Ein Preisverleihung voller wichtiger Zeichen

Beitragbild: Die diesjährigen Preisträger:innen des Preises der Leipziger Buchmesse, v. l. n. r.: Anne Weber, Übersetzung, Tomer Gardi, Belletristik, und Uljana Wolf, Sachbuch/Essaysistik. // Foto: © Tom Schulze

Verantwortung zu übernehmen – oft leichter gedacht als gesagt als getan. Da müssen wir nicht nur in den Deutschen Bundestag schauen, in dem es am vergangenen Donnerstag nach einer aufrüttelnden und nachdenklich stimmenden Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Anschluss vor allem darum ging, wer eigentlich für Nichts überhaupt nicht verantwortlich sei. Mensch, toll. 

Verantwortungs-Hula-Hoop 

Am selben Tag, etwa sieben Stunden später, stand in Leipzig die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse an. Dieser wurde trotz Absage der Messe dennoch vergeben, wie auch Leipzig liest trotzdem stattfindet. Parallel die buchmesse_popup, die mal eben von Menschen, die sich wirklich für Bücher und die Leben, die nicht nur in ihnen stecken, sondern auch von ihnen abhängen, interessieren und für sie verantwortlich fühlen, gewuppt wurde.

Davon Verantwortung zu übernehmen, sprach auch die neue Vorsitzende der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse, Insa Wilke, in ihren Eingangsworten in der Glashalle der Leipziger Messe:

„Es ist gut, dass wir heute hier sein können. […] Ich danke an dieser Stelle […] Stadt, Land und Messe und den Verlagen, die sich verantwortlich fühlen und ein Bewusstsein haben, für die Bedeutung einer literarischen Öffentlichkeit, wie sie die Leipziger Buchmesse zuverlässig mit großer Ausstrahlungskraft in die Region, seit Jahren nach Osteuropa, aber auch in den Westen, vor allem auch in Richtung einer jüngeren Generation, hergestellt hat.“

Verantwortung. Auch einen Blick für Langfristiges wagen, nicht nur fiebrig im Jetzt hocken. So leitete Wilke mit einem Buch ein, das manch eine:r in gewissen Verlagen und gewissen Abteilungen schon für allzu veraltet halten dürfte – es erschien schon 2019, das ist also viele, viele Monde her; damals taten wir noch so, als sei Putin mehr ein großer, stänkernder Bruder und der Donbass nur einfach keine Touristenregion. Wilke empfahl das Buch Blauwal der Erinnerung der ukrainischen Autorin Tanja Maljartschuk, übersetzt von Maria Weissenböck: „Zum einen, weil es schon etwas älter ist und ich den Eindruck habe, dass sowohl in unserer Branche als auch im Moment insgesamt wir immer sehr auf den Moment konzentriert sind und es täte uns allen gut, nicht nur das Kurzzeit-, sondern eben auch das Langzeitgedächtnis einzuschalten.“

Die Juryvorsitzende Insa Wilke und ihre Kolleg:innen, v. l. n. r.: Moritz Baßler, Anne-Dore Krohn, Andreas Platthaus, Miryam Schellbach, Shirin Sojitrawalla // Foto: © Leipziger Messe GmbH/Tom Schulze

Sprache sollte differenzieren

Darüber hinaus sei es zu empfehlen, da es differenziere, was sowohl ein Privileg als auch eine Herausforderung sei. Zu differenzieren in der Sprache, etwas, das wir gerade im Moment in der Rhetorik besonders nötig hätten. Auch wenn Wilke sich hier vornehmlich auf die Literatur bezog – die Allgemeingültigkeit dieser Worte dürfte und sollte von kaum jemandem, der noch gut beisammen ist, in Zweifel gezogen werden (uh, das war jetzt aber einen Ticken undifferenziert…).

Kommen wir nun also ganz differenziert zu den drei preisgekrönten Büchern. Die 15 nominierten Titel hatten wir ebenso wie die Jury bereits vorgestellt, sind dabei auch einzeln auf die Kategorien Belletristik und Übersetzung, zu denen es persönliche Vorstellungsrunden im Literarischen Colloquium Berlin gab, sowie Sachbuch/Essayistik eingegangen. Spannend war es in diesem Jahr ganz besonders, da, mit wenigen Ausnahmen, alle Titel besonders, einnehmend und wirkmächtig klingen beziehungsweise es definitiv sind. 

Anne Weber: „Mit dieser Ehrung, würdigt die Jury auch das Übersetzen.“ // Foto: © Leipziger Messe GmbH/Tom Schulze

Insofern dürfen wir sagen, dass die Freude über die drei ausgewählten Preisträger:innen groß, in einem die Überraschung gar riesengroß war und ist, es aber hier keine lauten „Yes!“-Rufe gab, eben da mensch es auch anderen Nominierten unbedingt gegönnt und gewünscht hätte. So zum Beispiel in der Kategorie Übersetzung: Hier gewann die Deutsche Buchpreisträgerin Anne Weber für ihre Übertragung von Cécile Wajsbrots Nevermore (beide waren übrigens in der Glashalle anwesend) völlig zurecht.

