Der Wert einer Orange

Die Ossis und die Bananen. Noch heute ein nur mäßig humorvoller Witz, der allzu oft über die DDR gemacht wird. Zitrusfrüchte hingegen gab es zur Zeit der deutschen Teilung wohl genügend, schließlich gedeihen sie rund um das Schwarze Meer, also den einstigen sowjetischen Einflussraum, ziemlich gut. Eine Orange – und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie von der sowjetischen Schwarzmeerküste stammte – spielt eine unrühmliche, aber gleichermaßen eindrucksvolle Rolle in dem Film Red Secrets – Im Fadenkreuz Stalins von Agnieszka Holland der bereits 2019 in die Kinos kam, im selben Jahr auf der Berlinale gezeigt wurde und seit bald drei Jahren als DVD, Blu-ray und Video-on-Demand verfügbar ist.

In der ersten der beiden Szenen, die Orangen zeigen, schält sich der Journalist bzw. vormalige außenpolitische Berater des britischen Premierministers David Lloyd George (Kenneth Cranham), Gareth Jones (James Norton, McMafia, The Nevers, The Trial of Christine Keeler, A Little Life), inmitten eines Personentransports eine solche. Es ist allerdings nicht irgendein Waggon, in dem Jones sitzt, sondern es handelt sich um einen Zug in der Ukraine zu Beginn der 1930er-Jahre. Wie auch durch Jones‘ Berichte bekannt wurde, befand sich die Ukraine bereits zu jenem Zeitpunkt in einem Ausnahmezustand, den wir heute als Holodomor kennen – und der sich in diesem Jahr zum 91. Mal jährt und im vergangenen Jahr vom Bundestag als Völkermord anerkannt wurde.

Hungern für das Volk

Josef Stalin, Machthaber im Kreml, hatte zuvor eine Agrarreform und Zwangskollektivierung in die Wege geleitet, unter denen die Ukraine und ihre Bevölkerung mit am meisten litten. Getreideernten aus der „Kornkammer Europas“ wurden durch Moskau beschlagnahmt, um den Aufbau einer hochleistungsfähigen und modernen Industrie zu gewährleisten. Für die Menschen in der Ukraine blieben nur: Hunger und Kälte. Millionen Menschen sollte dass das Leben kosten.

Pulitzer-Preisträger Walter Duranty // © Koch Films/Plaion Pictures

Jones, noch in Unkenntnis der mehr als prekären Situation, in die er sich begeben hat, wirft unachtsam die Schalen seiner Orange auf den Boden, die die hungrigen Ukrainerinnen und Ukrainer unversehens aufheben. Erst nach und nach dämmert ihm, was die Stunde geschlagen hat und wie hart die Situation für die Menschen ist. Er nämlich, der erst kürzlich seinen Job verlor, hat sich auf eigene Kappe in die Sowjetunion begeben.

Investigativ unterwegs: Gareth Jones // © Koch Films/Plaion Pictures

Eigentlich wollte er – wie schon mit Adolf Hitler – ein Interview mit Stalin führen und mehr über dessen Fünfjahresplan erfahren, aber nachdem er in Moskau die ganze dekadente Bourgeoisie um den Pulitzer-Preisträger und herrlich verächtlichen Walter Duranty (Peter Sarsgaard) erlebt hat, ziehen ihn sein Instinkt und ein merkwürdiger Todesfall in das ukrainische Dorf, in dem seine Mutter Englisch unterrichtete. Wie sehr diese Reise sein weiteres (nicht mehr allzu langes) Leben beeinflussen würde, konnte der junge Mann nicht ahnen.

Not und Elend

Was Jones nämlich in der Ukraine vorfindet, ist das beschriebene Elend. Und dieses wird in Red Secrets ungeschönt gezeigt (Bildgestaltung: Tomasz Naumiuk), wobei die polnische Regisseurin Agnieszka Holland das Kunststück gelingt, die Not der Menschen einzufangen und darzustellen, ohne sie jedoch bloßzustellen. Der Schnee und die Kälte es ukrainischen Winters dienen uns als Kulisse für eine der wohl grausamsten Begebenheiten des letzten Jahrhunderts.

Sie hat ihn gewarnt: Ada Brooks // © Koch Films/Plaion Pictures

Dem entgegen stehen einerseits die bereits erwähnte Dekadenz im imperialen Zentrum Moskaus, das grausame Wegsehen der Eliten dort und in vielen europäischen und westlichen Hauptstädten sowie die Mühe, die bereits damals betrieben wurde, um „bitte nichts davon mitzubekommen“. Gareth Jones hingegen wird uns als relativ unbedarfter, ja fast naiver Charakter gezeigt (der auch die Warnungen der britischen Journalisten Ada Brooks (Vanessa Kirby. The Crown, Mission Impossible) in den nicht nur sprichwörtlichen Wind schlägt), der aus eigenem Antrieb heraus ein Abenteuer wagt und nach und nach in der grausamen Realität des ukrainischen Winters aufwacht.

Eine Frucht, die mehr als nur Farbe ist

Red Secrtes zeichnet also auf schaurige Art und Weise nach, welches Leid einerseits unter dem stalinistischen Terror in Osteuropa und vor allem der Ukraine herrschte. Gleichermaßen zeigt sich hier früh, wie das Appeasement der westlichen Mächte im Lauf der Folgejahre noch so manch tragische Entwicklung nach sich ziehen sollte.

Sieht die Dinge klar: George Orwell (Joseph Mawle). Der Film schließt mit einem Zitat aus Farm der Tiere: „Die Tiere hatten manchmal tagelang nichts anderes zu essen als Rinde und Rüben. Sie schienen dem Hungertod preisgegeben. Es war lebenswichtig, diese Tatsache vor der Welt zu verbergen. Ermutigt durch den Einsturz der Windmühle ersannen die Menschen immer neue Lügen über die Farm der Tiere“ // © Koch Films/Plaion Pictures

Der Film ist die gelungene Aufarbeitung eines grausamen und oft vergessenen Kapitels der Zwischenkriegszeit, das zwar gerade durch Russlands Krieg gegen die Ukraine immer wieder in der öffentlichen Debatte auftaucht, aber dennoch vielen Menschen bis heute eher unbekannt ist. Und es ist eine gelungene, um fiktive Elemente angereicherte Geschichte, die von der Entwicklung ihres Hauptcharakters lebt, der Unbedarftheit, mit der Gareth Jones seine Reise beginnt, der traurigen und wiederkehrenden Erkenntnis über die Grauen, die er in der Ukraine vorfindet und das Unverständnis, mit dem ihm in Großbritannien begegnet wird.

Red Secrets ist somit ein rundum schockierender und aufrüttelnder Film, der uns mitreißt und teils fassungslos zurücklässt. Und dass ausgerechnet Orange in der Orangenen Revolution rund 70 Jahre später zur Symbolfarbe der versuchten ukrainischen Emanzipation von Russland werden sollte, ist ein Zufall, wie er im Buche steht.

HMS

Red Secrets – Im Fadenkreuz Stalins (OT: Mr Jones); Polen, Ukraine, Großbritannien 2019; Buch: Andrea Chalupa; Regie: Agnieszka Holland; Bildgestaltung: Tomasz Naumiuk; Musik: Antoni Komasa-Łazarkiewic; Darsteller*innen: James Norton, Vanessa Kirby, Peter Sarsgaard, Joseph Mawle, Kenneth Cranham, Edward Wolstenholme, Krzysztof Pieczyński, Matthew Marsh, Michael O’Donnell; Laufzeit ca. 118 Minuten; FSK: 16; im Verleih von Koch Films/Plaion Pictures

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