Die Kunst des Trauerns oder Trauer als Kunst

Es waren einmal drei Schwestern in Hamburg bis die jüngste von ihnen dem Heroin verfiel, spurlos verschwand und nie wieder auftauchte. Wie gehen wir mit Verlust und Trauer um? Can Mayaoglus Debütroman Nadia versucht, darauf eine Antwort zu geben.

Von Nora Eckert

Nadia ist die mittlere der drei Schwestern. Sie befindet sich gerade im Flugzeug auf dem Weg nach Hamburg, um dabei zu sein, wenn ihre Installation in einer der Deichtorhallen aufgebaut wird. Sie hat den Aufstieg zu einer international beachteten Konzept- und Installationskünstlerin geschafft. Das Projekt trägt den rätselhaften Namen STIP und ist eine Hommage an ihre verschwundene jüngere Schwester Dilhan, die ihre verhängnisvolle Lebenseinstellung tätowiert auf ihrer Haut trug: „I could live a little better with the myths and the lies.“ Dilhans Lüge trägt den Namen Heroin.

Nachdem STIP schon an anderen Orten der Welt zu besichtigen und zu begehen war, denn es ist als ein überdimensionaler Traueraltar für Dilhan ein raumfüllendes Environment, zusammengesetzt aus begehbaren Kuben, Wegführungen, Licht, Musik, umgeben von Dilhan-Bildern, soll nun Hamburg als Ausgangspunkt des Dramas zugleich die letzte Station sein und mit der symbolischen Zerstörung der Rauminstallation enden. So ist der Plan.

Nadia hat den Verlust von Dilhan nie verwunden, glaubt sich schuldig an deren Absturz. Zu allem Unglück gibt es noch einen weiteren Verlust, nämlich den ihrer einst großen Liebe zu Rahel. Aber die hat Nadia selbst aufgegeben, um damit gleich auch noch ihrer Heimatstadt Hamburg für Jahre den Rücken zu kehren. Wobei auch hier der Verlust Dilhans zum Auslöser für Nadias Ausstieg aus der Beziehung zu Rahel wird.

Warum aber gibt Nadia ausgerechnet im Moment der tiefsten Krise das Wertvollste in ihrem damaligen Leben auf, nämlich Rahels Liebe? Sucht man dann nicht eher Halt und Sicherheit? Wohl nicht, wenn man wie Nadia auf den Verlust wie eine Kränkung des eigenen Egos reagiert und die egomanische Inszenierung des eigenen Leidens im Zentrum steht. Dazu passt, was ich neulich las: „Need a friend? Call your Ego“. Aber das Ego kann auch der falsche Freund und Ratgeber sein. Oder hilft in einer solchen Situation gar Hamlet? Nadia nennt es vielsagend als ihr Buch für die einsame Insel.

Mit dieser Ausgangslage setzt die Autorin vor allem auf Stoff für psychische Belastungsproben aller Art. Schon dass Nadia für ihre Trauerarbeit ein riesiges Publikum benötigt, spricht Bände. Hinzu kommt, Nadia ist launisch und in ihren Launen tyrannisch. Und wie alle Menschen dieses Charakters selbstgefällig und selbstgerecht. Dass sie sich ständig unverstanden fühlen und auf Angriff abonniert sind, versteht sich von selbst. Bevor Nadia andere um sich herum überhaupt wahrnimmt, hat sie mindestens hundertmal „Ich“ gesagt. Mit anderen Worten: Sie nervt. „Du willst nicht zuhören, sondern nur Dampf ablassen“, heißt es an einer Stelle. Zu erkennen ist auch, dass wir durch unsere Launen uns selbst und die anderen zu manipulieren versuchen.

Nadia ist eine Art „Knacks-Mensch“. Was so ein Knacks alles sein kann, beschrieb vor vielen Jahren Roger Willemsen, was wiederum der Literaturkritiker Thomas Steinfeld in seiner Besprechung für die Süddeutsche Zeitung ziemlich spitz so kommentierte: „Der ‚Knacks‘ ist eine rücksichtslose, ja totalitäre und zynische Veranstaltung. Der Tod des Vaters, die schlechte Berufswahl, das private Unglück – alles, worauf es bei ihm ankommt, zielt auf dasselbe: auf die rigorose Privatisierung des Leidens, auf den Genuss des Scheiterns, auf das Herumlutschen an der Niederlage als dem letzten Reservat persönlicher Sinngebung.“

Das könnte ein triftiges Argument gegen den Roman sein. Denn, so wie Nadia ihre Umgebung nervt, so hat sie mich als Leserin genervt – wäre da nicht die Autorin, die ihrer Heldin zum Ende hin schließlich doch so eine Art Katharsis gönnt, ein Innehalten, ein Infragestellen der eigenen Position. Jedenfalls erhält Nadias egozentrisches Denken und Fühlen einige Kratzer. Es gibt also auch die wachen Momente des Erkennens. Zu sehen ist dann ebenso, dass das Authentisch-Sein keineswegs heißt, die sozialen Regeln zu ignorieren. Im Gegenteil.

Ein Dauergast im Roman ist das Hamburger Schietwetter und ebenso Marcel Proust, der hie und da von einem offenkundig kulturaffinen und bildungsbürgerlich konditionierten Romanpersonal zitiert wird. Auch Christopher Nolan darf ein Idol im Roman sein. Etwas anderes als gehobene Lebensverhältnisse lässt sich wohl nicht mit Hamburg in Verbindung bringen. Nur die Taxifahrerin Cagney, die Nadia durch Hamburg chauffiert, vertritt sozusagen Volkes Stimme und teilt mit Nadia mal eben ihre Pausenstulle samt den einfachen Wahrheiten und Lebensweisheiten. Ansonsten bewegen wir uns in exquisiten Hotelzimmern, in großen (sicherlich geschmackvoll eingerichteten) Wohnungen oder in einer Penthouse-Wohnung. Wenn Minoo, die ältere Schwester Nadias zum Essen einlädt, darf es nicht einfach nur Baguette sein, was auf den Tisch kommt, es muss „französisches Landbaguette“ sein und selbstgebacken, bien sûre. Und wo es um die Lammkeule geht, heißt es: „Wie sich der Ingwer über den Kreuzkümmel legt, nicht penetrant, sondern komplementär, wie ein Tanz, das ist einfach …“

Doch im Ernst: Mayaoglus Debütroman, erschienen im Albino Verlag, ist keine leichte Kost und es gab nicht wenige Stellen, wo ich dem Knacks-Menschen Nadia gewünscht hätte, komm endlich auf dem Boden der Realität an, um ihr „Fick dich!“ als Antwort an sie zurückzugeben. An einer Stelle meint Rahel zu Nadia: „Die Sache mit uns ist eigentlich ganz einfach: Du bist verschroben und ich bin kompliziert.“ Herausgekommen ist eine literarische Psychotherapie, verbunden mit der Einsicht, dass die wahren Heldinnen in dem Roman die beiden Frauen Rahel und Minoo sind, weil sie es mit dem Leben aufgenommen haben, anstatt wie Nadia vor ihm zu fliehen.

Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverband Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

Can Mayaoglu: Nadia; April 2023; 264 Seiten; Hardcoverm, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen; ISBN 978-3-86300-355-5; Albino Verlag; 24,00 €

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