Zwischen Katastrophen und Lottozahlen

20:15 Uhr ist in Deutschland die klassische Uhrzeit, zu der der Tatort, Spielfilme, Dokumentationen oder andere Abendprogramme beginnen. Eigentlich eine komische Zeit, so mittendrin und nicht zur vollen oder halben Stunde. Verantwortlich hierfür dürfte ein Relikt sein, das es bereits seit 1952 gibt und bis heute ungebrochene Popularität bei allen jenseits des Querdenker-Milieus genießt: die Tagesschau.

Sie ist eine Institution im deutschen Fernsehen, wird von Jung und (vor allem) Alt gesehen und gilt als eine der zuverlässigsten Nachrichtenquellen. Und eine Institution innerhalb dieser Institution ist Dagmar Berghoff, die erste Frau, die die Tagesschau moderierte und an dem Tag abtrat, als Putin zum ersten Mal so richtig nach der Macht in Russland griff: am 31. Dezember 1999.

Zwei Generationen, ein Gespräch

Institutionen aber überdauern oft eine lange Zeit. Sowohl die Tagesschau als auch Dagmar Berghoff sind noch immer vielen von uns präsent. So auch einem ihrer späteren Nachfolger als Tagesschau-Sprecher, Constantin Schreiber. Berghoff und Schreiber haben ein Gespräch geführt, das unter dem Titel „Guten Abend, meine Damen und Herren“ – Ein Gespräch über die Liebe, das Leben, Glück und die Nachrichten bereits 2022 bei Hoffmann und Campe erschienen ist.

Dagmar Berghoff hatte Constantin Schreiber offenbar geprägt. Zumindest hatte er dies in einer Zeitung zu Protokoll gegeben, woraufhin sie ihn zu einem Gespräch bei Kaffee oder Tee einlud. Hieraus entstand schließlich so etwas wie eine Freundschaft und ein langes Gespräch. Dieses Buch ist nun die Verschriftlichung des Gesprächs zwischen den beiden Nachrichtenpersönlichkeiten aus verschiedenen Generationen.

Angekommene Weltenbummlerin

Die Rollen sind dabei recht klar verteilt: Schreiber ist in der Regel der Interviewende und Berghoff erzählt aus ihrer Vergangenheit. Sie erzählt von ihrer Jugend in Berlin und in der Nähe Hamburgs, von Stationen in Großbritannien, Frankreich und Baden-Baden. Wir erfahren, wie sie zum Fernsehen kam, welche Schlachten sie hierfür schlagen musste und wie sie die Arbeit als Tagesschau-Sprecherin empfand.

Wir erfahren aber auch reichlich Privates über sie: ihre Jugend und ihre Ehe mit ihrem Mann, der relativ kurz nach ihrem letzten regulären Auftritt bei der Tagesschau verstarb. Wir lernen, wie oft sie versucht hat mit dem Rauchen aufzuhören und dass es kein Mal geklappt hat. Wir hören, dass sie als junge Frau eine Weile von der Hand in den Mund lebte und sich häufig durchbeißen musste. Und wir erfahren, dass und warum sie Suizidgedanken mit sich herumgetragen habe – diese aber offenkundig nicht umsetzte.

Weltoffen und lebensfroh

Und trotzdem spricht hier eine offenbar sehr lebensfrohe Person. Klar, die zumeist abgeklärte Sprecherin der bundesdeutschen Hauptnachrichten wird von den meisten als stoisch ruhige und seriöse Frau betrachtet. Seriosität gehört in diesem Business eben zum Geschäft. Aber in diesem Buch lernen wir ganz die herzliche und weltoffene Dagmar Berghoff kennen, die uns ungeschönt sagt, was aus ihrer Sicht nicht passt, wieso sie Lady Diana nicht als die sympathischste Zeitgenossin empfand und wer der bessere Kandidat oder die bessere Kandidatin für die Kanzlerkandidatur der Grünen gewesen wäre (ob sie das heute immer noch so sähe, ist eine interessante Frage).