„Ein Krimi des Bezeichnens!“

Doch ach, was hätten wir uns auch über eine Auszeichnung für Helga van Beuningens achtsam-atemlose Übersetzung von Marieke Lucas Rijnevelds Mein kleines Prachttier oder für Stefan Moster, der Volter Kilpis Im Saal von Alastalo. Eine Schilderung aus den Schären sprachlich im besten Sinne schwimmend übersetzt hat, gefreut. Anne Weber sagte in ihrer Dankesrede einen ganz entscheidenden Satz: „Mit dieser Ehrung, würdigt die Jury auch das Übersetzen.“ Das stimmt; überhaupt würdigt sie die Möglichkeiten der und das Empfinden von Sprache. Hier einmal die Jurybegründung zur Auszeichnung Webers, vorgetragen von Anne-Dore Krohn die Katharina Teutsch vertrat, die kurzfristig erkrankt war (nicht Corona!):

„Eine französische Autorin, die auch Übersetzerin ist, übersetzt ‚To the Lighthouse‘ von Virginia Woolf. Sie wird ihrerseits übersetzt von Anne Weber, einer Deutschen, die ebenfalls Schriftstellerin ist. Was diese drei Frauen hier aufführen, das ist ein Krimi des Bezeichnens! Doch wo ist das Bezeichnete eigentlich? ‚Jedes Ding verbirgt ein ander[e]s‘, liest man in Anne Webers Worten bei Cécile Wajsbrot. Und so führt sie uns im Flüsterton dreier Sprachen ein in ein Reich der Abwesenheiten: in das ausgebombte Dresden, die im Krieg zerstörte Kathedrale von Coventry, das verseuchte Gebiet um Tschernobyl und zur Industrieruine der High Line in New York. Etwas lebt an diesen Orten, das sich immer wieder entzieht. So wie das Original sich dem Übersetzer entzieht. Gespensterorte und – Gespensterworte. Anne Weber, herzlichen Glückwunsch zu diesem ‚Roman Noir‘ der Übersetzungskunst. Herzlichen Glückwunsch auch zum Preis der Leipziger Buchmesse.“

Wer übersetze, so der Sprecher der Geschäftsführung der Leipziger Messe, Martin Buhl-Wagner, sei in mehreren Welten zuhause, etwas, das wir gerade jetzt bräuchten. Wie recht er doch hat und wie exemplarisch dafür auch Nevermore, das im Wallstein Verlag erschienen ist, letzten Endes steht. Im Grunde ist es doch irgendwie bitter, dass immer erst Krisen vor unserer Tür oder gar schon im Flur stehen müssen, um uns begreifen zu lassen, dass weder solitär noch patzig funktionieren. Andererseits hamstern wir nun Sonnenblumen- und Rapsöl und streiken wohl bald vor Tankstellen, was heißt also schon „begreifen“?!

„Übermütige Wortgewitztheit und Assoziationsfreude“

Zumindest was Wortherkunft und Interpretationen angeht, dürfte uns Uljana Wolf da sicherlich die eine oder andere Hilfestellung bieten, dies sicherlich gar ein wenig augenzwinkernd. Immerhin ist sie mit ihrer Essaysammlung Etymologischer Gossip. Essays und Reden ausgezeichnet worden; ganz begeisternd und überraschend und begeistert und überrascht (wirklich, seht euch die Freude in der Aufzeichnung an – fantastisch!). Wolf dankte all ihren Gesprächspartner:innen, schließlich hören sie ja eigentlich immer nur zu. Sie dankte, dankenswerterweise, ihrem Gestalter Andreas Töpfer und den kookbooks-Menschen. Und sie betonte, die Wichtigkeit von poetischem, vielsprachlichem Denken, das eben auch sehr politisch sei. Oder anders: Lyrik ist nicht belangloser Kitsch, ihr Dödel.

Uljana Wolf (li.) ist voll überraschter Freude (im Hintergrund in blau: Katerina Poladjan) // Foto: © Leipziger Messe GmbH/Tom Schulze

FAZ-Feuilletonchef Andreas Platthaus, der eine famose Jackett-Situation rockte, in der Laudatio:

„Uljana Wolf hätte in allen drei Kategorien für unseren Preis nominiert werden können, und in allen drei auch mit diesem einen Buch, denn das ist sehr vereinfacht gesprochen ein Sachbuch übers Übersetzen von Lyrik – allerdings höchst komplex geschrieben von einer Poetin, die auch als Übersetzerin renommiert ist. Wolfs ‚Etymologischer Gossip‘ bietet denn auch sowohl hinreißende Gedichte als auch brillante Übertragungen aus anderen Sprachen. Doch gewonnen hat der Band zu Recht in der Sparte Sachbuch, denn diese Lebensthemensammlung seiner Verfasserin ist ein Musterbeispiel für Essayistik. Und geradezu übermütig sind Wortgewitz[t]heit und Assoziationsfreude, mit denen Uljana Wolf ans Werk geht. Dieses Sachbuch ist nicht zuletzt ein Lachbuch: Wer wissen möchte, wie eine fröhliche Sprachwissenschaft sich liest, der hat damit die geeignete Lektüre zur Hand. Ihrem ‚Etymologischen Gossip‘ möchte man gar nicht mehr aufhören zu lauschen.“

