Bochum tanzt – und das ist alles Halligalli!

Beitragsbild: Doro (Luise Aschenbrenner) und Robert (Jannik Schümann) trainieren für einen Tanzwettbewerb // Foto: RTL

Dass wir in schwierigen Zeiten leben, ist bekannt und wir werden ohnehin nicht müde dies zu erwähnen. Die Gegenwart ernst zu nehmen, ist unbedingt geboten und eine wichtige Sache. Dennoch ist gegen ein wenig Eskapismus nichts zu sagen. Und was verspricht mehr Eskapistisches als eine beschwingte Mini-Serie, die uns in die 1970er-Jahre ins beschauliche (*räusper) Bochum entführt und eine junge Frau nicht nur sich selbst finden, sondern auch (gemeinsam mit ihrem Bruder und einem gemeinsamen Freund) eine Disko aus der Taufe heben lässt? Dazu viel Tanz, (halb-)nackte Körper, sexy and funky Music und eine (Semi-)Jungdarsteller*innen-Riege, die’s in sich hat.

Familienaufstellung

Das sind so die Hauptzutaten der von UFA Fiction (u. a. die Ku’damm-Reihe, Faking Hitler, Charité) für den Streamingdienst RTL+ produzierten High-End-Serie Disko 76 (Idee: Benjamin Benedict, Regie: Florian Knittel und Lars Montag). Ist alles, was hier geschieht von Relevanz? Eher weniger. Macht es Freude und lenkt ab? Größtenteils und meistens. Eskapismus halt.

Elisabeth (Emma Drogunova) tanzt mit Robert (Jannik Schümann) im „Panoptikum“, um sich für den Tanzwettbewerb zu qualifizieren // Foto: RTL

Im Kern geht es um die 21-jährige Dorothee „Doro“ Walter (überzeugend: Luise Aschenbrenner), die zu Beginn der Serie erfährt, dass ihr Ehemann, Klempner Matthias (eigenwillig: Moritz Jahn), mal eben angeordnet hat, dass sie nicht mehr arbeiten dürfe. Besser sei es, sich auf das Kinderkriegen zu konzentrieren. Juchhe, denkt sich Doro und schwindelt ihm direkt mal eine Schwangerschaft vor. Diese solle er für sich behalten.

Eine schrecklich biedere Familie-… Naja, halb/halb: v. l.: Georg (Jonas Holdenrieder), Barbara (Jule Böwe), Gerhard (Aljoscha Stadelmann), Johanna (Vanessa Loibl) und Frank (Merlin Sandmeyer) // Foto: RTL

Das schafft er einen ganzen Szenenwechsel lang. Zum gemeinsamen Essen im Lebensmittelgeschäft Krämer (verstehste: Krämerladen… Kracher!) der Eltern Gerhard (gewohnt solide: Aljoscha Stadelmann) und Barbara (leider kaum präsent: Jule Böwe) gemeinsam mit ihrem ein Jahr älteren, gerade fahnenflüchtig gewordenen Bruder Georg (sehr stark: Jonas Holdenrieder, Trübe Wolken, Schlafschafe), der noch ein Jahr älteren Schwester Johanna (läuft: Vanessa Loibl), die sich vorgenommen hat, die erste weibliche Pilotin Deutschlands zu werden sowie dem etwas schmierigen ältesten Sohn Frank (satirisch: Merlin Sandmeyer) platzt es aus ihm heraus. Na danke, denkt die Doro sich nun.

Tänzflächenpositionierung

Schnell merken wir, wie gefangen sich die junge Frau in dieser festgeschriebenen, etwas (?) bigotten und doch ach so heilen Spät-Nachkriegswelt fühlt. Als Schwester Johanna sie und Georg mit auf eine Army Base mitnimmt, lernen die beiden nicht nur Johannas Fuck-Or-Lover-Boy Jack (Farba Dieng, Toubab) kennen, sondern auch Disko statt Schlager! Gute Stimmung, coole Moves, fancy Musik. Und Doro trifft erneut auf Robert (passt: Jannik Schümann, Die Mitte der Welt, Sisi, Westwall), der ihr bereits zu Beginn des Tages auf der Straße begegnet ist. (Und direkt blieb die Zeit stehen und ihr Herz stoppte…) Der tanzt nun hot’n’heavy mit der beweglichen und sehr witzigen („Mit offenem Mund starren schickt sich nicht, Alexandra.“) Schönheit Eli (kann scheinbar alles: Emma Drogunova, Loving Her, Wild Republic, Bonnie & Bonnie).

