Eins vorweg… Nein, zwei Dinge vorweg: Knapp drei Stunden müssen nicht langatmig sein. Und: So ungut John Wick: Kapitel 3 — Parabellum in vielerlei Hinsicht war, der vierte Teil der Gun-Fu-Reihe, der nun noch um Car-Fu erweitert wird, lässt das gut und gern und mit viel BANGBANG vergessen. Und damit ein großes Willkommen zu unserer Besprechung von John Wick: Kapitel 4, der mit beinahe zwei Jahren Verspätung (Danke, Corona und effing The Matrix Resurrections!) endlich in unsere Kinos kommt.
Keine Chance, Nein zu sagen
Wir wollen uns gar nicht allzu lange mit einer ausschweifenden Handlungsbeschreibung aufhalten. Erinnern wir uns kurz daran, dass der dem von Keanu Reeves stoisch aber nicht emotionslos gespielten John Wick zugetane Leiter des New York Continental Hotels Winston Scott (Ian McShane) diesen am Ende des dritten Teils verriet/verraten musste und von seiner Dachterrasse schoss. Nun wird der exkommunizierte Wick hier und dort für tot gehalten. Dass er dies nicht ist, sehen wir direkt zu Beginn, als Wick durch die Wüste Marokkos reitet (und ja: Reeves reitet selber und hat dafür natürlich lange Unterricht genommen), Leute wegballert und schließlich den Elder tötet. Die einzige Person, die über dem High Table (bzw. in der deutschen Synchronisation der Hohen Kammer) steht.
Nun ist also bekannt, dass der Totgeglaubte doch noch länger lebt. Dies bringt den Marquis de Gramont (hach: Bill Skarsgård) ins Spiel, der von den furchtsamen Herrscher*innen über alle Auftragskiller*innen von der Leine gelassen wird, um dafür zu sorgen, dass John Wick endlich wirklich stirbt (das erinnert ein wenig an James Bond — Tomorrow Never Dies: „You expect me to talk?“ —„No Mister Bond, I expect you to die.“). Dieser wiederum beauftragt den blinden Freund Wicks, Caine (Donnie Yen), damit, ihn ausfindig und unlebendig zu machen. Der zögert, weil alter Weggefährte und derlei, hat aber natürlich keine Chance „Nein“ zu sagen.
Mann gegen Personen
Es kann also losgehen und dieses Mal entfernen wir uns aus New York (das in diesem vierten Wick-Film gleich zu Beginn eines, nein zwei, Wahrzeichen verliert) und sind neben Marokko noch in Osaka, Berlin und Paris unterwegs. Mal ober- und mal unterirdisch. Natürlich bleibt es nicht dabei, dass nur Caine Jagd auf Wick macht. Ebenso sucht ein Tracker (stark: Shamier Anderson) gemeinsam mit seinem waffenfähigen Hund nach ihm und wartet nur darauf, dass das Kopfgeld in die Höhe schießt. Der Marquis schickt seine rechte Hand Chidi (Marko Zaror), um nach dem Rechten zu sehen und natürlich kommen, wie in einem guten Video-Game, unzählige mehr oder minder unvorhergesehene Herausforderungen auf John Wick zu.
Am Ende wird dies alles in einem Duell enden, so viel sei verraten. Das wiederum ein anderes Ende nehmen mag als gedacht. Das ist insofern charmant, als dass die Macher*innen um Regisseur Chad Stahelski, die Drehbuchautoren Michael Finch und Shay Hatten sowie Produzent Keanu Reeves sich auch wieder ein wenig auf die von Derek Kolstad ersonnenen Wurzeln beziehen: Mann gegen Mann, Wort gegen Wort, Ehre für Ehre. Oder so. Natürlich türmt sich davor ein Bodycount auf, der ins nahezu Unermessliche steigt. Ein großes Killfest, wenn auch ein weniger blutiges als in den zwei vorhergehenden Teilen (wer so richtig arg blutig mag, sei an das Project Wolf Hunting verwiesen).