„Verblüffende sprachliche Triftigkeit“

Nicht mehr aufhören zu lesen wollte unser Rezensent in Tomer Gardis formalem und erzählerischem Experiment Eine runde Sache, das im Grunde aus zwei Büchern besteht, die so rund nicht sind, aber gerade durchs Kantige beeindrucken. Mehr dazu wie auch dazu, warum hier der Jurybegründung in puncto „Kunstsprache“ widersprochen werden darf, in der demnächst erscheinenden Besprechung. Einstweilen Shirin Sojitrawalla für die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse:

„Unverschämt, dieser Tomer Gardi. Den ersten Teil seines Romans erzählt er nicht in astreinem Deutsch, sondern in einer Kunstsprache mit eigenartiger Rechtschreibung und merkwürdigem Satzbau. Broken German. Es gibt einen zweiten Teil, oder besser: Es gibt den Roman doppelt. Jetzt hat Tomer Gardi ihn auf Hebräisch geschrieben. Anne Birkenhauer hat ihn ins Deutsche übersetzt. … ‚Eine runde Sache‘ ist ein Schelmenstück. Wirklichkeit und Fiktion prallen darin aufeinander wie das Echte und das Gemachte. Dabei spielt Gardi ebenso kunstvoll wie dreist mit Lesegewohnheiten und Erwartungen an einen Roman, zumal an einen deutschsprachigen. ‚(…) ein Schriftsteller ist jemand, der Schwierigkeiten hat mit die deutsche Sprache‘, schreibt er und hinterfragt unser Bedürfnis nach Korrektheit und Geradlinigkeit ebenso wie ästhetische Normen. Dahinter lauert die bittere Frage, wie es einem Menschen überhaupt gelingen kann, seine eigene Sprache zu finden. Kurzum: ‚Eine runde Sache‘ ist ein großzügiger Roman von hoher sprachlicher Präzision.“

Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung und die Juryvorsitzende Insa Wilke übergeben Tomer Gardi Preisurkunde und Vasensalat // Foto: © Leipziger Messe GmbH/Tom Schulze

Gardi sagt in seiner Danksagung, dass er eigentlich gar nicht dort stehen wolle, nichts vorbereitet habe, dies alles ein wenig zu viel sei. Freute sich aber im Sinne des Literaturverlags Droschl: „Zwei Mal hintereinander, nicht schlecht“ (vergangenes Jahr ging der Preis für Belletristik an Iris Hanika für ihr Buch Echos Kammern, ebenfalls bei Droschl). Schließlich sprach er noch seine Solidarität für die Ukrainer:innen aus, die gerade Opfer von Putins völkerrechtswidrigem Angriffskrieg sind, ebenso solidarisierte er sich mit allen anderen Unterdrückten und von Besatzung Betroffenen. Als israelischer Staatsbürger auch mit den Menschen in Palästina.

Dresscode: Business accountable 

So war die Verleihung so politisch wie ein Großteil der für die Shortlist ausgewählten Bücher. Unsere Freude, dass hier Bücher von, zu und über Sprache, deren Möglichkeiten und politischer sowie gesellschaftlicher Wirkung ausgezeichnet wurden, ist riesig groß. Regelmäßige the little queer review-Leser:innen werden sich das gedacht haben. Dass es sich um Bücher aus Indie-Verlagen handelt, ist ebenso ein kleines, feines Zeichen.

Überrascht waren wir aber vor allem von der Auszeichnung Tomer Gardis, da wir hier recht fest mit Heike Geißler und Die Woche gerechnet hatten; ebenfalls ein hochpolitisches Buch, das auf mehreren Ebenen mit der Welt, ihrer Verzerrung und Verzettelung, auch Sprache, Macht und Ohnmacht, Taubheitsgefühlen und sonstnochwas jongliert. Beide Bücher sind so unterhaltsame wie lehrreiche und gehaltvolle Experimente. 

Die drei ausgezeichneten Titel: Etymologischer Gossip; Nevermore; Eine runde Sache // Foto: © the little queer review

Dass diese Verleihung von allen Sprechenden, neben den bereits Genannten auch dem Direktor der Leipziger Buchmesse, Oliver Zille, der Sächsischen Staatsministerin für Kultur und Tourismus, Barbara Klepsch und dem Leipziger Oberbürgermeister, Burkhard Jung (der irgendwie auch so ein wenig wie der Schurke eines Tatorts aussieht), genutzt wurde, um auf die Notwendigkeit einer solchen Institution, Veranstaltung und Verleihung hinzuweisen, freut. Es hilft hoffentlich auch, in Büchern nicht nur das Geschäft, sondern auch die Verantwortung zu erkennen. 

Um nun also leicht abgewandelt mit der Juryvorsitzenden Insa Wilke zu schließen: Lest!

Eure queer-reviewer

Hier die Seite zum Preis der Leipziger Buchmesse und hier die lohnenswerte Aufzeichnung der Veranstaltung.

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