Elisabeth tanzt mit Robert auf der zweiten Party in der Disko in der U.S. Army Base // Foto: RTL

Von hier an nimmt nun alles seinen Lauf. Es wird getanzt, geschmachtet, geliebt, geschlagen, gestritten, gevögelt, geschossen, geflogen, gesponnen, gebaut, gesprengt, gefahren etc. pp. Das funktioniert vor allem in den ersten drei, sehr kurzweiligen und durchaus amüsanten Folgen sehr, sehr gut. Im zweiten Teil von Disko 76 mäandert die Revue ein wenig und oftmals wird die Leichtigkeit von überzogenem Melodrama abgeklatscht. Die Bilder von Kameramann Felix Poplawsky (All You Need, Sisi) wissen uns dennoch einigermaßen bei Laune zu halten, auch erleben wir immer wieder stimmige, schmissige, groovige und spannende Momente.

Sprachdrehungen

So existiert mit dem Panoptikum (eine Art provinzielles Studio 54) ein großer Club im „benachbaraten“ Düsseldorf, den die undurchsichtige Eva Kallwich (ganz undiplomatisch: Natalia Wörner) gemeinsam mit der Hilfe ihres Schoßhündchens… äh Söhnches A.K. (wunderbar eklig: Florian Kropp, Das Boot, Tatort: Der feine Geist) führt. Achso, und sie schläft gegen Geld mit dem aus der DDR in bester Rudolf-Nurejew-Manier geflohenen Robert. Dieser wiederum hat dafür – neben Kohle – ganz eigene Motive…

Frau Kallwich (Natalia Wörner) während Roberts Besuch bei ihr // Foto: RTL

Ein wenig Thrill à la Élite oder Gossip Girl ist hier also auch drin. Was insofern passt, als dass viele der Figuren sich in Disko 76 nicht weniger zickig und kindisch gerieren, als jene Teenager (!) es in den genannten beiden Serien so machen. Überhaupt sind manche Dialoge (Headautorin: Linda Brieda mit Dorothee Fesel – die auch den Roman zur Serie verfasst hat, dazu unten mehr –, Judy Horney, Antonia Rothe-Liermann und Janosch Kosack) ein wenig… einfach geraten. Hin und wieder klingen sie schlicht nach Kalender– und Wandsprüchen („Keine Abwechslung, sondern ein Anfang.“) oder Life-Coaching-Anweisungen. Dann wiederum finden sich sehr gut sitzende One-Liner, wie etwa jenen von Gerogs bester Freundin Alex (Julia Jendroßek) zu ihrem Kindsvater und Weltretter Manfred (Jacob Matschenz, Legal Affairs) während sie ihm die Eier quetscht: „[…] und ich schwör‘ dir, den nächsten Häuserkampf führst du drei Oktaven höher.“

Georg (Jonas Holdenrieder, l.) fängt Alex (Julia Jendroßek) im Krankenhaus ab und auf, nachdem diese ihr Kind bekommen hat // Foto: RTL

Diese Unausgewogenheit zu verzeihen fällt allerdings vergleichsweise leicht, da die Inszenierung alles in allem überzeugt und durch eine durchschnittliche Episodenlänge von etwas unter vierzig Minuten auch kaum Längen aufkommen. Atemlos (hey, Helene!) wird es dennoch nicht, höchstens beim Tanz, der von Musik von Boney M. und Donna Summer über ABBA und Gloria Gaynor zu Barry White und Alicia Bridges immer gut aussieht und weit mehr Freude bereitet, als alles bei Let’s Dance (das der Autor dieser Zeilen aus Gründen der Langamtigkeit und Langeweile seit sechs, sieben Jahren nicht mehr gesehen hat).

Paartanz

Ebenso überzeugen die Darsteller*innen durchweg. Vor allem (eine beinahe ungesund dünn aussehende) Luise Aschenbrenner und der ohnehin geschätzte Jonas Holdenrieder wissen zu beeindrucken. Vanessa Loibl spielt ihre von allen Beteiligten am reifesten wirkende Figur stark, so wie auch Julia Jendroßek ihre Alex. Jannik Schümann glänzt ebenfalls. Die Rolle des Robert liegt ihm jedenfalls mehr, als jene des Kaisers Franz Josef. (Dazu kann allerdings angemerkt werden, dass sich in der Sisi-Variante von beim RTL+/RTL ohnehin alle nur so halbe Mühe zu geben scheinen… ab hey, für’s Publikum reicht’s.)

Da – und doch irgendwie nicht: Robert hinter Doro // Foto: RTL

Apropos glänzen: Dafür dass Schümann neben Aschenbrenner als Hauptdarsteller geführt wird, wundert es doch, dass er oft durch Abwesenheit glänzt. Jedenfalls ist er nicht „DORT“, wie auch der Couplename der beiden Figuren lauten sollte. Deren erster Sex ist übrigens sauber inszeniert. Ach ja: Diese Forderung habe ich schon mehrmals erhoben – für jedes Paar Brüste einer weiblich gelesenen Person sowie gezeigter Muschis mindestens einen soliden Arsch einer männlich gelesenen Person sowie einen Schwanz (beschnitten oder unbeschnitten, da bin ich ganz offen). Das ist alles sehr unausgeglichen. Nicht nur bei Game of Thrones.

