und warum Jessica damals verschwand. Womöglich könnte ihre Aussteiger-Freundin aus Jugendtagen Michelle (Senita Huskić) eine Hilfe sein, so diese mal für einen Moment einen klaren Kopf hätte…

Der Welt entrückt

Klarer Kopf ist ein gutes Stichwort für Nur Gespenster. Nicht nur beginnt der Film von Andreas Herzog mit einer von Marcus Kanter (Eine Billion Dollar) eindrucksvoll gefilmten Sequenz, die traumähnlich wirkt. Es scheint auch Mutter Evelyn manches Mal beinahe wie in Trance durch die Szenerie zu wandeln, dass sie der Welt zumindest ein Stück weit entrückt ist, ist vom ersten Moment an klar. Ebenso macht Sohn Henrik den Eindruck, immer irgendwo anders zu sein, wenn er sich im Gespräch mit den Kommissarinnen auch fokussiert zeigt, leicht zu irritieren scheint er zu sein.

Klärungsbedarf? Evelyn (Judith Engel) und Sohn Henrik (Adrian Grünewald) // © NDR/Christine Schroeder

Einzig Vater Robert macht einen bodenständigen Eindruck. Dann wiederum scheinen Evelyn und Henrik ihn beinahe zu fürchten. Bedeutet das, dass er mehr von allem weiß? Ist sein Wunsch, seine Tochter möge friedlich gestorben sein, mehr als das? Zuerst ergeben sich, beinahe Sonntagskrimi-typisch, mehr und mehr Fragen, je tiefer König und Böwe graben. (Apropos Graben: Das Team leidet nach dem Weggang Bukows noch immer unter Wachtstumsschmerzen, insbesondere Volker Thiesler (Josef Heynert) schießt hier hart gegen Melly, meint er doch, ihren Posten verdient zu haben. Bis zu einem gewissen Punkt nimmt sie das mit Langmut hin, aber irgendwann reicht es auch ihr. Feine Momente.)

Den Zuschauer*innen was abverlangen

Dieses tiefere Graben allerdings reißt natürlich manch alte Wunde auf. Dass diese jedoch bereits durch die Tötung des Arztes weit geöffnet wurde, wollen einige der Beteiligten lange nicht wahrhaben. Ohne die DNA am Tatort hätte es auch nach einem BDSM-Spiel gone terribly wrong aussehen können. Auch da tut‘s weh. Ein schöner Moment übrigens, als Melly Böwe mal kurz einen Blick in die örtliche SM-Szene wagt. Die Offenheit der Figur bringt Freude.

Bodenständig oder doch den Halt verlierend? Robert Sonntag (Holger Daemgen) // © NDR/Christine Schroeder

Wie es überhaupt manch heiteren Moment in diesem Polizeiruf 110 gibt, der eine im Grunde tieftraurige, zutiefst verstörende, bittere und grausame Geschichte erzählt. Wie Autorin Ströher und Regisseur Herzog es verstehen Licht und Schatten, Klarheit und Irritation, Wunsch und Wirklichkeit miteinander in Einklang zu bringen (und gar die abgeklärte Katrin König aus der Reserve zu locken), ist eine feine Sache. Das klasse Spiel aller Beteiligten, an denen die (Hand-)Kamera Kanters oft sehr nah dran ist, tut das Übrige.

Im alten Zimmer ihrer Tochter führt Evelyn Sonntag (Judith Engel, l.) Katrin König (Anneke Kim Sarnau, m.) und Melly Böwe (Lina Beckmann, r.) zu wertvollen neuen Hinweisen // © NDR/Christine Schroeder

Ein Film also, der sich lohnt, umso mehr wirkt, je weniger mensch im Vorfeld weiß. Daher schließen wir mit Regisseur Andreas Herzog, warum mensch sich das ansehen sollte: „So was gibt es, und man sollte sich damit auseinandersetzen. Ich finde, das kann so ein Film am Sonntagabend schon leisten und das kann man auch vom Zuschauer verlangen.“

AS

PS: „Ja, es tötet sich manchmal nicht so leicht.“

PPS: Im Anschluss zeigt Das Erste erneut den ungewohnt nachdenklichen und sehr sehenswerten Münsteraner Tatort: Des Teufels langer Atem.

Die Ermittlerinnen Melly Böwe (Lina Beckmann) und Katrin König (Anneke Kim Sarnau) // © NDR/Christine Schroeder

Polizeiruf 110: Nur Gespenster läuft am 17. Dezember 2023 um 20:15 Uhr im Ersten, um 21:45 Uhr auf one und ist anschließend für sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.

Polizeiruf 110: Nur Gespenster; Deutschland 2023; Buch: Astrid Ströher; Regie: Andreas Herzog; Bildgestaltung: Marcus Kanter; Musik: Chris Bremus; Darsteller*innen: Anneke Kim Sarnau, Lina Beckmann, Uwe Preuss, Andreas Guenther, Josey Heynert, Judith Engel, Adrian Grünewald, Holger Daemgen, Senita Huskić, Wolfgang Michael, Dela Dabulamanzi; Produktion der Filmpool fiction GmbH im Auftrag des Norddeutschen Rundfunks für Das Erste

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