(Bei) Moskau an der Leine

Die wohl größte Fehlleistung deutscher Außenpolitik der letzten Jahrzehnte ist die Russlandpolitik. Ja, Deutschland und Russland teilen eine enge Vergangenheit, wahrscheinlich enger als die meisten europäischen Staaten. Katharina die Große kam aus dem heutigen Sachsen-Anhalt und hat Russland zu dem gemacht, was ein gewisser Wladimir Putin heute als einzig würdigen Maßstab für ein russisches Imperium des 21. Jahrhunderts nimmt.

Willfährige Helferlein

Dabei hatte und hat der gute Mann willfährige Helfer in den Etagen der Bosse, Genossen und darüber hinaus. Mit einer Russlandverklärung, die, wenn sie wenigstens unter dem permanenten Einfluss von Halluzinogenen zustande gekommen wäre, zumindest eine plausible Erklärung hätte, haben die Verantwortungsträger (fast alles Männer) der vergangenen Jahrzehnte DeutschlandEuropa und vor allem die Ukraine in eine Situation manövriert, die selbst euphemistisch nur als riesengroße Scheiße bezeichnet werden kann. 

Was hier geschehen ist, wer sich aus welchen Gründen und mit welchen Anreizen zu solch einem willfährigen Helferlein Moskaus und Putins hat machen lassen, das arbeiten die beiden FAZ-Journalisten Reinhard Bingener und Markus Wehner in ihrem Buch Die Moskau-Connection – Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit, das im Frühjahr 2023 bei C. H. Beck erschienen ist, exzellent heraus.

Von Hannover in den Osten

Vier Aspekte nehmen sie auf den ersten knapp 100 Seiten in den Fokus, bevor sie in drei Episoden die Russlandpolitik Deutschlands analysieren. Sie beginnen mit dem Aufstieg und dem Netzwerk des späteren Bundeskanzlers Gerhard Schröder in der SPD, seiner Heimatstadt Hannover und in so manch russische Kreise. Vor allem Bingener als Korrespondent seiner Zeitung aus der niedersächsischen Landeshauptstadt dürfte an diesem Kapitel wesentlichen Anteil gehabt haben.

Danach geht es um Putin, seinen Werdegang und darum, wie er den Apparat in Moskau auf seine Linie brachte. Sie räumen im dritten Teil mit dem Mythos der sozialdemokratischen Ost- und Entspannungspolitik auf und zeigen, wo diese ihre Lücken hat(te). Und es geht darum, wie Pipelines, Gas und Gazprom zur perfekten Waffe im russischen Hegemonialstreben gegenüber dem Westen wurden. Hierauf baut dann die dreiteilige Analyse deutscher Russlandpolitik auf (1998 – 2013, 2013 – 2021 sowie seit dem Überfall auf die Ukraine).

Hühneraugen zudrücken

Was Bingener und Wehner hier machen, ist in großen Teilen der interessierten politischen Öffentlichkeit bekannt. Dass Schröder und seine SPD gerne einmal all ihre Augen (inklusive Hühneraugen) zudrückten – dies teils bis heute tun –, ist kein Geheimnis. Dass diese absurde Russophilie aber deutlich über Schröder hinausgeht und sich rund um den Altkanzler ein Netzwerk an Moskau-Getreuen gebildet hat, das bis heute in verantwortlichen Positionen sitzt, dürfte nicht jedermann und -frau bekannt sein. 

Die früheren Außenminister Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier beispielsweise tragen als Schröder-Jünger eine wesentliche Mitverantwortung an der heutigen Situation. Gerade das erklärt noch einmal die Posse um den heutigen Bundespräsidenten Steinmeier, der lange Zeit in der Ukraine nicht willkommen war – sehr nachvollziehbar. Aber auch über die beiden hinaus gab und gibt es in der SPD ein Netz an Verantwortungsträgern in der SPD, die mit Russland und Putin arg unkritisch umgingen und -gehen. Manuela Schwesig und ihre Fake-Stiftung tauchen hier ebenso auf wie ihr früherer Ministerpräsidentenkollege und Russlandfreund Matthias Platzeck, Gabriels Amtsnachfolger als Ministerpräsident in Hannover, Stephan Weil oder der vor exakt drei Jahren verstorbene Thomas Oppermann.

Auch du, CDU?

Natürlich sind es nicht nur SPD-Leute, die fragwürdige Beziehungen nach oder Positionen zu Moskau haben. In der Union gibt es genügend Leute, die hier seltsame Interessen verfolg(t)en. Der verstorbene Philipp Mißfelder ist zu nennen, aber auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer – wobei letzterer erstaunlicherweise in Die Moskau-Connection gar nicht auftaucht.