Nuancierte Schauwerte
Neben bekannten Figuren wie erwähntem Winston, seinem Concierge Charon (RIP Lance Reddick, ihm ist John Wick: Kapitel 4 nun gewidmet), dem herrlichen The Bowery King (Laurence Fishburne) treffen wir wie üblich auch reichlich neue Gesichter. Wenn es sich dabei um Caine handelt oder einen letzten Verbündeten Wicks, den Leiter des Osaka Continental Shimazu (Hiroyuki Sanada, in Bullet Train The Elder) und dessen Tochter Akira (Sängerin Rina Sawayama, die nicht nur den Song zu ihrem Debüt–Film beisteuert, sondern auch für eine Weiterführung ihrer Figur taugen würde), gelingt die Einführung durchaus so, dass es uns erklärlich ist, wieso und woher hier eine Verbindung besteht.
Das mag überhaupt faszinieren (und hatten auch schon die Teile eins und zwei für sich): Bei allem Lärm, aller Gewalt, allem Krach-Boom-Bang — nicht wenige Dialoge sind durchaus nuanciert. Und dass der weltmännische Winston für gewohnt trockenen und hintergründigen Humor sorgt, währenddessen Fishburnes Bowery King garstig über die nicht absolut hoffnungslose Schlechtigkeit der Welt herzieht, weiß durchaus zu gefallen. So gibt es neben allem Misstrauen ebenso Brüderlichkeit.
Natürlich kommen wir dennoch primär der Schauwerte und eines allen Widerständen trotzenden Keanu Reeves (etwas, das auch in einer quasi parallel zum Wick-Kinostart auf arte laufenden Dokumentation über den Mimen Erwähnung findet; die Besprechung findet ihr hier) wegen. Und wir bekommen es. Oh, was bekommen wir es hier! Es wird wild geritten, gefahren, gehangen, gewässert, geschossen, gebissen, gefallen, gerollt, gesprungen und geschmissen. Dieses Mal jedoch unter dem veränderten Vorzeichen, dass Wick nicht davonzulaufen versucht, sondern im Gegenteil auf die Hohe Kammer zurennt. Sein Ziel ist das Ausschalten der Mitglieder und des Marquis.
Ein Bösewicht zum Verlieben
Kurz zu diesem neuen Schurken unter Ganoven, der in seiner abartigen Eleganz und seinem arroganten Drang nach mehr Vernichtung so abstoßend wie anziehend ist. Das ist natürlich vor allem Bill Skarsgårds (The Devil All the Time) pointiertem Spiel zu verdanken, der es schon schaffte, den Clown im mäßigen IT-Remake derart sexy zu verkörpern, dass zumindest ich ihm jederzeit in die Kanalisation gefolgt wäre. Hinzu kommen die Entscheidungen des Oscar-nominierten Kostümdesigners Paco Delgado: An den glamourösesten Orten (im Louvre, dem Louis Vuitton Museum, dem Palais du Trocadéro, …) hält er seine Meetings in opulenten Anzügen ab. Während im John Wick-Universum sonst primär schwarze (Kevlar-)Anzüge zu sehen sind, trägt der Marquis weiß, silber oder roten Samt, ergänzt um Goldpailletten, Glitzer, Tücher, …
Ein ähnlicher Aufwand wurde — erneut — in die Suche nach beziehungsweise den Bau von Locations gesteckt. Um eine seiner Challenges auf dem Weg der Rache und Befreiung zu lösen, soll Wick den Gangster und Killer Killa (nahezu unkenntlich: Scott Adkins) erledigen. Dazu muss er in dessen Nachtclub, für dessen Außenbereich die Alte Nationalgalerie in Berlin herhält. Für das Interieur wurden ein mehrgeschossiges Set im Kraftwerk-Club errichtet, bestehend aus Wasserfällen, Feuerstellen und mehr. Das ist bombastisch!