Wenn zwei Generationen an Tagesschau-Sprecher*innen aufeinandertreffen, darf es natürlich auch nicht an ein paar Worten hierzu fehlen. Berghoff erzählt von den früheren Routinen hinter der Kamera, aber auch davon, wie sehr es damals auch um Äußerlichkeiten ging – und auch heute noch immer geht. Damals war manches völlig normal, was heute kritisch hinterfragt wird. Dürfen heute Menschen wegen ihres Äußeren dankenswerterweise nicht mehr benachteiligt werden (die Realität sieht natürlich oft anders aus), war es damals vollkommen üblich, neue Sprecherinnen und Sprecher nach Geschlecht, Aussehen oder Gewicht auszusuchen, während die Eignung oder Qualifikation oft nicht als alleiniges Auswahlkriterium reichten.

Ein Interview, kein Dialog

Gerade an diesem Beispiel sehen wir, wie sehr sich die Gesellschaft stetig fortentwickelt. Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder sonstiger persönlicher Merkmale ist heute wie gesagt immer noch gang und gäbe, aber zumindest gibt es heute an vielen Stellen ein (Unrechts-)Bewusstsein hierfür. Dass dies in dem Gespräch von Berghoff und Schreiber so offen thematisiert wird, ist erfreulich und zeigt, was herauskommen kann, wenn Menschen aus unterschiedlichen Generationen zusammenkommen.

Schreibers Gesprächsanteile sind allerdings relativ gering. Zu jedem der Kapitel, die überwiegend in Zehn-Jahres-Schreiben aufgeteilt sind, gibt es von ihm einen kurzen einleitenden Text, welche besonderen Ereignisse es in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder Wissenschaft in dem jeweiligen Jahrzehnt gab. Das ist für die Leserinnen und Leser ein netter Rückblick und zeigt, dass Schreiber im Geschichtsunterricht aufgepasst hat. Wirklich verbunden ist es mit den darauffolgenden Gesprächspassagen jedoch in der Regel nicht. Schade.

Ein wirklicher Dialog, in dem er seine Sicht auf Dagmar Berghoffs Aussagen schildert, entspinnt sich an den meisten Stellen auch nicht. Natürlich fragt und bohrt er nach, lenkt das Gespräch und fasst wesentliche Punkte zusammen – er ist ja ein guter Journalist. Aber dass er seine Sicht schildert oder wir eine wirkliche Argumentation erleben, passiert leider nur an den wenigsten Stellen. Was ein interessanter Dialog zwischen zwei meinungsstarken Medienschaffenden hätte werden können, ist somit „nur“ ein interessantes Interview mit der früheren Tagesschau-Sprecherin Dagmar Berghoff.

„Die gute alte Zeit“?

Das ist allerdings vollkommen in Ordnung. Trotz dieser – es ist ja nicht mal eine Unzulänglichkeit, sondern nur unangetastetes Potential – ist „Guten Abend, meine Damen und Herren“ ein gutes und unterhaltsames Buch, das sich sehr schnell und leicht lesen lässt und uns einen kleinen Einblick in die Perspektive derer gibt, die uns täglich erzählen, was in der Welt so geschieht.

Wir erfahren Hintergründiges über die Tagesschau, die Arbeit in einer Nachrichtenredaktion, die Medienwelt und vor allem über das Leben der Dagmar Berghoff. Viele Ältere dürften sich an manchen Stellen in ihre Jugend zurückversetzt fühlen. Für Jüngere Leserinnen und Leser ist es hingegen die Gelegenheit, sehr fundiert etwas über „die gute alte Zeit“ zu erfahren. Ein Buch, das sich also rundum empfehlen lässt.

HMS

Dagmar Berghoff und Constatin Schreiber: >>Guten Abend, meine Damen und Herren<< – Ein Gespräch über die Liebe, das Leben, Glück und die Nachrichten; November 2022; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; 168 Seiten; ISBN 978-3-455-01505-8; Hoffmann und Campe Verlag; 22,00 €

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