Und natürlich trägt auch Angela Merkel als 16-jährige Bundeskanzlerin eine gewisse Mitverantwortung für die Politik der letzten zwei Jahrzehnte. Ihr Festhalten am Diktum eines „rein wirtschaftlichen Projekts“ Nord Stream 2 war von Anfang an wenig glaubwürdig. Bingener und Wehner werden bei ihr und der Bewertung ihrer Rolle aber seltsam schwammig und können das mit weniger Fakten unterlegen als bei den SPD-Kollegen. Von der Linkspartei und der AfD ist ohnehin kaum eine Rede in dem Buch, muss auch nicht, denn die Verstrickungen dieser beiden Parteien bedürften zwar einer weiteren Aufarbeitung, aber sind in diesem Fall wohl in der Tat vernachlässigbar.

Was fehlt?

Vernachlässigbar wären vielleicht auch zwei oder drei andere Punkte gewesen. Da geht es an einer Stelle beispielsweise um die Beziehungen Schröders zu so manchem Künstler, der ein Kirchenfenster in Hannover entworfen hat (das aufgrund von Putins Angriff gegen die Ukraine nicht eingebaut wurde und die Kirchengemeinde nun wohl auf den Kosten sitzengeblieben ist), eine kurze Posse um den Drogerietycoon Dirk Rossmann oder Sigmar Gabriels Beratertätigkeiten für Clemens Tönnies.

Beide Passagen dienen zwar in der Tat der Veranschaulichung von Schröders Verstrickungen und Netzwerk, wirken aber fast ein wenig implantiert und verhältnismäßig wenig gut recherchiert. Es sind nette Beispiele, die einige der vorherigen Punkte untermauern, aber hierauf oder auf manch andere Kleinigkeit hätten die Autoren im Zweifel auch verzichten können.

Worauf sie stattdessen tiefer eingehen hätten sollen und können, ist, welche politischen Vorhaben die Anhänger der Moskau-Connection in der SPD noch verhindert haben. Dass die Bundeswehr lange unterfinanziert war, wird beispielsweise den Unions-Verteidigungsministerinnen und -ministern sowie der Kanzlerin angelastet – und selbstverständlich tragen sie hierfür die politische Verantwortung. Dass es aber die seit 1998 mit Ausnahme von vier Jahren permanent an der Macht befindliche SPD war, die viele, viele Projekte verzögert oder verhindert hat, wird oft vergessen und könnte auch bei Bingener und Wehner noch deutlicher hervorgehoben werden.

„Herzlich willkommen!“

Das heißt nicht, dass Die Moskau-Connection dadurch schlechter würde, ganz im Gegenteil. Das Buch von Reinhard Bingener und Markus Wehner ist eine grandiose analytische Leistung des Netzwerks um Gerhard Schröder und der Clique, die um ihn herum die Moskau- und Putin-Verklärung in der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft vorangetrieben hat. Gerade die SPD hat hier einiges an Aufarbeitungsbedarf, sitzen mit Lars Klingbeil oder Stephan Weil doch bis heute Männer aus dem Raum Hannover/Niedersachsen in verantwortlichen Positionen der Partei.

Diese Seilschaften rund um die niedersächsische Landeshauptstadt decken die beiden Autoren sehr gekonnt auf. Auch wenn es – das sei noch einmal gesagt – nicht nur Verbindungen aus der SPD nach Moskau gibt, gerade die Kanzlerpartei hätte hier einiges aufzuarbeiten. Dass das vermutlich niemals geschehen wird, weil die SPD ihre Niederlagen und Fehler nie aufarbeitet, lässt die Tradition der Partei erwarten.

Dass jemand wie Schröder weiterhin Mitglied der SPD ist, hat zwar vor einem Jahr für viel Wirbel gesorgt, interessiert heute aber niemanden mehr. Stattdessen wird Schröder morgen Abend vom SPD-Bezirk Hannover für 60 Jahre Parteimitgliedschaft und seine „Verdienste“ geehrt. Wir schließen daher mit den Worten des früheren SPD-Vorsitzenden Kurt Beck: „Herzlich willkommen!“

HMS

PS: Ergänzend und passend zur Moskau-Connection lässt sich sehr gut Adam Soboczynskis Traumland. Der Westen, der Osten und ich lesen. Unsere Besprechung hierzu lest ihr voraussichtlich in der kommenden Woche.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Reinhard Bingener, Markus Wehner: Die Moskau-Connection – Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit; März 2023; Klappenbroschur; 304 S., mit 10 Abbildungen und 1 Karte; ISBN 978-3-406-79941-9; C.H. Beck Verlag; 18,00 €

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