Partnertausch

So viel zur Serie Disko 76, die uns wie gesagt neben einigem an Freude und Emanzipation (natürlich muss Doro sich von Mann und ein wenig auch den Eltern lossagen, um frei zu sein, allein schon weil hier Konservatismus und Selbstbestimmung aufeinanderprallen) vor allem gute Musik (es gibt natürlich eine hörenswert Playlist; übrigens sind auch unsere QUEER SOUNDS immer nen Ohr wert), wirklich feine Tanzmomente – auch hier überzeugen Aschenbrenner, Schümann und Drogunova – und last but not least eine unfassbar unterhaltsame Natalia Wörner bietet.

Im fixen Discofox noch zum gleichnamigen Buch, das die Serien-Co-Autorin Dorothee Fesel verfasst hat, das zudem ihr Romandebut darstellt und Ende März im Goldmann Verlag erschienen ist. Wem die Serie gefiel und wer noch ein wenig mehr Bochum-Disko-Fever am sonnigen Badestrand, auf dem halbschattigen Balkon, in der überfüllten Bahn oder auf dem Club-Klo fühlen will, dem sei der Roman durchaus ans Herz gelegt. Die Handlung weicht zwar nicht von der der Serie ab, dafür werden manche Momente noch ausführlicher beschrieben und es finden sich ein paar detailliertere Einblicke ins Innenleben der Figuren. Wird die Disko 76-Serie aus Sicht Doros erzählt und kommentiert, so gibt es im Buch Fesels eine anonyme Erzählfigur.

Zu verorten ist Disko 76 als Roman irgendwo zwischen Young-Adult-Novel und seichter Unterhaltung für jene Momente, in denen Mensch auch mal den Kopf freibekommen möchte und dies nicht mit der blutigen Brachialsprache eines Sebastian Fitzek erledigt haben mag. Kurzum: Buch und Serie funktionieren wie Eli und Robert zu Beginn der Serie auf dem Dancefloor. In diesem Sinne: Musik ab und los geht’s!

JW

PS: Apropos All You Need: Es wird keine dritte Staffel geben, wie die Kolleg*innen von queer.de kürzlich zu berichten wussten. Schade, dass so ein wenig Repräsentanz fehlt… andererseits hat die Serie uns nie so recht abzuholen vermocht. Insofern – auf neue, queere, mutigere Serien. (Achso, ein wenig Queerness gibt’s auch bei Disko 76 hier und da zu sehen und der Vibe ist generell nicht unbedingt heteronormativ.)

Whoop Whoop // Foto: RTL

PPS: Natürlich endet auch diese Mini-Serie wieder so, dass aus ihr eine Art Ku’damm-Modell à la Disko 83 werden könnte.

PPPS: „Wenn du’n Diskobesitzer sein willst, musst du dich auch wie einer benehmen“, sagt Eli zu Georg, als sie ihm Koks anbietet. Wise Woman!

Vor oder nach dem Koks? Eli und Georg // Foto: RTL

PPPPS: Apropos Wise Woman: Das fand in der Besprechung keinen Platz mehr, aber Susanne Bredehöft als Tante Bertha ist ein Fest! Fantastisch.

PPPPPS: Der Poncho von Manni in Folge drei ist cool. Da er ihm allerdings nicht steht – darf ich den bitte haben?

Das Keyart zur Serie: Doro (Luise Aschenbrenner) und Robert (Jannik Schümann) // Foto: RTL / Florian Kollmer

Alle sechs Folgen von Disko 76 sind auf RTL+ verfügbar sowie die Playlist zur Serie. Der gleichnamige Roman von Dorothee Fesel ist im Goldmann Verlag erschienen.

Disko 76; Deutschland 2024; Idee: Benjamin Benedict; Drehbuch: Linda Brieda mit Dorothee Fesel, Judy Horney, Antonia Rothe-Liermann, Janosch Kosack; Regie: Florian Knittel, Lars Montag; Bildgestaltung: Felix Poplawsky; Darsteller*innen: Luise Aschenbrenner, Jannik Schümann, Jonas Holdenrieder, Vanessa Loibl, Julia Jendroßek, Emma Drogunova, Farba Dieng, Merlin Sandmeyer, Aljoscha Stadelmann, Jule Böwe, Susanne Bredehöft, Natalia Wörner, Moritz Jahn, Daniel Christensen, Jacob Matschenz, Florian Kroop, Hans Gurbig; secchs Folgen à ca. 40 Minuten; FSK: 12; eine Produktion der UFA Fiction für RTL+

Dorothe Fesel: Disko 76; März 2024; 480 Seiten; Taschenbuch; ISBN: 978-3-442-49548-1; Goldmann Verlag; 13,00 €

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