„Das hat es so noch nicht gegeben“
Eine aufpeitschende, lange und grandiose Action-Sequenz die am Arc de Triomphe de l’Étoile spielt (und alle Klimakleber neidisch werden lassen dürfte) wurde hingegen auf dem stillgelegten Flughafen Tegel gedreht und wir meinen, dass für eine weitere, die in der Pariser Innenstadt angesiedelt ist, die Gegend um den Berliner Gendarmenmarkt genutzt wurde. Eine noch! Es gibt eine famose Sequenz in einem leerstehenden Apartment-Komplex (wir vermuten, dass diese in den Beelitz-Heilstätten gedreht wurde, wissen es aber nicht; es kann in der Tat auch ein leerstehendes Gebäude in Frankreich sein). Die komplette Schlacht sehen wir dabei wie via eines Allsehenden Auges — der französische Stunt-Koordinator und Kampf-Choreograph Laurent Demianoff hat recht, wenn er sagt: „Das ist etwas, das wir noch nie zuvor auf dem Bildschirm gesehen haben.“
Dem kann nicht widersprochen werden — und es beeindruckt wahrlich ungemein. Ebenso ist es nachvollziehbar, dass viele internationale Crew-Beteiligte, wie auch Produzent*innen und Co. sich dafür auf die Schulter klopfen, dass es hier mehr als eine Handvoll Momente gibt, die das Kawumm-Herzstück vieler anderer Action-Thriller wären. Die John Wick-Reihe, diese eskapistische „Oper des Irrsinns“ funktioniert eben nach anderen Maßstäben. Konstant begleitet durch die präzisen Klänge von Tyler Bates und Joel J. Richard erhöht sich die Sogwirkung noch um einiges. Umso willkommener ist es, dass wir am Ende vor der Sacré-Cœur de Montmartre ein etwas stilleres und doch sehr spannendes und aufwühlendes Finale zu sehen bekommen (sitzenbleiben bis nach dem Abspann!).
Wir fiebern also auch in diesem John Wick: Kapitel 4 wieder mit John. Aber auch einigen anderen, die allesamt keine Helden, sondern kaltblütige Killer sind, dabei aber (zumeist) immerhin bemüht einem gewissen Ehrenkodex zu folgen. Wir jedenfalls saßen auf „WOW“, nur unterbrochen ob manchen Lachers zwecks eines guten Witzes oder einiger Absurdität, zurückgeworfen in den Kinosesseln und haben diese Bombastschlacht, die nicht mehr will, als gut zu unterhalten und dabei die Maßstäbe und den Blick auf das Action-Kino zu verändern, genossen. Sie tat gut.
AS
PS: Es ist spannend, wie viel in dieser Killer-Organisation an religiöse und sakrale Elemente, an Geheimbünde und Sekten erinnert (jaja, sowieso alles Eins).
PPS: Sven Marquardt sagt: „I am Klaus.“
PPPS: John Wick und John Wick: Kapitel 3 sind derzeit alle auf joyn verfügbar. Zu finden unter „Filme“.
John Wick: Kapitel 4 startet am 23. März 2023 in unseren Kinos.
John Wick: Kapitel 4; USA 2023; Drehbuch: Michael Finch, Shay Hatten; Regie: Chad Stahelski; Bildgestaltung: Dan Laustsen; Musik: Tyler Bates, Joel J. Richard; Darsteller*innen: Keanu Reeves, Donnie Yen, Bill Skarsgård, Laurence Fishburne, Hiroyuki Sanada, Shamier Anderson, Lance Reddick (†), Rina Sawayama, Scott Adkins, Clancy Brown, Ian McShane; Laufzeit: ca. 169 Minuten; FSK: 18; im Verleih der LEONINE Distribution GmbH im Kino ab dem 23. März 2023
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